Liebe Rundbriefleser/- innen,
man sagt: „Aller Anfang ist schwer!“ Nur scheint mein Anfang kein Ende zu nehmen… Diesen Rundbrief zu schreiben, ist mir alles andere als leicht gefallen – doch später mehr dazu.
Wie ich bereits in meinem letzten Rundbrief erwähnt habe, sollte ich für die nächsten Wochen in dem Internat der Fundación in San Jorge de Ipaty leben. Leichter gesagt als getan.
San Jorge de Ipaty liegt recht weit von Sucre entfernt, daher musste ich erst einmal einen Zwischenstopp in Monteagudo einlegen. Das ist eine Kleinstadt, die bei guten Wetter- und Wegbedingungen acht Stunden Busfahrt von Sucre entfernt liegt. (In der Regenzeit kann man auch mal doppelt so lange brauchen.) Monteagudo liegt fast 2000hm tiefer als Sucre, daher ist es dort heiß – sehr heiß (meist so um die 35 Grad). Anstatt wie ursprünglich geplant dort nur das Wochenende zu verbringen, habe ich im Endeffekt fast zwei Wochen in Monteagudo verbracht. Zwölf Tage immer in der Erwartung, dass es am nächsten Tag los geht, den Rucksack immer halb (oder auch mal ganz) gepackt. Gewohnt habe ich dort in einem Gästezimmer der Kirche, unmittelbar neben dem Büro des Jugendehrenamtprojekts der Fundación hier in Monteagudo. Das Mitwirken in diesem Projekt ist für mich in diesem Jahr hauptsächlich vorgesehen. Mit Lourdes, der Leiterin des Projekts, habe ich manchmal Zeit verbracht und gegessen. Meistens habe ich mich jedoch mit mir selbst beschäftigt, es gab dort einfach keine richtige Aufgabe für mich.
San Jorge de Ipaty
Aber um „Spanisch zu lernen“ wurde ich schließlich nach San Jorge de Ipaty geschickt, was nochmal fünf weitere Stunden Busfahrt von Monteagudo entfernt liegt. Habe ich jemals gesagt, Pluwig sei ein Kaff, so nehme ich jetzt alles zurück! San Jorge de Ipaty befindet sich mitten im Nirgendwo. Es gibt zwar Elektrizität und fließendes Wasser, leider aber keinen Handyempfang, geschweige denn Internet.
In dem Internat leben ca. 40 Kinder und Jugendliche, deren Zuhause zu weit von einer Schule entfernt ist oder die aus anderen Gründen sonst keine Bildung erlangen könnten. Vormittags gehen die Kinder zur Schule, nachmittags wird erst einmal entspannt (die übliche Siesta eben), danach machen sie meist bis spät abends Hausaufgaben. In dem Internat habe ich zusammen mit 11 Mädchen in einem Zimmer gewohnt. Um 5 Uhr morgens ging der erste Wecker los, um 11 Uhr abends wurde das Licht ausgemacht und es kehrte langsam ein wenig Ruhe ein. Hier musste ich mich an viele Dinge erst einmal gewöhnen – nie Privatsphäre zu haben, um 4 Uhr morgens meist vom Krähen des Hahnes geweckt zu werden, an die eiskalten Duschen, an die sehr andersartigen Sanitäranlagen und an die Hühner und Hunde, die häufig im Zimmer herum gelaufen sind. Nicht selten habe ich mühevoll ein Huhn von meinem Bett gescheucht, das es sich dort gemütlich gemacht hatte. Im Internat wird mit Feuer und Holz gekocht, meistens gibt es Suppe hauptsächlich mit Reis, Kartoffeln oder Nudel und vereinzelten Möhren- und Zwiebelstücken. Da es dort kein Geschäft oder keinen Markt gibt, wird mit kaum verderblichen Lebensmitteln gekocht. Mich hat es gefreut, dass ich mich dadurch mal wieder vegetarisch ernähren konnte – zumindest die erste Woche. Danach bin ich an einem Morgen in den Essens- und Aufenthaltsraum gekommen und eine geschlachtete Kuh hat von der Decke gehangen. In der nächste Woche gab es dann jeden Tag Fleisch – in Mengen.

Hier in San Jorge de Ipaty leben fast nur Indigene. Auch wenn die meisten (vor allem die jüngeren Generationen) Spanisch können, wird hier fast nur Guaraní (eine der vielen indigenen Sprachen in Bolivien) gesprochen. In dieser Zeit habe ich es gerade mal geschafft, mir dauerhaft ein Wort dieser sehr komplizierten Sprache zu merken: PUAMA, das bedeutet „Guten Morgen“. Die Sprache allein hat für mich schon eine Schwierigkeit dargestellt, denn ich konnte kein einziges Wort verstehen. Zudem sind die meisten Kinder in diesem Internat sehr schüchtern, und obwohl sie natürlich viel besser Spanisch können als ich, trauen sich viele nicht, es auch zu sprechen. Und trotz meiner verschiedensten Versuche das Eis zu brechen, konnte ich nur mit wenigen ins Gespräch kommen. Eine wirkliche Arbeit gab es hier für mich auch nicht. Also habe ich mich wieder einmal größtenteils mit mir selbst beschäftigt. Und so habe ich innerhalb von 11 Tagen fast 6 Bücher gelesen, etliche Vokabeln gelernt und viel Gitarre gespielt.
Obwohl ich fast nie alleine war, habe ich mich dort so einsam gefühlt, wie noch nie zuvor in Bolivien. Trotzdem finde ich es gut, diese Erfahrung gemacht zu haben. Denn ich habe dadurch viel gelernt – über mich selbst, über die ländliche Bevölkerung Boliviens, über Einsamkeit und darüber, die verschiedensten Dinge wertzuschätzen.
Nach zwei Wochen habe ich mich allerdings dazu entschlossen ein paar Tage früher als geplant wieder zurück nach Sucre zu reisen. Doch auch das war leichter gesagt als getan, denn in Monteagudo gab es eine große Blockade. Das bedeutete, dass hier viele Geschäfte geschlossen hatten und kaum ein (öffentliches) Verkehrsmittel die Stadt verlassen konnte – inklusive der Reisebusse nach Sucre.

Also habe ich mich mit einem Mitarbeiter der Fundación, den ich zufällig getroffen hatte, auf den Weg gemacht. 18 Stunden und fünf verschiedene Verkehrsmittel später, sind wir schließlich in Sucre angekommen. Zuerst sind wir mit einem Stadtbus soweit gefahren wie es eben ging, dann sind wir zu Fuß weiter, später sind wir von einem Autofahrer ein Stück mitgenommen wurden, nach Stunden des Wartens hat uns schließlich ein LKW-Fahrer zwei Stunden auf seinem Dach bis zum nächsten Reisebus mitgenommen. Auf der Reise, die in Deutschland auf diese Art und Weise nicht möglich gewesen wäre, bin ich mit einigen Menschen ins Gespräch gekommen und konnte zudem noch die wunderschöne Landschaft genießen.
Jedes Mal wenn ich zurück nach Sucre fahre, ist es für mich wie nach Hause kommen. Hier habe ich meine eigene Wohnung mit Franzi, die glücklicherweise meistens zur gleichen Zeit da ist. Außerdem kenne ich in Sucre mittlerweile auch einige andere Leute, die mir wichtig geworden sind. Auf dem Foto bin ich gerade mit meiner Gastfamilie Salteñas am Essen – sehr lecker!
Am darauffolgenden Wochenende kam uns dann Mara, eine Freiwillige und Freundin aus Santa Cruz, für 4 Tage besuchen. In dieser Zeit haben wir viel in der Stadt unternommen und waren mit Kathi und Judith, zwei ehemalige Freiwillige, in der Nähe von Sucre in atemberaubender Landschaft wandern.
Außerdem haben wir meine Gastfamilie am Día de los Difuntos (Allerseelen) zum Essen besucht. Allerheiligen und Allerseelen wird hier viel größer und auch sehr anders als in Deutschland gefeiert. Man glaubt, dass am Mittag des 1. Novembers die Seelen der Verstorbenen für einen Tag zurückkehren. Zu ihren Ehren wird ein Tisch mit Lieblingsspeisen und Getränken der Verstorbenen, Masitas (Kleingebäck), Blumen und anderer Dekorationen hergerichtet. An Todos Santos (Allerheiligen) versammelt sich die ganze Familie auf dem Friedhof, es wird gesellschaftlich gegessen und getrunken (nicht nur Cola).
Nach diesen herrlichen Tagen wurde es allerdings wieder Zeit, der Realität ins Auge zu schauen. Die Schwierigkeit in diesem Jahr besteht darin, dass die Fundación gerade dabei ist, ihr Arbeitskonzept zu ändern und wir Freiwilligen nicht mehr in den gewohnten Bereichen eingesetzt werden konnten. Nach einem Gespräch mit der Sekretärin und dem Chef sind wir zu dem Entschluss gekommen, dass ich anstatt nach San Jorge de Ipaty nach Monteagudo zurückkehren sollte. Für mich war es einfach das kleinere Übel.
Mein Projekt in Monteagudo
In dem bereits erwähnten Jugendprojekt arbeitet Lourdes, die sehr freundlich und zuvorkommend ist und zeitweise auch Jhanet, eine bolivianische Freiwillige, mit der ich mich gut verstehe. In Monteagudo habe ich dann gemeinsam mit den beiden in einer Einzimmerwohnung mit einem Bett gewohnt. Also wiederum keine Dauerlösung für mich.

In dem Projekt sind ca. 40 Jugendliche ehrenamtlich tätig, die entweder vormittags oder nachmittags zur Schule gehen. (In Bolivien teilen sich meist die „Grundschule“ und die „Weiterführende Schule“ das Gebäude, der einen Schule steht es vormittags zur Verfügung, der anderen nachmittags.) Die Jugendlichen leisten unter der Leitung von Lourdes meist Präventionsarbeit in Hinsicht auf Schwangerschaften bei Jugendlichen, Alkoholismus und Drogenkonsum. Auch der Umgang mit der Umwelt ist ein Thema. Dabei geht es hauptsächlich darum, den hohen Müllkonsum auf den Straßen zu minimieren. Kurz: Behandelt werden die Problemfelder ihres Municipios (Gemeinde). Die Arbeit besteht meistens darin, in Schulen Workshops zu eben diesen Themen durchzuführen oder auch andere gemeinnützige Arbeiten zu leisten. Ansich finde ich das Projekt echt interessant, allerdings finden diese Treffen mit den Jugendlichen höchstens ein- bis dreimal pro Woche und nur für wenige Stunden statt. Ich hatte also erneut nicht viel Arbeit und meine unzureichenden Sprachkenntnisse haben es noch erschwert in diesem Projekt viel mitarbeiten zu können. Das hat dazu geführt, dass ich mich auch hier zeitweise einsam und nutzlos gefühlt habe.
Zurück in Sucre
Nun bin ich bereits seit 2 Wochen wieder in Sucre – hier geht es mir gut.
Ich kann die verschiedensten Dinge unternehmen. Beispielsweise war ich letztes Wochenende mit anderen Freiwilligen wandern und erst am Dienstag war ich im Theater, um mir eine Aufführung über traditionelle bolivianische Tänze anzusehen. Häufig gehe ich auch zum täglichen Teetrinken der Mitarbeiter der Fundación oder ich bin zum Essen bei meiner Gastfamilie eingeladen. Außerdem backe ich mit Franzi gerne Plätzchen, teilweise auch um mehr in Weihnachtsstimmung zu kommen. Das fällt mir bei 25 Grad und kaum dekorierten Straßen und Häusern noch ein wenig schwer. Wenn ich an das bevorstehende Weihnachtsfest denke, stimmt es mich zeitweise ein wenig nostalgisch, weil ich es dieses Jahr nicht gemeinsam mit meiner Familie verbringen werde. Eine ähnliche Erfahrung habe ich auch schon an meinem Geburtstag gemacht. Ich habe mit 16 anderen Freiwilligen, von denen ich einige kaum kannte, gefeiert. Es war echt schön, aber auch ein wenig verrückt. Hier ist es Tradition, dass am Geburtstag das Gesicht des Geburtstagskindes in die meist sehr sahnige Torte getunkt wird. Da gab es auch für mich kein Entkommen – an dieser Stelle ein großes Dankeschön an Franzi für die super leckere Torte!
Die komplette letzte Woche habe ich bei dem Seminar der Reverse-Freiwilligen mitgewirkt. Diese werden ab Februar einen Bundesfreiwilligendienst im Bistum Trier oder Hildesheim absolvieren. Es hat viel Spaß gemacht und es war sehr interessant, sich mit ihnen auszutauschen. Schließlich werden sie in Deutschland ähnliches erleben, wie ich hier in ihrem Heimatland.
Die Magie der kleinen Dinge
Ich denke, ihr könnt nun verstehen, warum es mir recht schwer gefallen ist, diesen Rundbrief zu schreiben. Ich habe schöne Erfahrungen gemacht, ich habe viel von Bolivien gesehen, ich habe neue, liebe Menschen kennengelernt. Aber ich habe auch vieles erlebt, was mich frustriert hat, was mich unzufrieden gestimmt hat, was mich an mir und meiner Rolle hier zweifeln lassen hat. Ja, die letzte Zeit war teilweise sehr schwer für mich, trotzdem bin ich nach wie vor froh darüber, hier in Bolivien zu sein. Ich versuche euch zu erklären warum:
Es ist nicht (nur) die Hoffnung auf Besserung. Es sind vor allem auch die kleinen Dinge. Es ist die herzliche Bananenverkäuferin in Sucre, die mir jedes Mal eine Banane mit den Worten „und eine für dich“ dazu schenkt. Es ist der Mann, der mich auf einer Reise nach Ipaty in ein Gespräch verwickelt und kurz darauf freudenstrahlend auf meiner Gitarre herumklippert. Es ist die Frau, in dem kleinen Geschäft an der Ecke, die jedes Mal nach meinem Namen fragt und sagt, ich solle auf mich aufpassen. Es sind aber natürlich nicht nur diese Menschen. Es ist meine Gastfamilie, die sich jedes Mal freut mich zu sehen und sagt, dass ich so oft wie möglich vorbei kommen soll. Es ist Franzi, die mich mittlerweile so gut zu kennen scheint, die immer für mich da ist und mit der ich gemeinsam schon viele schöne Dinge erlebt habe. Es ist Kathi, eine ehemalige Freiwillige, die uns zu ihrer bolivianischen Familie einlädt und uns das Gefühl gibt, dazu zu gehören und immer Willkommen zu sein.
Es sind aber auch einige Alltagssituationen, die mich einfach zum Schmunzeln bringen.
Es sind die etlichen Taxifahrten, in denen ich mit acht oder neun anderen mitsamt Gepäck im Taxi sitze. (Und es funktioniert – sogar ganz gut!) Es sind die Ausflüge zum Fluss in Monteagudo, in den wir stets komplett bekleidet schwimmen gehen (auf dem Land ist das keine Seltenheit).
Und trotz häufiger Ortswechsel lebe ich mich hier so langsam ein. Mein Spanisch wird besser und ich verlaufe mich immer weniger. Das doch sehr andersartige Essen fängt an mir zu schmecken und auch mein Magen gewöhnt sich immer mehr daran. Mittlerweile kann ich meinen Augen trauen, wenn ich beispielsweise sehe mit wie viel Öl ein Spiegelei angebraten (bzw. eher frittiert) wird oder wie viele Löffel Zucker in einer Tasse Tee landen.
Und ja natürlich ist es die Hoffnung auf Besserung, die glücklicherweise in Sicht ist und diesmal hoffentlich auch wirklich. Auf jeden Fall bleibe ich optimistisch! Für mich zählt in erster Linie nun, eine dauerhaft Arbeit und Bleibe zu finden und somit endlich einen Alltag hier in Bolivien zu haben.
Doch in den nächsten zwei Monaten stehen in Bolivien erstmal die großen Sommerferien an. Für diese Zeit ist nun schon ungewohnt viel geplant. Auf vieles davon freue ich mich schon sehr. Aber davon berichte ich euch in meinem nächsten Rundbrief!
Liebe Grüße, Lara