Nigeria: 4. Rundbrief von Karen Berg

Es ist September und ich bin seit dreizehn unglaublichen und unglaublichen dreizehn Monaten hier, mehr als 400 Tage, 9600 Stunden, 576 000 Minuten, 34 560 000 Sekunden und diese Zahlen nenne ich nur, um mir das Ganze selbst bewusst zu machen. „Dreizehn Monate“ werden der Menge an Erfahrungen und Erlebnissen nicht annähernd so gerecht wie 34 560 000 Sekunden, in denen so viel verschiedenes passiert ist, obwohl keine Zahl, ganz gleich wie groß oder klein, es wirklich beschreiben könnte (aber irgendwo bin ich ja immer noch deutsch und Zahlen lassen die Dinge immer so wunderbar überschaubar aussehen).
Ein Jahr, das scheinbar schnell vorüber ging und gleichzeitig voller einzigartiger Momente war. Während ich hier auf der Wiese neben dem Parish House sitze und schreibe geht hinter mir die Sonne unter, die Ziege, die jemand den Priestern zum Jubiläum der Diözese geschenkt hat meckert vor sich hin, in der Küche wird Jollof Rice gekocht und eigentlich müsste ich auch noch Unterricht vorbereiten. Es ist ein typischer Sonntagabend und er könnte nicht schöner sein in seiner Einfachheit.
Vor zwei Wochen fing hier nach den langen Ferien die Schule wieder an und nach und nach sind auch alle Schüler wieder eingetrudelt. In meinen Klassen habe ich einige neue Gesichter und sehr viele vertraute wiederentdeckt und freue mich schon, diese jetzt das zweite Jahr unterrichten zu können. Bald ist der 1. Oktober, der nigerianische Unabhängigkeitstag für den die Kinder schon fleißig das Marschieren proben, dem hier einige aber mit gemischten Gefühlen entgegensehen. Nigeria wird häufig, vor allem von den Igbos nicht als eine Einheit angesehen, es wirkt eher als ein in der Kolonialzeit aufgezwungener Zusammenschluss von Igbos, Hausas und Yorubas, drei Volksgruppen, die Nigeria hauptsächlich ausmachen, sich aber ausgesprochen wenig einander zugehörig fühlen, was immer wieder zu Konflikten führt und in den 60er Jahren zum Bürgerkrieg als die Indigenous People of Biafra (IPOB) bzw. Igbos, die Unabhängigkeit ihres heute nicht mehr existierenden Staates Biafra forderten. Trotzdem bleibt der Wunsch nach Unabhängigkeit bei vielen bestehen und verschärft die ohnehin schon angespannte politische Lage.

Ein Viertel Deutschland und zurück

Während der Ferien ging es für mich einige Tage nach Lagos zur Botschaft. Bevor ich überhaupt ankam hatte ich von jedem irgendetwas über diese Millionenstadt gehört und dachte ich könnte in etwa einschätzen, was mich erwartet. Aber um ehrlich zu sein : 24 Millionen Menschen in einer Stadt lassen sich nicht einschätzen. Es ist nicht nur die schiere Größe, es ist auch die unglaubliche Vielfalt in allen Dingen und ich würde gerne behaupten können, dass ich einen Eindruck davon bekommen habe, wirklich sicher bin ich mir allerdings nicht. Um innerhalb Lagos von A nach B zu kommen sitzt man gerne mal zwei oder drei Stunden im Taxi. Das liegt zum Großteil am Verkehr, über den einer der Taxifahrer tatsächlich auf deutsch geflucht hat, andererseits aber auch an der Entfernung. Wenn die Taxifahrt nicht schon durch die Aussicht interessant genug war, dann definitiv durch den Fahrer, dessen Schwester mit einem Deutschen verheiratet ist, wie sich während einer langen Unterhaltung herausgestellt hat. Außerdem weiß ich jetzt, nachdem ich in Lagos das erste Mal seit langem wieder über Kopfsteinpflaster gestolpert bin, dass man sich dank eines Bodenbelags wie in Deutschland fühlen kann – fast wie auf einem Aldi Parkplatz.

Jedes Mal wenn ich im Auto unterwegs bin freue ich mich wenn ich die Fahrt damit verbringen kann, aus dem Fenster zu schauen, da ich wenn ich nur innerhalb Awgus bin weniger auf meine Umgebung achte als außerhalb. Im Vorbeifahren fallen mir dann wieder die mit Palmen übersäten Hügel, der Nebel an den Berghängen und die Kuhherden, die am Straßenrand entlang getrieben werden auf. Manchmal vergesse ich, dass es irgendwo auch noch Jahreszeiten und nicht nur Regen- und Trockenzeit gibt und dass in Deutschland der Herbst anfängt ist mir auch erst aufgegangen, als ich die ersten Zugvögel gesehen habe und ich sie dieses Mal von der „anderen Seite“ begrüßen konnte.

Das zweite Mal September in Nigeria für mich heißt auch der zweite Geburtstag, den ich hier feiere, der dieses Mal ganz anders aussah als der letzte – sehr viel lauter, voller, bunter. Gefühlt war halb Awgu eingeladen und die andere Hälfte hat sich einfach selbst eingeladen, aber ich habe es nach kleineren Organisationskrisen durch und durch genossen nachdem ich letztes Jahr noch gar nicht wusste, dass ich auch noch einen zweiten Geburtstag hier verbringen kann und gerne noch so viele weitere.