Hallo Ihr Lieben!
Wie schnell die Zeit verfliegt und wie viel in so kurzer Zeit passieren kann! Ich bin nun schon seit sechs Monaten in Bolivien und habe seitdem unglaublich viel erlebt und gelernt. In den letzten Wochen und Monaten, aber vor allem Tagen ist einiges passiert, worüber ich euch in diesem Brief berichten möchte.
Erste Gruppenstunde und mein Geburtstag
Kurz nachdem ich meinen letzten Rundbrief veröffentlicht habe, hatte ich am letzten Samstag im Oktober Geburtstag. An diesem Tag war dann auch meine erste offizielle Gruppenstunde in meinem Partnerstamm „Tunari“. Dort wurde ich nicht nur toll empfangen, sondern auch am Ende der Gruppenstunde mit lieben Worten willkommen geheißen, mit einer Torte beschenkt und mit den Traditionen zum Geburtstag vertraut gemacht. So wurde ich z.B. mit dem Kopf in die Torte getunkt, als ich ein Stück abbeißen sollte. Am Abend haben wir dann nochmal mit meinen besten Freunden ruhig den Geburtstag ausklingen lassen. Nach zwei Tagen Geburtstagfeiern ging es für uns morgens direkt zu der nächsten Aktivität…
Feria de Amistad und 400 Currywürste

… der „Feria de Amistad“ – Messe der Freundschaft. An dem Morgen wurden alle Stämme des Distrikts zum Nationalzentrum eingeladen, um die Messe der Freundschaft zu besuchen. Alle Gruppen, die einen Partnerstamm in Deutschland haben, hatten einen Stand aufgebaut mit Bildern von Begegnungsreisen und gemeinsamen Aktivitäten. Währenddessen haben einige Pfadfinder und ich das typisch deutsche Gericht „Currywurst und Pommes“ für über 400 Personen zubereitet. Wir haben mit den Kindern deutsche Spiele gespielt und so auch die Partnerschaften der anderen Stämme kennengelernt. Diese Aktivität hat mir gezeigt, mit wie viel Elan und Mühe die Pfadfinder hier die Partnerschaft schätzen und diese aufrecht halten.
Weihnachtszeit
Während in Deutschland schon der erste Schnee gefallen war und die Weihnachtsmärkte geöffnet hatten, habe ich vergeblich auf Weihnachten und die bolivianischen Traditionen gewartet. Weihnachten im Sommer war mir genauso fremd wie der fehlende Plätzchenduft im Haus oder der geliebte Advents-kalender. Natürlich war mir klar, dass es in Bolivien andere Traditionen gibt, aber so ganz konnte ich doch nicht auf meine heimischen Traditionen verzichten und habe meinen besten Freunden und mir sieben kleine Adventskalender gebastelt. Alle Traditionen aus Deutschland, wie der Adventskranz, Advents-kalender, Plätzchen backen, Nikolaus am 06.12. und das Schuhe vor die Türe stellen kennen die Bolivianer nicht. Allerdings werden die großen Plätze und die Geschäfte der Stadt ca. zwei Wochen vor Weihnachten in ein extrem buntes, fast schon übertriebenes Lichtermeer verwandelt (Foto oben). Außerdem stellen die Bolivianer ein paar Tage vor Weihnachten den Weihnachtsbaum, welcher aus Plastik ist, auf und schmücken ihn sehr bunt. Darunter wird die Krippe aufgestellt, aber ohne Christkind, denn dieses wird traditionell in der Nacht zum 25.12 um 00:00 Uhr in die Krippe gelegt. Hier beginnt Weihnachten erst so richtig am 24.12. gegen Abend und die Weihnachtszeit endet am 06.01. mit den „Los Reyes Magos“, den drei heiligen Königen. In der Vorweihnachtszeit gab es viele kleine Projekte der Pfadfinder und ich durfte bei einigen Pfadfindergruppen bei verschiedenen Projekten mithelfen. Zum Beispiel wurden Kinder der Kinderheime von Cochabamba für einen Tag ins Nationalzentrum der Scouts eingeladen oder mit anderen Gruppen verteilte ich in ärmeren Vierteln der Stadt ein Frühstück mit Kakao, Kleidung oder über 300 Kuscheltieren und es wurde mit den Kindern gespielt.
Weihnachten wird in Bolivien sehr familiär gefeiert und natürlich mit viel Essen. Ich wurde zu Weihnachten von meinem Chef Marcelo und seiner Familie eingeladen, die ich gut kenne, da fast alle in meinem Pfadfinderstamm aktiv sind oder waren. Es war sehr interessant, die Traditionen an Weihnachten in einem fremden Land kennenzulernen und dabei Teil des bolivianischen Weihnachtsfestes zu werden.
Sinn von Weihnachten?
Allerdings habe ich mich in diesem Jahr auch das erste Mal kritisch gegenüber Weihnachten gesehen. Natürlich ist dies meine persönliche Sichtweise, aber vielleicht regt diese ja den ein oder anderen zum Nachdenken an. Dazu ein paar Anstöße: Warum wird in einem Land, in dem es fast immer warm ist, Kunstschnee auf die Plastikbäume gelegt? Warum stehen keine bolivianischen Lamas in der Krippe und wieso sind die Krippenfiguren alle mit heller Hautfarbe? Warum verbiegt sich ein doch recht armes Land wie Bolivien an Weihnachten um 180° und nimmt sehr viel Geld in die Hand, nur um den „westlichen“, in dem Falle nördlichen, Traditionen nach zu ahmen? Wer hat das Bild von Weihnachten so konstruiert und warum muss die ganze Welt diesem Idealbild gerecht werden? Dies sind meine kleinen persönlichen Denkanstöße, die ich Euch gerne mit auf den Weg geben möchte.
Das Leben der Pfadfinder und ich
Wie ich schon berichtet habe, gibt es in meinem Projekt keinen geregelten Ablauf. Es gibt viele kleine Aktionen, wie das Friedenslicht, oder super große Aktionen, wie die großen Pfadfinderlager. Im Dezember sind wir jede Woche mit einer kleinen Gruppe für mehrere Tage nach „Arani“ gefahren, um den Nationalzeltplatz instand zu setzen und alles Mögliche zu reparieren für das große Lager. In dieser Zeit hatte ich kaum Zeit, da wir jeden Tag in dem Distriktzentrum, in dem ich wohne, für die Pfadfinderlager gearbeitet haben.
Pfadfinderlager
Nach Weihnachten ging es für mich direkt zum großen jährlichen Pfadfinderlager für den gesamten Distrikt auf den Nationalzeltplatz „Arani“. Unter dem Motto „Wikinger“ wurde für drei Tage mit über 600 Wikingern gekämpft, Schlachten gewonnen und verloren und am Abschlussabend ein großes Farbrauschfestival veranstaltet. Dieses Lager wird mir sehr gut in Erinnerung bleiben. Direkt am Abschlusstag ging es nach La Paz zum nächsten Lager. Mit der größten Delegation Boliviens von 240 Pfadfindern sind wir gemeinsam auf das Nationallager der Jungpfadfinderstufe gefahren. Leider wird mir diese Veranstaltung nicht so schnell aus Kopf und Magen verschwinden, dass liegt einerseits an der mangelhaften Organisation und andererseits am miserablen Essen. Aus gesundheitlichen Gründen musste ich dort drei Tage früher abreisen, was aber mit Blick auf das direkt folgende
Zwischenseminar auch sein Gutes hatte.
Pfadfinderlager „Tunari“ und mein Pfadfinderversprechen

In der letzten Woche vom Januar ging es für meinen Stamm und mich auf Lager nach „Luriumi“. Es ist ein kleiner, grüner Ort im Nationalpark „Tunari“ in dem wir für zwei Tage im strömenden Regen unser Lager verbrachten.
Abends haben einige Kinder und Leiter, unter anderem auch ich, am Lagerfeuer das Pfadfinderversprechen abgelegt. Ich habe mein Versprechen drei Tage vorher auf Spanisch auswendig gelernt und konnte es daher gut und flüssig aufsagen. Natürlich war ich während meines Versprechens super nervös, bin aber jetzt umso stolzer, es hinbekommen zu haben und fühle mich jetzt noch verbundener mit den bolivianischen Pfadfindern.
Regenzeit in Bolivien
In unserem Sommer – im Zeitraum von Dezember bis Februar – ist in Cochabamba Regenzeit. Die letzten Jahre gab es in dieser Zeit jedoch wenig Regen und die folgende Trockenzeit war dadurch lang und extrem trocken, was Waldbrände, Wassernotstände und Dürre hervorbrachte. In diesem Jahr aber gab es schon die ganze Zeit vereinzelte Regentage. Nun aber in der Regenzeit regnet es fast jeden Tag. An manchen Tagen sind die Regenfälle so heftig, dass Straßen in verschiedenen Regionen überschwemmt und durch Schlamm unpassierbar sind. Natürlich regnet es nicht durchgehend und es gibt auch Tage ohne Regen, aber wenn es regnet, dann stark. Als ich mein Weihnachtspaket mit einem Schal und Handschuhen darin geöffnet habe, musste ich kurz lachen, da ich vor Weihnachten eigentlich nur warmes Wetter hatte. Jetzt weiß ich, dass es nach einem starken Regenfall hier sehr schnell sehr stark abkühlt und dafür sind Schal und Handschuhe ein Segen. Leider bleibt es mir manchmal nicht erspart, auch in meinem Haus mit Regenjacke rumzulaufen. Wenn es stark regnet, halten dies die Regenrinnen oft nicht aus und es regnet ins Haus hinein. Mit Plastikwannen ausgestattet, versuchen wir das Haus dann möglichst trocken zu halten (Foto).
Unwetter und Unglück in Tiquipaya
In den letzten Tagen gab es in Bolivien eines der schwersten Unwetter seit Jahren. Besonders schwer hat es die Provinzstadt Tiquipaya getroffen, welche nur zehn Kilometer von Cochabamba entfernt am Berghang des Nationalparkes „Tunari“ liegt. Durch die starken Regenfälle wurden aus den sonst trockenen Kanälen oder Bächen reißende Ströme. Der normalerweise niedrige Bach „Rio Rocha“ ist auf über fünf Meter angestiegen und die halbausgetrockneten Seen füllen sich wieder gut mit Wasser. Eigentlich ist jeder Regen hier ein Segen für das Land, aber das starke Unwetter in der letzten Woche war leider kein normaler Regen. Er hat riesige Wasser- und Schlammmassen den Berg herunter gespült. Diese Menge konnte das Flussbett nicht aufnehmen und die Strömung hat mit ihrer zerstörerischen Kraft leider 36 Häuser mitgerissen und zerstört. Aber nicht nur Häuser wurden komplett zerstört, in anderen Straßen überschwemmte die mehr als zwei Meter hohe Schlammwelle alles (Foto!). In vielen Häusern ist das gesamte Erdgeschoss komplett mit Wasser und Schlamm
vollgelaufen, was diese Häuser unbewohnbar gemacht hat. Leider sind bei diesem Unwetter zehn Menschen und auch viele Tiere ums Leben gekommen und über 200 Familien haben alles verloren.
Hilfe für Tiquipaya

Wir, einige Pfadfinder und ich, saßen abends zusammen bei einem Treffen, als uns die Bilder und Berichte über Tiquipaya erreicht haben. Es wurde gar nicht überlegt, denn es war klar, dass die Pfadfinder helfen. Direkt wurden WhatsApp-Gruppen eröffnet und Pläne gemacht. Am nächsten Morgen haben wir im Distriktshaus ein Spendenzentrum errichtet. Viele Menschen kamen und haben Kleidung, Lebensmittel und Medikamente vorbeigebracht. Viele Pfadfinder waren aktiv und haben geholfen. Die Älteren, Stärkeren sind zur Unglücksstelle gefahren und haben mitgeholfen aufzuräumen. Mit den Jüngeren haben wir mehrere Tage im Distriktszentrum Kleidung sortiert und Spenden angenommen. Ich bin einfach nach wie vor sprachlos, was die Pfadfinder in Bolivien auf die Beine stellen. Sie helfen wo sie können und geben alles, um anderen zur Seite zu stehen. Ich habe größten Respekt davor, was die Pfadfinder hier leisten.
Halbzeit
Mir geht es nach wie vor sehr gut hier und bin super glücklich um jeden Tag, den ich hier leben und das alles erleben darf. Natürlich nagt auch der Zahn der Zeit an diesem Jahr. Die Rückflüge sind schon lange gebucht und mit meiner Nachfolgerin habe ich auch schon länger Kontakt. Dass ich nur noch sechs Monate hier habe, macht mir ein wenig Angst, da die Zeit schnell verfliegt. Deshalb genieße ich nun einfach jeden Tag noch viel mehr.
Ihr Lieben, ich hoffe, ihr konntet einen kleinen Überblick über meine letzten Monate bekommen und ich würde mich wieder über eure Rückmeldung, Fragen und Anregungen freuen, da hier vieles für mich inzwischen normal ist und ich vielleicht nicht daran denke, es zu erklären.
Einen lieben Gruß aus Bolivien
Eure Anne