Wenn ich „Nigeria“ lese oder höre habe ich jetzt, nachdem ich hier so viel Zeit verbracht habe, ein sehr klares Bild vor Augen, das durch meine Erfahrungen gezeichnet wurde. Bevor ich aber das erste Mal meine Nase aus dem Flugzeug gestreckt und nigerianische Luft geschnuppert habe, war das Nigeria in meinem Kopf ein anderes als das, an das ich jetzt denke. Und weil ich so vielen Menschen gerne ‚mein‘ Nigeria zeigen möchte, aber vorerst wohl kein Flugzeug chartern kann, versuche ich, es so gut wie möglich in Worte zu fassen.
Wenn ich an Nigeria denke, dann denke ich mit einem warmen Gefühl im Bauch an all die Menschen, die ich kennenlernen und so viel von ihnen lernen durfte. Ich denke an Awgu und habe die Hauptstraße vor Augen, deren Lärmpegel mit jeder Autobahn mithalten kann. Das liegt aber nur zum Teil am Verkehr, sondern vielmehr an den vielen kleinen Läden, Schneidern, Obstständen, Kneipen und Friseuren, die alle ihren Anteil an der Geräuschkulisse haben – zusammen mit ratternden Generatoren, gackernden Hühnern, startenden Motorrädern und nach Hause kommenden Schulkindern. Und von irgendwoher ist mit Sicherheit immer einer der vielen Gottesdienste über die Lautsprecher zu hören. Das sind die Geräusche, die mich jeden Tag begleiten und ohne die es mir sehr still vorkäme.
„Nigeria“ heißt, auf dem Markt den Preis zu verhandeln, dass überall Hühner und Geckos herumlaufen und die vielen Motorräder den wagemutigeren Hühnern ausweichen müssen.
Ich denke daran, dass ich mit Gewissheit sagen kann, dass es Sonntags Reis gibt, es um 19 Uhr dunkel ist und dass es, egal wo man sich gerade befindet höchstens 300m bis zum nächsten Stand sind, an dem es Erdnüsse und Bananen zu kaufen gibt (beides passt hervorragend zu…allem).
Dass es um 19 Uhr dunkel ist war zuerst ziemlich ungewohnt, wenn man bei Sommertemperaturen eher Sonnenuntergänge nach 21 Uhr erwartet. Aber wenn man bedenkt, dass wir hier fast auf dem Äquator sitzen vielleicht nicht ganz unvorhersehbar. Dementsprechend bleibt es auch das ganze Jahr bei dieser Uhrzeit.
Etwas weniger beständig ist die Stromversorgung- wenn Strom da ist, ist das sehr angenehm, aber es stört auch nicht weiter wenn das nicht der Fall ist. Daran gewöhnt man sich erstaunlich schnell und für mich spielt es praktisch keine Rolle mehr. Bis man dann wieder die „Up NEPA!“- Rufe der Kinder hört ( „Ein Hoch auf NEPA“- der Stromversorger), wenn der Strom wieder da ist und sich freut, weil man den Deckenventilator anschalten kann, hat man fast vergessen, dass schon eine ganze Weile kein Strom mehr da war.
Ich habe hier in Nigeria Lektionen gelernt, wie sie kein Klassenzimmer und kein Hörsaal bieten können. Zum einen dadurch, dass ich aus der gewohnten Umgebung herausgerissen wurde als auch dadurch, dass ich eine andere Kultur erfahre, eine andere Lebensauffassung. Ich habe gelernt, mit weniger zu leben, was aber bei weitem nichts mit Armut zu tun hat als eher mit der Tatsache, dass ich nur mit zwei Koffern hierher kam und das bedeutend einschränkt und genauso im Hinblick auf meinen Rückflug : Zwei Jahre lassen sich in keinen Koffer packen.
„Armut“ ist üblicherweise ein großes Thema wenn man das Gespräch auf Afrika lenkt. Häufig fallen dann auch Sätze wie „Sie haben nichts und sind trotzdem glücklich.“ An dieser Stelle möchte ich nur eben zu Bedenken geben wie viele Menschen vermeintlich alles haben und trotzdem nicht glücklich sind. Und vielleicht (das ist natürlich nicht immer der Fall) kann man den oben genannten Satz nur für einen Moment herumdrehen und überlegen, ob einige Menschen vielleicht nicht nur trotzdem sondern gerade weil sie vermeintlich nichts haben glücklich sind. Wenig Besitz muss nicht gleich Armut sein und wenig Besitz bedeutet auch weniger Ballast. Zudem ist Besitz nicht rein materiell, sondern auch geistiger Besitz und eine andere Sicht auf die Dinge. Jemand, der von außen betrachtet wenig besitzt würde das vielleicht nicht von sich selbst sagen, weil für ihn andere Dinge wichtiger sind.
Ich möchte mit Sicherheit nicht behaupten, dass es hier keine Armut gibt. Es schön zu reden macht keinen Sinn, viel eher möchte ich verhindern, dass ein Schwarz-weiß Bild entsteht und dazu anregen, nicht alles was nach Armut aussieht direkt als diese abzustempeln.
Die kleinen Dinge spielen für mich mittlerweile eine viel größere Rolle. Das gemeinsame Essen mit einem Freund, interessante, inspirierende Unterhaltungen, dass endlich wieder Saison für Ananas ist und ich mich von anderthalb Ananas täglich ernähren kann (vermutlich nicht empfehlenswert, aber einfach zu verlockend), wenn meine Schüler bei einer bestimmten Aufgabe letztendlich den Dreh heraus haben und voller Stolz das Ergebnis präsentieren, eine kühle Brise wenn es nachts viel zu heiß ist.
Es ist einfacher zu leben, weil das Leben einfacher ist. Das mag jetzt abgedroschen klingen und vielleicht auch so als gäbe es hier keinen Stress, keine Handys und keine Zivilisation, aber ganz im Gegenteil (man denke an Lagos) hier werden von vielen einfach die Prioritäten anders gesetzt. Das ist nicht immer ganz einfach, wenn ich dann auf den ein oder anderen ein ums andere Mal warten muss, aber dann weiß ich meistens auch, dass ich warte, weil die Person gerade noch ihr Essen mit der Familie genießt und sich dann später aber auch dementsprechend Zeit für mich nimmt.
Das ist nicht immer so, Mentalitäten verschwimmen und die Globalisierung erhält auch hier ihren Einzug, aber der Unterschied ist trotzdem spürbar.
Ganz in diesem Sinne ein Text des nigerianischen Schriftstellers Tolu Akinyemi, der einen kleinen Einblick in die nigerianische Mentalität gibt.
How to be a true Nigerian
Early in tbe morning
a true Nigerian meets a friend
and like a game of ping-pong
they play with greetings.
How is your wife?
She is fine!
And the cildren?
They are fine!
How is work?
Work is fine!
Your father`s health?
It`s doing well!
Then one says a greeting
that sounds like this;
I´m with you o, enduring
this ‚Buhari economy‘
The other laughs in surprise
„Who would`ve guessed
you are affected too?
With your skin
glowing like this?“
His friend smiles, pretending
to reject the flattery.
The true Nigerian comes back from work
hungry, he could eat a horse,
he raids the kitchen, finds a wrap of eba
then his neighbour walks in.
He doesn`t mean it
but he says „join me“.
His true Nigerian neighbour
with his rumbling tummyside
must politely decline.
The true nigerian child sits with an elder.
The elder farts
but he must savour it without a smirk.
The true Nigerian rushes off to work
but he must offer his help
to his laudry-doing neighbour
even when it’s obvious
he has no time to give.
The neighbour is a true Nigerian
she says „no thank you“ with a smile
even when her laundry
spreads out a mile.
The true Nigerian in the market
knows the price given, when she asks
is the value, twice or thrice
and so, haggle, she must.
Every man from his village
the true Nigerian calls „brother“
although they just met-
it really doesn’t matter.
The true Nigerian knows
to decipher undertones
of a neighbourly evening visit
the housewife says jokingly
„we were already snoring
this time yesterday“.
The true Nigerian knows
he’s overshot his stay.
The true Nigerian
loves to laugh
he loves to suffer and smile
his leaders rob him blind
but he laughs
they mess up his life
but he suffers and smiles.
-Tolu Akinyemi