Lieber Solidaritätskreis, liebe Freunde, Familie und Unterstützer!
Wieder sind zwei, fast drei Monate vergangen. Das neue Jahr ist angebrochen und es ist schon wieder höchste Zeit für einen Rundbrief. Die letzten Monate waren sehr ereignisreich und ich werde wieder nicht alles erzählen können. Deshalb werde ich mich diesmal mehr auf meine Arbeit im Projekt konzentrieren und euch von ein paar besonderen Ereignissen dort erzählen.
Arbeit in der APAE
Kochkurs

Im November und Dezember durfte ich in der Klasse meiner Gastmutter Remedinha an einem ganz besonderen Unterricht teilnehmen: einem Kochkurs. Der pädagogische Zweig der APAE hat die Aufgabe, die Schüler, ergänzend zum Unterricht an regulären Schulen, zu fördern und im Lernen zu unterstützen. Gleichzeitig sieht die APAE es aber auch als ihr Ziel, die Schüler auf ein möglichst selbstständiges Leben vorzubereiten. Deshalb hat Remedinha für ihre älteren Schüler (ca. 18 – 30 Jahre) einen Basiskochkurs geplant, damit sie lernen können, sich selbst zu versorgen.

Angefangen haben wir damit, über Produkte und Mengen zu sprechen und darüber, dass man beim Einkaufen Dinge wie Ablaufdatum und Zustand der Verpackung beachten muss. Erst danach ging’s ans Kochen. In einem Nebengebäude der APAE gibt es eine Küche, wo wir dann jeden Dienstag in der ersten Stunde hingegangen sind. Material konnten wir uns teilweise in der Hauptküche von den Köchinnen besorgen, zum Teil hat Remedinha es von zuhause mitgebracht.
Das Erste waren ganz einfache Sachen: Kaffee und Cuscuz (sprich: Kuskuis), ein typisch brasilianisches Frühstück. Wie ich sicherlich schon einmal beschrieben habe, trinkt man den Kaffee hier sehr süß und meistens wird der Zucker schon beim Kochen zugefügt, sodass in der Stunde auch das richtige Verhältnis von Kaffeepulver, Wasser und Zucker besprochen wurde. Cuscuz ist eine Art lockerer Kuchen. In der einfachsten Form besteht er aus angefeuchteten Maisflocken, die in Wasserdampf erhitzt werden und dadurch zusammen backen. Eine süße Variante namens Cuscuz 40 (sprich: quarenta) enthält außerdem Kokosflocken, Zucker, Butter und Milch und wird im Topf gekocht bis eine zähe Masse entsteht, die beim Abkühlen fest wird.
In einer anderen Stunde haben wir ein weiteres typisches Frühstück gemacht: Tapioca bzw. Beijo. Das ist ein Fladen aus einer Variante des Maniok-Mehls, dem Goma. Das Mehl wird gesiebt und angefeuchtet und dann einfach in einer dünnen Schicht auf den Boden einer heißen Pfanne gestreut, wo es durch die Hitze zu einem etwas gummiartigen Fladen zusammen backt.

Nach dem Frühstück kam das Mittagessen dran: Reis mit Gemüse, Bohnen und Nudeln mit Sardinen, ein paar der üblichsten Gerichte. Und schließlich durfte auch der Nachtisch nicht zu kurz kommen. In einer Mangocreme verarbeiteten wir eine ganze Menge der zu dem Zeitpunkt saisonalen Früchte. Und dank einer Backmischung konnten die Schüler auch einen Maracujakuchen meistern.
Das Kochen und Backen barg für die Schüler das eine oder andere Hindernis, wie zum Beispiel das Anzünden des Gasherds mit einem Streichholz oder das Berechnen der richtigen Mengen für ein doppeltes Rezept. Aber am Ende ist es immer gelungen, wie auch die vielen anderen Schüler zeigten, die immer plötzlich auftauchten, wenn’s ans Essen ging.
Und was übrig blieb, konnten unsere Köche stolz in den anderen Klassen verteilen und zeigen, was die Mitschüler gekocht hatten.
Festival do Sorvete und Weihnachtsfeier
Am ersten Sonntag im Dezember veranstaltete die APAE ein ganz besonderes und schon sehnsüchtig erwartetes Event: Das Festival do Sorvete. Sorvete bedeutet Eiscreme und genau darum ging es den ganzen Morgen. Drei Stunden lang konnte jeder, der im Vorhinein oder am Tag selber eine Eintrittskarte gekauft hatte, so viel Eis essen, wie er wollte. Das Eis wurde von einer lokalen Eisdiele gesponsert und alle Lehrerinnen und sonstigen Mitarbeiter der APAE waren eingeteilt, um an fünf Tischen das Eis zu verteilen, die Schlangen der Anstehenden zu organisieren, Becher zu verteilen und Karten zu verkaufen.

Fast alle Schüler der APAE kamen mit ihren Familien und es war so viel los, dass die Eintrittsarmbänder nicht reichten und zum Schluss improvisiert werden musste. Es hat mega viel Spaß gemacht, mitzuhelfen und mitten im Trubel zu sein und natürlich mich einmal durch alle Eissorten durchzuprobieren. Die APAE veranstaltet dieses Festival jedes Jahr und der Erlös kommt der Schule zu Gute. Eine tolle Idee, wie ich finde, und zumindest dieses Jahr ein voller Erfolg.
Eine weitere große Veranstaltung im Dezember war die Weihnachtsfeier. Sie fand am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien statt, die hier zugleich die großen Ferien und das Ende des Schuljahres sind. In vielen ähnelte sie einer typischen deutschen Weihnachtsfeier: Es gab leckeres, kinderfreundliches Essen und viele Süßigkeiten, die Lokalität war weihnachtlich dekoriert mit einem selbstgebastelten Schlitten mit Rentieren und einer der Schüler verkleidete sich als Weihnachtsmann.

Da fingen allerdings auch schon die Unterschiede an. Beispielsweise hatte ich noch nie zuvor einen Weihnachtsmann mit Sonnenbrille und Flip-Flops gesehen. Gemeinsames Tanzen gehört in Deutschland auch eher selten zum Programm. Und meistens gibt es Plätzchen und Lebkuchen, während hier Popcorn und Eis verteilt wurden. Und von mir gebackene Nusskipferl, allerdings mit Erd- statt Haselnüssen, weil man letztere hier nicht bekommt. Der größte Unterschied war allerdings der Ort: Unsere Weihnachtsfeier fand im Freibad statt und zwischen Tanzen und Essen tollten alle im Wasser herum, spielten Wasserball, rutschten auf den Wasserrutschen und wetteiferten darum, wer beim Ins-Becken-springen am meisten spritzt.
Eine sehr sommerliche Weihnachtsfeier, aber eigentlich genau das Richtige, da es vor Weihnachten unglaublich heiß und das Schwimmen eine willkommene Erfrischung war. Wir hatten auf jeden Fall viel Spaß und einen gelungenen Abschluss des Schuljahres für unsere Schüler. Die Lehrer und damit auch ich mussten noch drei Tage länger arbeiten, da es galt die Klassenzimmer aufzuräumen und pädagogische Besprechungen abzuhalten. Erst dann begannen auch für uns die bis Anfang Februar dauernden Ferien.
Alltag
Seit meinem letzten Rundbrief haben sich einige Änderungen in meinem Alltag ergeben. Anfang November habe ich begonnen, auch am Freitagmorgen zu arbeiten, den ich bis dahin frei hatte. Außerdem durfte ich dienstags nun auch die Nachmittagsklassen kennenlernen, was in mehrerer Hinsicht eine Herausforderung war. Zunächst einmal musste meine Nachmittagsschicht logistisch organisiert werden, da ich in meiner alten Gastfamilie in einem Stadtviertel wohnte, das vom Schulbus auf der Hinfahrt als erstes und auf der Rückfahrt als letztes angefahren wird, sodass mein Arbeitsweg immer ca. eine halbe Stunde dauerte. Damit schmilzt die zweistündige Mittagspause auf eine Stunde zusammen, die gerade so gereicht hätte, um zu duschen und zu Mittag zu essen, bevor ich wieder los müsste. Daher bin ich dann dienstags immer mit meiner Chefin Alice nach Hause gegangen, bei der der Bus früher hält.

Eine zweite Herausforderung war das Arbeiten in der Nachmittagshitze, gegen die auch die Ventilatoren irgendwann nicht mehr helfen. Fast jeder, der nicht arbeiten muss, versucht dieser Hitze durch ein Mittagsschläfchen auszuweichen. Aber wir müssen eben arbeiten. Allerdings geht es nachmittags sehr viel ruhiger zu. Es sind weniger Schüler da und alles wird entspannter angegangen. Irgendwie kam mir die Atmosphäre auch familiärer vor, vielleicht, weil ich dann quasi den ganzen Tag in der APAE war und erst abends um sechs, wenn es schon dunkel wird, nach Hause gekommen bin.
Im November habe ich außerdem ein paar Mal an einer Art Zumba-Stunde im Fitnessstudio teilgenommen. Da wird hauptsächlich brasilianischer Funk getanzt, eine populäre Musikrichtung, die ich inzwischen trotz ihrer zweifelhaften Texte ziemlich mag. Das Tanzen hat durchaus Spaß gemacht, aber ich fand den brasilianischen Tanzstil ziemlich anspruchsvoll und es wollte mir nicht so richtig gelingen, ihn nachzuahmen, was ich dann doch etwas frustrierend fand.
Matrículas
Momentan sind wie gesagt Ferien, die noch bis Anfang Februar gehen. Meine anfängliche Sorge, ich hätte den ganzen Januar nichts zu tun, war jedoch unbegründet. Die vergangenen zwei Wochen durfte ich nämlich bei den Matrículas, den Anmeldungen für das neue Schuljahr, helfen, was viel Schreibarbeit, aber auch sehr interessant war.

So habe ich zum Beispiel zum ersten Mal die vollen Namen der Schüler erfahren. Namen sind hier meistens sehr lang und im Alltag benutzen viele eine verkürzte Form. Etwa wird meine Gastmutter normalerweise Remédios Lima genannt, aber eigentlich fehlt dabei ein Teil ihres Vor- und drei ihrer Nachnamen. In der Regel behalten nämlich die Frauen bei der Hochzeit ihren Nachnamen, der Name des Mannes wird höchstens hintendran gefügt. Die Kinder bekommen dann den letzten Nachnamen der Mutter und den letzten Nachnamen des Vaters. So etwas wie einen gemeinsamen Familiennamen, wie wir das kennen, gibt es also eigentlich nicht.
Zudem konnte ich etliche Eltern unserer Schüler treffen und habe erfahren, dass einige von ihnen nicht lesen und schreiben können und daher ihre Kinder zuhause nicht beim Lernen unterstützen können. Manche haben auch selbst geistige Beeinträchtigungen. Das gestaltet die Situation der Familie dann sehr schwierig, denn es gibt wenige staatliche Hilfen und die Familien sind auf die Unterstützung durch andere Verwandte angewiesen, um sich um Haus und Kinder zu kümmern. Dieser erste Eindruck hat mein Interesse geweckt und ich hoffe, dass ich mit der Zeit noch weitere Einblicke in die Familiensituation unserer Schüler gewinnen kann und vielleicht auch irgendwann bei einigen Hausbesuchen der Sozialarbeiter der APAE dabei sein darf.
Suçuarana

Am Morgen des 24.12. hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, richtig ins Interior zu fahren. Mit „Interior“ sind die ländlichen Gegenden und ihre Dörfer gemeint. In Parnaíba nennen die Leute anscheinend auch zuweilen Piripiri Interior. Vielleicht meinen sie damit, dass es mehr im Landesinneren liegt als die Küstenstadt Parnaíba, den Interior bedeutet übersetzt „Inneres“. Anders kann ich es mir nicht erklären, denn von einer richtigen Gemeinde im Interior unterscheidet sich Piripiri ziemlich.

Suçuarana ist eine dieser Gemeinden. Wir sind dort mit einem Verein hingefahren, der auch wohltätige Arbeit leistet und dem mein Gastvater angehört, um Geschenke und Essenspakete zu verteilen. Um acht Uhr morgens haben wir uns mit den anderen Vereinsmitgliedern getroffen und nachdem gegen neun dann auch die letzten da waren, ging‘s mit fünf Autos los.
Zuerst sind wir etwa zehn Minuten auf der geteerten Schnellstraße gefahren, von der Sorte, die hier in der Gegend die Städte verbinden. Dann sind wir auf einen ungeteerten, sandigen Weg abgebogen und waren von da an von Wald und Vegetation umgeben.

Da wurde mir zum ersten Mal klar, was Interior eigentlich bedeutet. Es wurde noch abenteuerlicher, als uns auf dem Weg Hindernisse, wie riesige, ganze Straße bedeckende Pfützen begegneten, die uns zwangen mit dem kleinen, nicht geländetauglichen Wagen meiner Gastfamilie auf die schiefe Böschung auszuweichen.
Während dieser Fahrt erzählte mir meine Gastmutter, dass Suçuarana in der Kolonialzeit als Zufluchtsort und Versteck von entflohenen Sklaven gegründet worden war, weswegen es auch sehr versteckt und weitab liegt. Später erfuhr ich, dass dort 16 Familien leben. Für die Gemeinden des Interior ist es anscheinend üblich, statt Einwohnern Familien anzugeben, denn als ich an einem anderen Tag zwei Frauen aus dem Interior fragte, wie viele Einwohner in ihrer Gemeinde leben, sagten sie 64 Familien. Der Name Suçuarana stammt übrigens von einer einheimischen Jaguarart, die so heißt.

Nach einiger Zeit sahen wir wieder vereinzelte Häuser und kamen schließlich in Suçuarana an. Unsere Aktivitäten fanden in der Kirche statt, die etwas erhöht am Rand der Siedlung liegt. In verschiedenen Etappen wurden dort Geschenke verteilt: Spielzeug für die Kleinen, Schulsachen für die Jugendlichen und Essenspakete mit Basislebensmitteln wie Reis, Bohnen, Mais- und Maniokmehl, Öl, Zucker usw. Dazwischen gab es Zuckerwatte, Kuchen, Limonade und Eis für alle und es lief Weihnachtsmusik. An diesem Morgen habe ich mich sehr weihnachtlich gefühlt. Schließlich ist es die Idee von Weihnachten, zu geben und andere glücklich zu machen. Und wer wäre nicht glücklich über Unmengen von kostenlosen Süßigkeiten?

Wie sehr die Familien dort auf diese Geschenke angewiesen sind oder nicht, weiß ich nicht. Generell konnte ich an diesem Tag nur wenig von dem Dorf kennenlernen. Darum hoffe ich, dass ich einmal die Gelegenheit bekomme, ein paar Tage im Interior zu verbringen und mehr über die dortige Lebensweise zu erfahren.

Das war’s auch schon wieder von mir. Ich wünsche euch ein erlebnisreiches und glückliches Jahr 2018!
Liebe Grüße aus Piripiri
Kim