Liebe Familie, Freund*innen und Unterstützer*innen
Nun sind schon wieder fast 3 Monate seit meinem letzten Rundbrief vergangen und wieder gibt es viel, von dem ich erzählen möchte. Viele Themen, die ich in meinem letzten Rundbrief nicht angesprochen habe, einfach auf Grund der Fülle der Ereignisse und Erlebnisse, die aber oft nachgefragt werden, versuche ich in diesem Rundbrief anzusprechen. Außerdem geht es natürlich um die am häufigsten gestellte Frage: „Wie geht es Dir denn so?“ Und natürlich sind auch einige Sachen passiert, von denen ich berichten möchte; z.B. von der Weihnachtszeit. Alles in allem also mal wieder viel zu viel auf einmal und doch nie genug um einen kompletten Einblick zu geben in meine Welt hier. Trotzdem hoffe ich, Ihr freut Euch und bleibt weiter so interessiert.
Alles anders…
Als erstes geht es um zwei Themen, die ich in ihrer Alltäglichkeit im ersten Rundbrief völlig vergessen habe.
Da wäre zum einen das Essen. Vor meinem Freiwilligendienst habe ich gedacht: Ach mit dem Essen das wird kein Problem. Ich gehe ja gerne indisch Essen in Deutschland. Großes Missverständnis! Indisches Essen in Deutschland ist nicht wie das Essen hier. Es ist sehr angepasst an die europäischen Geschmacksnerven, gerade was die Schärfe angeht. Außerdem gibt es in meinem alltäglichem Leben natürlich nicht die Auswahlmöglichkeiten eines Restaurants. Das Einzige, was ich hier täglich esse, was es auch in allen indischen Restaurants in Deutschland gibt, ist Reis. Und dieses Klischee kann ich tatsächlich bestätigen. In Indien wird viel Reis gegessen. Mindestens zweimal am Tag gibt es Reis als Hauptbestandteil der Mahlzeit. Was mir am Anfang noch etwas einseitig erschien, wird immer normaler. Zum Reis gibt es Curry (was hier nichts anderes als Soße heißt), Chutney aus verschiedenem Gemüse und auch gerne mal Fisch oder Hühnchen. Der Fisch gehört hier dazu, weil es den Schwestern ein Heimatgefühl gibt. Da alle aus Kerala kommen und eine große Sehnsucht nach „Gods own Country“, wie Kerala von den Indern gerne gennant wird, haben und dort viel Fisch gegessen wird, gehört es auch hier mindestens einmal am Tag auf den Tisch – auch Hühnchen wird hier gerne verspeist. An sich ist Indien aber ein Land, in dem man sich sehr gut vegetarisch ernähren kann. Restaurants sind oft nicht speziell gekennzeichnet, wenn sie vegetarisch sind, sondern wenn sie es nicht sind. Meine Lieblingsmahlzeit ist aber auch hier das Frühstück, weil es dann keinen Reis gibt. Gefrühstückt wird hier gerne Chapathi (vielleicht zu vergleichen mit Pfannkuchen, aber herzhaft und fester), Idly, ein Gericht aus Reismehl oder auch gerne mal Tapioka, hergestellt aus der Maniokwurzel (vergleichbar mit Kartoffeln) mit Fischcurry. Dieses Essen, das ich hier beschreibe ist allerdings nur das Essen, das traditionell in Kerala gegessen wird. Schon im Nachbarstaat Tamil Nadu ist vieles anders, ganz zu schweigen vom nordindischen Essen.

Und dann gibt es da noch die Kleidung. Eine große Umstellung, mit der ich mich aber relativ schnell anfreunden konnte. Da ich in Bangalore, einer der größten und modernsten Städte Indiens lebe, ist bei mir die Kleiderordnung an sich nicht so streng. Und wenn man hier durch die Straßen geht sieht man neben Frauen in Saris auch gerne mal eine junge Frau in Jeans. Theoretisch wäre es also für mich kein Problem hier in Bangalore in Jeans und T-Shirt rumzulaufen. Allerdings ist mein engeres Umfeld hier in der Gemeinde und mit den Schwestern etwas traditioneller und es wird nicht so gerne gesehen, wenn Frauen westliche Kleidung tragen. Dazu kommt: Ich habe auch in Deutschland nie gerne Jeans getragen, da ich sie unbequem und einengend finde. Also bin ich fast dankbar von diesem Übel hier befreit zu sein. Was trage ich? Viele Frauen, besonders der älteren Generation, tragen tatsächlich jeden Tag den bekannten Sari, ein langes Tuch, das kunstvoll um den Körper drapiert wird. Auch ich habe einen Sari, trage ihn aber nur an besonderen Festtagen, da ich ihn zwar wunderschön finde, man aber auch hier nicht wirklich von „praktisch“ sprechen kann. Außerdem ist mir nach wie vor ein Rätsel, wie man den Sari alleine anzieht. Ich trage, wie viele junge Frauen und Mädchen in Indien, Churidar. Dabei handelt es sich um eine knielange Tunika mit Schlitz an der Seite. Darunter wird entweder eine weite Pumphose oder eine Leggins in passender Farbe getragen. Zudem wird über die Schultern und Brust ein Schal gelegt, der zum Rest des Outfits passen muss. Ich hab mich abgesehen von dem Schal, den ich nur trage, wenn ich den Convent verlasse, gut mit dieser Kleiderordnung angefreundet und mir gefällt der indische Kleidungsstil sehr.

Gegenseitiges Verständnis-Mein Leben mit Ordensschwestern

Besonders viel lerne ich hier im Umgang mit den Menschen, mit denen ich lebe. Man könnte sich ja fragen: wie kann das funktionieren? Ein junges, westliches Mädchen lebt mit 4 katholischen Nonnen in Indien zusammen. Diese Frage ist berechtigt und es wäre gelogen, wenn ich sagen würde es wäre alles immer nur einfach. Es ist ein bisschen, als hätte man vier Mütter, die einen alle möglichst in Sicherheit wiegen wollen. Am Anfang war das oft schwierig, doch die Schwestern und ich haben viel dazu gelernt. Sie akzeptieren meine Bedürfnisse und lassen mir mehr Freiheit. Ich habe erkannt, dass hinter der Strenge der Schwestern oft eine liebevolle Sorge um mich oder kulturelle Begebenheiten steckt. Zum Beispiel ist es in Indien nicht normal, dass eine junge Frau in meinem Alter das Haus alleine verlässt – erst recht nicht, wenn sie die Gegend noch nicht richtig kennt. Diese Einschränkung war für mich sehr ungewohnt, doch meine Sicht auf diese Dinge ist für viele Menschen hier eben auch sehr ungewohnt. So muss man lernen sich gegenseitig zu verstehen. Für mich war es eine große Bereicherung dieses gegenseitige Verständnis zu erlernen und zu entwickeln. Kompromisse zwischen zwei so völlig verschiedenen Kulturen und Weltansichten sind möglich, aber nur wenn eben beide aufeinander eingehen und offen sind. Ich merke wie „meine kleine Familie“ hier immer besser funktioniert und fühle mich mehr und mehr als würde ich doch irgendwie dazu gehören. Alltägliche Sachen machen mich so unendlich glücklich: wenn ich nachmittags zur Teepause in die Küche komme und alles riecht nach frisch gebackenen Chapathi, wenn ich Samstags mit einer Schwester im Wohnzimmer sitze, die Sonne scheint durchs Fenster, ich lerne Malayalam und sie lernt für ihr Management-Studium oder gemeinsam am Tisch sitzen und dabei über die neusten Nachrichten aus Zeitung oder TV lachen und verzweifeln. All diese kleinen Momente sind unbezahlbar.
Kirche und Weihnachten in Indien
Viel in meinem alltäglichen Leben hier in Indien dreht sich um die Kirche. Nicht nur, weil ich mit Nonnen zusammen in einem Kloster lebe, sondern auch weil hier ein optimaler Ort zum Kontakteknüpfen ist. Für mich wirkt es so, als sei die Gemeinschaft das höchste Gut dieser Kirche. Ich lebe in einer katholischen Gemeinde und finde viele Traditionen und Riten aus Deutschland auch hier wieder. Aber einige Sachen sind auch sehr anders: zu erst mal sitzen alle Kinder vor dem Altar auf dem Boden und auch einige erwachsene Frauen setzen sich lieber auf den Teppich. Außerdem sind alle barfuß, Männer, Frauen, Kinder, Priester, Nonnen, alle. Was mir am Anfang etwas seltsam vorkam, finde ich jetzt eigentlich wirklich schön, denn man kann die nackten Füße als Symbol der Gleichheit und Demut vor Gott sehen. Und dann ist da noch die Musik als zentraler Teil des Gottesdienstes, da fast die Hälfte der Zeit gesungen wird. Die Musik gefällt mir so gut und ich finde sie unglaublich berührend, dass mir beim Zuhören oft die Tränen in den Augen stehen. Wenn ich auch sonst kaum was im Gottesdienst verstehe, da er ja auf Malayalam gehalten wird, lässt mich die Musik immer wieder gerne zur Messe kommen. Aber mit dem Gottesdienst ist es hier noch lange nicht getan, was kirchliche Aktivitäten angeht. Sonntags geht es danach erst richtig los. Die Sonntagschule findet statt, es werden Ausflüge in die Natur oder Tanzveranstaltungen organisiert oder die Jugendgruppe trifft sich, betet gemeinsam und füllt den ganzen Hof mit modernen Worship-Gesängen. Es ist eigentlich immer was los und das nicht nur sonntags. Irgendein Fest oder eine neue Aktion gibt es immer vorzubereiten. Jeder kennt hier jeden und jeder hilft mit. Das genieße ich sehr an dieser Kirche hier: Sie sprudelt vor Leben!

So auch an Weihnachten. In der Zeit vor Weihnachten habe ich die vielen Adventstraditionen aus Deutschland doch schon sehr vermisst und es fiel mir schwer in Weihnachtsstimmung zu kommen (was aber auch an den hohen Temperaturen lag). Doch je näher der 24. Dezember rückte, desto weihnachtlicher wurde es auch hier. Wir haben zusammen mit den Hostel-Mädels unser Kloster und die Eingangshalle dekoriert. Ein bisschen zu bunt für meinen Geschmack, aber die meisten Inder mögen eben Farbe. Vor der Kirche wurde wochenlang in geheimer Arbeit an einer riesigen Krippe gewerkelt und im Kindergarten organisierten wir eine Weihnachtsfeier für die Kleinen. Ein Ereignis, dass mir aus der Vor-Weihnachtszeit besonders in Erinnerung geblieben ist, ist das Carol-Singing (Sternsingen). Auch in Indien findet das eigentlich nach Weihnachten statt, doch bei uns war es vorher, weil an Weihnachten und danach viele aus der Gemeinde in die Heimat fuhren. Also kamen die Sternsinger bei uns schon am 17. Dezember. Am Morgen hatte es einen Wettbewerb auf unserer großen Bühne gegeben, wo verschiedene Gruppen wunderschöne Weihnachtslieder auf Malayalam vor sangen. Am Abend sollte dann eine große Gruppe von Haus zu Haus gehen. Ich wurde so ca um 20 Uhr in den Flur gerufen und erwartete ein Sternsingen wie ich es eben auch aus Deutschland kenne – ruhig und besinnlich. Doch was bekam ich zu sehen und vor allem zu hören? Eine riesen Gruppe von Menschen, alt und jung, die zusammen in unseren kleinen Flur gequetsch sangen, tanzten und trommelten. Dazu wurde Pflaumenkuchen gegessen und viel gelacht. Außerdem wurde eine kleine Puppe, die das Jesuskind symbolisierte, herum gegeben und jeder hat es geküsst und etwas Geld dazu gelegt. Nichts mit „Stille Nacht“, Party war in unserem kleinen Kloster angesagt. Und das beschreibt Weihnachten hier allgemein eigentlich ganz gut.

Bangalore – Eine Hass-Liebe
In meinem letzten Rundbrief habe ich mich etwas zurück gehalten, als es darum ging über meine neue Heimatstadt zu berichten. Das lag daran, dass ich sie einfach nicht fassen konnte und bis heute nicht kann. Bangalore ist nach Mumbai und Delhi die drittgrößte Stadt Indiens, hat sich in den letzten Jahren zu einem der Forschungs- und IT-Zentren des Landes entwickelt und wird von vielen als die „westlichste“ Stadt Indiens beschrieben. Hier gibt es gute Lebensbedingungen für viele Menschen, zahlreiche Jobs, vor allem in der IT-Branche, ein moderner Lebensstil, der es besonders Frauen hier leichter macht, und ein gutes Klima. Diese guten Lebensbedingungen sind ein Segen und ein Fluch zugleich, denn dadurch, dass man hier gut leben kann, wollen eben auch sehr viele Menschen hier hin. Die Bevölkerungszahl Bangalores erhöht sich gefühlt täglich und das bringt Probleme. Von schlichtem Platzmangel zu komplizierten Umweltproblemen durch Abgase und Müll. So wird die einstige „Stadt der Gärten“ ( so wurde Bangalore auf Grund seiner vielen Parks genannt) mehr und mehr zum Sinnbild eines Großstadtalptraums. Die Luft ist eine Kathastrophe, ich muss nur ein paar Meter an einer Hauptstraße lang gehen oder eine kurze Fahrt mit der Riksha machen und meine Lunge ist voller Blei. Überall liegt Müll und man hat ständig den Geruch von Müllverbrennungen in der Nase. An manchen Tagen hat die Sonne Mühe durch den Smog zu kommen und das Wasser ist so unrein, dass ich vom Waschen Ausschlag an den Händen bekomme. Und trotz zahlreicher Initiativen, die speziell von jungen Indern und Inderinnen gestartet wurden, um gegen diese Probleme vorzugehen, scheint die Regierung sich mit Lösungen Zeit zu lassen. So viel zu den Fakten, die diese Stadt prägen. Nun ein paar persönliche Eindrücke. Wie man der Überschrift entnehmen kann, verbindet mich mit Bangalore eine Art Hass-Liebe. Ich bin kein Großstadtmensch und das hier ist eine Großstadt par excellence. Tag und Nacht höre ich Hupen und Straßenverkehr, überall sind riesige Gebäude, die wenig mit Ästhetik sondern eben vor allem mit Platzbeschaffung zu tun haben.
Es hat aber auch viele Vorteile hier zu leben: in den riesigen Shoppingcentren gibt es alles was das Herz begehrt, ich habe gute Busanbindung und viele Möglichkeiten mit Menschen aller Art und Herkunft in Kontakt zu kommen. Zudem finde ich es immer wieder faszinierend, wie kontrastreich diese Stadt ist. Unter einem leuchtenden Plakat für eine Luxusmesse, das das Bild einer Frau mit strahlend weißen Zähnen und kurzen Kleid zeigt, sitz eine alte Dame im Sari ohne Zähne, die für ihr Mittagessen bettelt. Im Park sieht man dünne Frauen, die mit ihren Kindern auf dem Rücken Müll aufsammeln neben einem jungen Studentenpaar, das Händchen haltend auf der Bank sitz. Ein riesiges Shoppingcenter auf der einen Straßenseite und die Schlafplätze der Obdachlosen unter Brücken auf der anderen. Solche Bilder können erschrecken, aber am Ende des Tages ist es das Leben hier in Indien und um das kennen zu lernen bin ich hier. Indien ist nie gleich Indien. Meiner Theorie nach gibt es „Indien“ gar nicht. Zumindest nicht DAS Indien. So hört man nie auf zu lernen, doch ich befürchte, dass ich am Ende dieses Jahres keinen einzigen Satz anfangen kann mit: „Indien ist…“.

Wie geht´s dir denn so Madita?
Das ist wohl die am häufigsten gestellte Frage aus Deutschland. Allerdings konnte ich diese Frage noch nie so richtig gut beantworten. Grade in den ersten Monaten hier, wusste ich oft gar nicht wie es mir geht. Oder sagen wir es ging mir alle halbe Stunde anders. Ein bekanntes Gesicht, dass mich im Vorbeigehen nicht angelächelt hat, eventuell einfach weil ich nicht gesehen wurde, konnte mich in die tiefsten Tiefen stürzen. Gleichzeitig konnte mich nur ein 5-minütiges Gespräch mit der Frau an der Kasse im Supermarkt einen ganzen Tag lang überglücklich sein. Es war eine Achterbahnfahrt. Trotzdem habe ich es irgendwie genossen, denn so intensiv habe ich noch nie zuvor gelebt. Das extreme Auf und Ab hat sich etwas eingependelt, obwohl mich immer noch viele kleine Dinge aus der Bahn werfen können, doch inzwischen genieße ich es meistens und ein bisschen hat diese Hypersensibilität auch abgenommen. Nach wie vor gilt: Das Leben ist intensiver denn je. Ansonsten geht es mir richtig gut. Ich bin glücklich hier in Indien und ich habe die Entscheidung diesen Freiwilligendienst anzutreten noch kein einziges Mal bereut. Immer wieder wache ich auf und habe ein richtiges Gribbeln im Bauch, weil ich mich so freue hier zu sein. All die Menschen, die ich treffen, all die Dinge die ich erleben erleben darf machen dieses Jahr unvergesslich. Und ich bin euch allen sehr dankbar, dass ihr mir das, auf die ein oder andere Weise, möglich macht.
Und so endet auch schon mein 2. Rundbrief. Mal wieder musste ich einiges auslassen z.B. meine Erlebnisse auf dem Zwischenseminar und die abenteuerliche Reise in den Norden Indiens. Also bleibt gespannt auf den nächsten Rundbrief. Nachträglich frohe Weihnachten und ein frohes neues Jahr an euch alle!
Madita