Brasilien: 2. Rundbrief von Angela Pinger

„Wir haben die Zeit“

„Schon nach 10:00… , ob Padre Carlos mich vergessen hat? Oder ihm etwas zugestoßen ist?? Bei dem chaotischen Straßenverkehr in Parnaíba würde mich das gar nicht wundern “, geht es mit durch den Kopf.  Über eine Stunde Verspätung und ich kann ihn nicht erreichen. Langsam werde ich ganz schön unruhig, laufe im Haus auf und ab.

Kurz bevor ich mich endgültig dazu entschließe, mir eine andere Beschäftigung als die des Wartens zu suchen, steht Padre Carlos Wagen hupend vor meinem Haus. Mir fällt ein Stein vom Herzen und gleichzeitig ärgere ich mich darüber,  mich mal wieder pünktlich, d.h. für brasilianische Verhältnisse überpünktlich, fertig gemacht zu haben.

Als ich dann im Auto die Unpünktlichkeit Padre Carlos‘ (meiner Kontaktperson hier vor Ort) als „typisch brasilianisch“ kommentiere, witzelt er nur: „Wir Brasilianer haben eben etwas, das ihr Deutschen nicht habt. Wir haben die Zeit!“ Über den Satz musste ich noch lange nachdenken.

Segen und Fluch zugleich

Wie mein eingangs beschriebenes Beispiel zeigt, so hat das brasilianische Zeitgefühl schon einige Male mein Herz höher schlagen lassen. Dieses für mich neue Zeitgefühl begegnet mir jedoch nicht nur bei den „typischen Verspätungen“,  wenn es um ein Treffen geht, sondern auch beim Aufräumen des Hauses oder wenn die Kinder ihre Hausaufgaben erledigen sollen, wenn ich mit meinem Gastbruder oder meinem Mototaxifahrer durch die Stadt fahre, wenn ich versuche, meine Pläne mit Hilfe anderer Personen vor Ort in die Tat umzusetzen. „Einfach alles geht viel zu langsam voran“, schießt es mir angenervt durch den Kopf und erschreckend stelle ich fest, wie sehr der Leistungsgedanke in mir verwurzelt ist.

Doch zu erkennen, dass meine deutsche, produktive Arbeitsweise nicht immer die beste ist, fällt mir manchmal schwer und hat mich schon in die ein oder andere kleine Krise gestürzt. Die Dinge laufen nicht so, wie ich sie gewohnt bin. Meine Erwartungshaltung zu ändern ist mir noch nicht gelungen, weil mir in vielerlei Hinsicht noch nicht klar geworden ist, was ich von dieser Kultur und ihren Menschen erwarten darf. Und so bleibe ich an meiner deutschen Heimatkultur hängen, die mich hier aber nicht wirklich weiterbringt… .

Mein Alltag

Kurz vor dem 30.11.2017, dem Ferienbeginn in Piaui, habe ich es noch geschafft, mir einen Alltag aufzubauen. Das ist wirklich viel Wert für mich, da ich an einer alltäglichen Routine auch viel Orientierung und Ordnung in meine zum Teil immer noch chaotischen Gedanken und Gefühle bringen kann.

Hier mal ein typischer Tag meines brasilianischen Lebens:

Der Morgen

Um  kurz nach sieben Uhr stehe ich auf und meine Gastmutter und ich trinken gemeinsam unseren Morgenkaffee. Danach breche ich mit dem Fahrrad zu

Betreuerteam des Projektes.

meiner Arbeitsstelle, dem Projeto Social de Santa Terezinha auf. Die ruckelige Fahrt schüttelt den letzten Schlaf aus mir. Ab acht Uhr helfe ich den Kindern vom Projeto bei den Hausaufgaben.

Zum Projeto, das eine Initiative der Diozöse Parnaibas ist, kommen täglich bis zu 30 Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Gemeinsam mit täglich unterschiedlichen Freiwilligen helfen wir den Kindern ihre Hausaufgaben zu erledigen oder stellen ihnen Übungsaufgaben. Sind die Hausaufgaben gemacht, spielen die Kinder im weitläufigen Garten des Projetos oder malen. Um 10:30 gibt es Mittagessen für die Kinder, das Dora, die Köchin des Projektes, zubereitet. Das Mittagessen wird von der privaten Organisation „Mesa Brasil“, die vom Staat finanziell unterstützt wird, gestellt. Für die Kinder geht es direkt nach dem Essen nach Hause; für uns Freiwillige um elf Uhr, wenn alles aufgeräumt ist.

Besonders wichtige Ansprechpartner für mich in diesem Projekt sind Dora und

Essensausgabe für die Kinder des Projektes.

Thayna, eine Freiwillige, die schon sehr lange und ebenfalls täglich dort arbeitet. Außerdem gibt es noch Gilmar, den Hausmeister des Projetos, der vor Ort wohnt und alles in Ordnung hält.

Die Mittagspause:

Zuhause angekommen helfe ich meiner Gastmutter das Essen vorzubereiten. Um 12:00 setzt sich die Familie an den Mittagstisch und es wird gemeinsam gegessen, was übrigens nicht typisch für diese Region ist. Oft wird in Familien das Mittagessen fertig gekocht und anschließend kann sich jeder dann vom Essen bedienen, wenn er oder sie mag. Nach dem Mittagessen wird aufgeräumt und ich habe ein wenig Zeit zum ausruhen.

Der Nachmittag

Um 14:00 geht es dann zu meiner zweiten Projektstellen, der Diocesano; eine Privatschule der Diözese. Bisher durfte ich in allen Klassen der Grundschule im U

„A Formatura“ : Die Versetzung in die Grundschule wird hier groß gefeiert.

nterricht assistieren. Ich würde im neuen Schuljahr gerne eine oder zwei Klassen für längere Zeit begleiten und zudem auch Einblicke in die gegenüberliegende Schule, die weiterführende Schule der Diözese, bekommen. Die Planungen dafür laufen bereits. Aber da das Schuljahr nun bereits beendet ist, muss ich mich auf eine genaue Absprache bis nächstes Jahr gedulden.

Meine Arbeit besteht bisher darin, Aufgaben für die Schüler vorzubereiten. Dazu klebe ich beispielsweise Aufgabenblätter in die Arbeitsbücher der Kinder ein oder schneide Bastelmaterial für sie aus. Ich darf auch gemachte Aufgaben kontrollieren und während der Pausen die Kinder beaufsichtigen. In den unteren Klassenstufen sitzt dem Unterricht immer eine zweite Lehrerin bei, die ihre Unterrichtsstunde vorbereitet und hilft, die Kinder in der Klasse zu beaufsichtigen.

Katrine, eine Lehrerin der Diocesano, mit der ich nicht nur zusammen arbeite 🙂

Zum einen durch diese stärkere Betreuung der Kinder, zum anderen aber auch wegen der weniger leistungsorientierten Mentalität der Menschen habe ich das Gefühl, das die Integration von Menschen mit Behinderung leichter ermöglicht werden kann. Dies konnte ich bereits in zwei Klassen erleben.

Zunächst erschien mir das Chaos in den Klassen ganz furchtbar. Die Kinder stehen immer wieder von ihren Plätzen auf, irgendwie sind gefühlt alle an einer anderen Aufgabe am Arbeiten und niemand hört der Lehrerin zu (so mein erster Eindruck). Nachdem ich mich im brasilianischen Unterricht etwas zurechtgefunden habe, erkannte ich nicht nur eine für mich völlig neue Struktur, sondern auch, dass Hanna und Leticia, die beiden Mädchen mit Behinderung, in diesem Gewusel gar nicht auffallen. Die beiden gehen einfach ihren eigenen Lernaufgaben nach. Haben sie Fragen, wenden sie sich, wie die anderen Kinder, an die Lehrerinnen. Die anderen Schüler helfen den beiden gerne und spielen in den Pausen mit ihnen. Zwar andere Spiele (die beiden sitzen schließlich im Rollstuhl), aber Leticia und Hanna sind immer dabei.

Am Abend

Um 17:30 komme ich wieder nach Hause und ruhe mich meistens erst mal vom Kinderlärm aus. Oft verbringe ich meine Freizeit entweder im Tanzstudio oder mit

Meine Forró-Tanzgruppe

Inlinern auf meinem Lieblingsplatz. Inzwischen habe ich Forró, ein wenig Zouk und Kizomba und einige Tricks mit den Inlinern gelernt. Beide Sportarten machen mir viel Spaß und so lerne ich auch Leute in meinem Alter kennen, mit denen ich von Zeit zu Zeit ausgehe.

 

Kleine Abwechslung

In der Horta beim Arbeiten.

Da das Projeto Montagmorgens geschlossen ist, darf ich in diesem Zeitraum meinem Gastvater bei der Arbeit in seiner „Horta“ (Gemüsegarten), die die Diozöse ihm zur Verfügung gestellt hat, arbeiten. Ich mag diese Arbeit wirklich sehr.

Mittwochs arbeite ich nachmittags nicht, sondern lerne mit einem Freund der Familie Portugiesisch.

Kleine Krisen

Wenn ich euch so von

Die vielen Ameisen halten mich hier immer auf Trap.

meinem Alltag erzähle, habt ihr mit Sicherheit viele Bilder vor Augen, wie mein Leben hier aussehen könnte. Und doch beschleicht mich die Vermutung, dass diese Vorstellungen nicht ganz der Realität entsprechen könnten. Denn all diese Aktivitäten, die ich euch aufgezählt habe und die euch größtenteils aus Deutschland bekannt sein dürften, laufen hier ganz anders ab. Das System ist, wie bereits beschrieben, anders und bisher bin ich noch nicht so recht dahinter gekommen, wie es funktioniert. Nur eins ist mir inzwischen klar: es läuft langsamer.

Seit meinem dritten Monat habe ich schwer damit zu kämpfen, einzusehen, dass mein deutsches Denken hier nicht funktioniert. Ich schmiede Pläne, entwickle in meinen Augen großartige Ideen und muss plötzlich feststellen, dass diese Ideen so gar nicht in die brasilianische Mentalität passen. Das überfordert mich immer noch und ist sehr frustrierend

Gleichzeitig merke ich, wie gut es tut, einen Gang herunterzuschalten und Dinge zu tun,  für die ich mir in Deutschland nie Zeit genommen habe.

Mein brasilianischer Schatten

Wenn ich mich dann mal wieder so überfordert fühle, habe ich glücklicherweise ein paar Menschen hier vor Ort, die mich aufmuntern oder ablenken. Die muss ich euch jetzt mal vorstellen:

Donna Santinha, meine Gastmutter, die täglich bis zu zehn Leute bekocht. 

Senhor Reimundo, mein Gastvater, der jeden Tag in der Woche mindestens sechs Stunden in der Horta arbeitet.

Messias, mein Gastbruder, der drei Tage in der Woche in einem drei Stunden entfernten Ort wohnt, da er dort arbeitet.

Amanda, meine „Gastschwester“, die eigentlich die Tochter der ältesten Tochter meiner Gastmutter ist (sprich ihr Enkelkind) und von Geburt an von Santinha großgezogen wurde.

Joeos, mein Gastbruder, der mit seiner Ehefrau Fernanda zusammen wohnt, aber täglich mit seinem achtjährigen Sohn zum Mittagessen nach Hause kommt.

Santhilia, meine Gastschwester und Mutter von Amanda, die eigentlich mit ihrer Familie in Brasilia wohnt, gerad aber seit einem Monat mit ihrem dreijährigen Sohn

Bei Daniela Zuhause essen wir Ananas-Streuselkuchen!

bei uns zu Besuch ist.

Neben meiner Gastfamilie sind auch einige Freunde vom Inlineskaten wichtig für mich geworden. Wir verbringen unsere Zeit nicht nur mit Inlinerfahren im Park sondern essen anschließend oft etwas im Haus von Daniela und quatschen dabei.

 

*Gastfreundschaft

Weil wir nicht alle gleichzeitig an den Essenstisch passen, essen wir nacheinander oder neben dem Tisch.

Ich weiß, ich habe bereits in meinem ersten Rundbrief über die Gastfreundschaft der Menschen, die mir hier begegnen, geschwärmt. Doch was meine Gastfamilie bzw. meine Gastmutter gerade leistet, finde ich einfach so bewundernswert, dass ich euch kurz davon erzählen mag.

Wenn ihr bei der Präsentation meiner Gastfamilie aufgepasst habt, wisst ihr, dass zurzeit an vier Tagen in der Woche sieben Menschen im Haus übernachten (mich mit eingeschlossen) und neun Menschen in unserem Haus täglich gemeinsam essen. Fast drei Wochen lang wohnten jedoch noch zwei weitere Verwandte, Marcelene und ihr dreizehnjähriger Sohn Gustavo aus dem Nachbarstaat Maranhão, in unserem Haus. Gustavo brach sich beim Fußballspielen das Bein. Das nächste Krankenhaus, das diesen Bruch behandeln kann, ist für sie hier in Parnaiba.

Mitte November kamen zwei weitere Verwandte mit ihrem Kind aus Maranhão zu uns nach Parnaíba um Papiere bei der Policia Federal abzuholen. Ihnen wurde ebenfalls direkt angeboten, bei uns zu übernachten. Sie sind jedoch noch am selben Tag zurückgereist.

Es gilt der Grundsatz: Das Haus kann so viele Menschen aufnehmen, wie Hängematten aufgehängt werden können. Und wie geht es mir damit? Ich finde es einfach nur schön. Immer ist etwas los. Natürlich nervt mich auch das Kindergeschrei oder dass das Bad mal wieder belegt ist. Gleichzeitig beeindruckt es mich, wie wir alle so gut auf so engem Raum miteinander klar kommen, uns gegenseitig helfen und gemeinsam Späße machen.

Frohe Weihnachten

So ihr Lieben, jetzt habe ich euch, wie versprochen, ausführlich von meinem Alltag und meinen Gedanken berichtet. Wie ihr wisst, gibt der Rundbrief nur einen kleinen Teil meiner Eindrücke und Erlebnisse preis. Wenn ihr also noch Fragen habt oder mein Geschriebenes kommentieren mögt, schickt mir eine Mail.

Auf den Steinen des Strandes „Pedra do Sal“ mit Sokinha, eine Arbeitskollegin, die mich in ihr Strandhaus eingeladen aht.

Auch wenn jetzt Ferien sind, kann ich euch nicht versprechen, direkt zu antworten. Schließlich steht Weihnachten vor der Tür und zudem habe ich noch ein paar Reisen mit Freunden und meiner Gastfamilie geplant. Aber dazu mehr in meinem nächsten Rundbrief.

Somit wünsche ich euch abschließend ein Frohes Weihnachtsfest und einen Guten Rutsch! Ihr hört von mir im nächsten Jahr!

 

Eure Angela