Jordanien: 2.Rundbrief von Charlotte Kaspar

die Ruinen der römischen Provinzstadt Jerash

Liebe Leser,

nun ist schon fast die zweite Hälfte meines Freiwilligendienstes in Jordanien angebrochen. Seit meinem letzten Bericht hat sich einiges an meiner Arbeit verändert; ich habe Weihnachten und Silvester hier gefeiert; mehr vom Land Jordanien gesehen; mehr Facetten der Kultur kennengelernt; und und und….

Projekt

Bei meiner Arbeit im Kindergarten kann ich immer mehr mithelfen. Das liegt vor allem daran, dass ich immer mehr verstehen und sagen kann und die Abläufe besser kenne, aber auch daran, dass die Lehrerin mir sehr viel Vertrauen schenkt, sodass sie mich zum Beispiel nach ihrem Vorbild
auch mal alleine die Tafel bemalen und mit Buchstaben versehen lässt.

„Klassenfoto“ KG2; Eingang der Schule; Geschenkübergabe am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien

Seit ein paar Wochen sind allerdings große Ferien, sodass meine Arbeit sich hauptsächlich auf die Mädchen, die hier wohnen, und die Gemeindearbeit konzentriert.
Die zuständige Schwester der großen Mädchen hat gewechselt und seit kurzem ist noch eine zweite hinzugekommen. So ist es möglich, dass ich am Nachmittag auch mal mit einzelnen Mädchen etwas machen kann. Ich habe begonnen, einem Mädchen auf dem Sportplatz im Garten etwas Tennis beizubringen. Mit einem anderen übe ich ein bis zwei Mal pro Woche Piano. Mit dem ältesten Mädchen versuche ich jeden Tag eine Stunde spazieren zu gehen. Ansonsten helfe ich bei den Englischhausaufgaben oder wir spielen, basteln oder schauen gemeinsam einen Film an.

bei einem Ausflug auf eine Burg in der Nähe

 

Ich bin sehr glücklich, in dieses Projekt gekommen zu sein. Hier gibt es wahnsinnig viele Möglichkeiten, mich einzubringen und ich habe die Chance, viel aus unterschiedlichen Bereichen mitzubekommen. Beispielsweise ist vor kurzem ein acht Monate altes Baby in die Obhut der Schwestern gekommen. Es ist etwas völlig anderes, sich um ein Kleinkind zu kümmern als um die größeren Mädchen. Ich habe auch mitgeholfen, einen Kleiderbazar zu organisieren, der in der Vorweihnachtszeit stattgefunden hat.

die acht Monate alte Khuana ; vor und während dem Bazar

Allerdings ist es manchmal eine große Herausforderung, Arbeit und Freizeit zu trennen, da ich im Projekt wohne. Dadurch spielt sich das gesamte Alltagsleben an einem Ort ab und das Zusammenleben ist im Prinzip wie das einer großen Familie. Daher könnte ich oft nicht sagen, ob meine Tätigkeit jetzt als Aufgabe gezählt werden kann oder ob ich das jetzt für mich als Privatperson mache.
Die meiste Zeit schaffe ich es, die Balance zu finden, aber wenn es mir manchmal zu viel wird, weil ich gefühlt zum zweihundertsten Mal am Tag von einem der Kinder meinen Namen höre, gehe ich am Wochenende meine alte Zimmernachbarin und Freundin besuchen oder mache einen Ausflug mit anderen Freiwilligen.
Der große Vorteil hier im Projekt ist, dass ich nie alleine bin, was sich für mich mittlerweile zum Teil schon komisch anfühlt. Da die Kirche und ihre Einrichtungen als Treffpunkt und Ort für Veranstaltungen dienen, ist es nicht schwer, hier Anschluss zu finden.

kurz vor Sonnenuntergang am toten Meer; auf dem Kamel eines Beduinen in der Wüste Wadi Rum im Süden Jordaniens; Blick auf das Schatzhaus der Felsenstadt Petra

 

Weihnachtszeit und Silvester

Einige Tage vor Weihnachten begannen die Schulferien und für die meisten Kinder und Jugendlichen hier ging es nach Hause zu ihren Familien. Nur einige wenige blieben hier, da sie entweder nicht zu Verwandten gehen konnten oder für ihre Prüfungen Anfang des neuen Jahres lernen mussten.
In der Vorweihnachtszeit kam trotz vieler Weihnachtsbäume, einem Weihnachtskonzert des Chores und Besuchern, die den Kindern Geschenke mitbrachten, nur wenig Weihnachtsstimmung bei mir auf. Wahrscheinlich lag es auch am Wetter. Was leider nicht heißt, dass es hier im Winter warm ist. Dafür regnet es nicht selten, sodass überall dort, wo im Rest des Jahres trockener Boden ist, Gras wächst und alles grün wird. Auch am Weihnachtsabend hat es die ganze Nacht geregnet. Die Temperaturen sind bis jetzt aber noch nicht so tief gefallen, dass es hier geschneit hat. Das ist generell gar nicht so unwahrscheinlich, da Anjara sehr hoch liegt.
Wie schon angedeutet haben wir Heilig Abend in einer kleinen Runde gefeiert, was es sehr gemütlich und familiär gemacht hat. Die Schwester, die für das Essen verantwortlich ist, hat sich beim Abendessen mit drei Gängen besonders Mühe gegeben. Um 22 Uhr war dann die zweistündige Mitternachtsmesse, bei der fast die gesamte Gemeinde anwesend war und sich so gut wie jeder im Anschluss persönlich Frohe Weihnachten gewünscht hat.
Im Anschluss saßen wir gemeinsam bei Snacks und Getränken zusammen und es wurden Weihnachtslieder auf Arabisch, Spanisch und dann von mir auf mehrfache Nachfrage auch eines auf Deutsch gesungen.

mit einigen der Mädchen vor dem Weihnachtsbaum in ihrem Wohnzimmer; Weihnachtskonzert des Chores in der Kirche; der größte Weihnachtsbaum vor dem Schrein, wo auch die Weihnachtsmesse stattfand

Silvester habe ich gemeinsam mit einigen anderen deutschen Freiwilligen am Toten Meer verbracht. Selbst in der Hauptstadt Ammen gibt es kaum größere Ereignisse oder ein Feuerwerk. Der Jahreswechsel nach dem gregorianischen Kalender macht sich im Alltag kaum bemerkbar und ist eher wie ein ganz normaler Tag.

 

Kommunikation, schwierige Fragen, Sprachfortschritte

Anders als in Deutschland wo man die meisten Informationen verschriftlicht finden kann und Kommunikation meist vorausschauend und formalisiert stattfindet, ist es hier das persönliche Netzwerk, welches alle nötigen Informationen liefert. Egal was man benötigt, der persönliche Austausch ist meist der schnellste Weg, um an Informationen oder Hilfe zu bekommen.
Als Beispiel fällt mir das Busfahren ein: Für die lokalen Minibusse, die in ganz Jordanien unterwegs sind, und alle größeren Städte und Orte verbinden, gibt es keine Fährplane oder gar eine Internetseite. Befindet man sich an einem Busbahnhof und will von A nach B kommen, muss man einfach nur eine umstehende Person fragen. Diese muss nicht mal ein Busfahrer sein. Einmal gefragt fühlt sich die angesprochene Person für dich verantwortlich und führt dich entweder zum Bus und erklärt dir, wo du umsteigen musst. Oder wenn sie es selbst nicht weiß, fragt sie für dich so lange weiter, bis sie dir helfen kann.

Ab und zu fällt es mir allerdings aufgrund der arabischen Redensart doch noch schwer einzuschätzen, ob ich eine Aussage, eine Zusage oder eine Abmachung ernst nehmen soll oder ob es sich nur um höfliches, blumiges Gerede handelt, was ein Signal zur generellen Hilfsbereitschaft bzw. generellem Interesse sein kann.
In einem Gespräch wird das wichtigste oft erst nach einem Smalltalk besprochen. Und auch die indirekte Kommunikation ist extrem wichtig, denn vieles wird ungern direkt gesagt, sondern lieber höflich indirekt ausgedrückt. So kann die Frage: „Wollen Sie sich nicht an den Tisch dort drüben setzen? Dort ist es wesentlich schöner als hier.“ als eine Aufforderung verstanden werden, sich doch bitte nicht hier hinzusetzen. So passiert es mir manchmal, dass ich Dinge erst im Nachhinein verstehe, da ich – wie man so schön sagt – nicht zwischen den Zeilen gelesen habe.

Schon einige Male habe ich vor allem von jüngeren Leuten die Frage gestellt bekommen: „Warum bist du denn nach Jordanien gekommen? Was willst du denn hier?“.
Viele junge Jordanier haben den Wunsch im Ausland (arabische Nachbarstaaten, in Europa oder Amerika) zu studieren, zu arbeiten und sich dort ein anderes Leben aufzubauen, obwohl die Bildungsmöglichkeiten hier nicht schlecht sind.
Oder öfter wurde ich auch gefragt: „Und wo ist es besser? Hier oder in Deutschland?“. Wobei dabei die Wertung nicht zu überhören ist.
Es fällt mir nie leicht, auf diese Fragen zu antworten und dann meine Gedanken noch in einer anderen Sprache zu formulieren oder den Gegenüber gar zu überzeugen.
Klar scheint auf den ersten Blick bei uns einiges besser zu sein. Ja, vielleicht ist es bei uns auf den Straßen sauberer, mehr Leute haben Arbeit und Mädchen haben andere Freiheiten…
Aber was heißt schon besser oder schlechter? Es ist einfach anders. Jede Gesellschaft, jede Kultur, jedes Land hat gute und schlechte Seiten. Und das kann man nicht einfach mit einem Wort „besser oder schlechter“ verallgemeinern.
Als Beispiel fällt mir die Gemeinschaft ein, die vor allem durch die Familie repräsentiert wird. Diese hat hier einen ganz anderen Stellenwert als bei uns. Sicherlich kann die Dominanz der Familie einschränkend sein, wenn man aufgrund anderer Vorstellungen oder individueller Wünsche aneckt, und man sich gezwungen sieht, sich aufgrund des hohen Stellenwerts und der Abhängigkeit dem Willen der Familie unterzuordnen und dabei die eigenen Vorstellungen aufgibt.
Aber das soziale Netzwerk gibt vor allem Sicherheit und Geborgenheit, was in unseren individualisierten Gesellschaften heutzutage manchmal fehlt. So wird erst durch gegenseitige Unterstützung vieles möglich.

Ansonsten geht es mit dem Arabisch langsam aber sicher voran. Ich verstehe viel mehr als ich sagen kann. Was aber, glaube ich, normal ist beim Lernen einer Sprache ist. Ein weiterer Vorteil am Leben innerhalb des Projekts ist, dass ich von morgens bis abends Leute auf Arabisch sprechen höre. Trotzdem finde ich manchmal mehrere Tage hintereinander nicht die Motivation, mich hinzusetzen und Vokabeln zu lernen. Oder in meinem Kopf herrscht Chaos, weil ich mit den Schwestern weiter hauptsächlich auf Spanisch rede. Aber alleine nach dem Weg zu fragen oder etwas einzukaufen klappt mittlerweile gut.

 

Gastfreundschaft, Essen und Trinken

Gastfreundschaft hat in der arabischen Kultur bekanntlich eine lange Tradition. Seinen Gast zu umsorgen galt unter den Beduinen als heilige Pflicht, denn das konnte überlebensnotwendig sein, wenn diese selbst mal auf Gastfreundschaft angewiesen waren.
Wird man nach Hause eingeladen, bekommt man erstmal mehrmals zu hören „Willkommen! Willkommen! Willkommen! Das ist jetzt auch dein Haus, also fühl dich wie zu Hause!“. Das ist mir auch selten schwer gefallen, denn bevor man überhaupt etwas benötigt, hat der Gastgeber es dir schon drei Mal angeboten. Ist zum Beispiel der halber Teller leer, bekommt man direkt nachgefüllt, auch wenn man wiederholt, dass man mehr als satt ist. Die einzige Möglichkeit, nicht überredet zu werden, noch mehr zu essen, besteht darin, einige Reste auf dem Teller zu lassen.
Oft bin ich schon nach den Vorspeisen, die „Meze“ genannt werden, satt. „Humus“, „Foul“ (Bohnenpaste), „Mutabbal“ (Auberginen-Tahin-Creme), „Tabbouleh“ (Salat mit viel Petersilie), Olivenöl mit „Zatar“(Thymian-Gewürzmischung),… isst man meist mit Brot, welches das Besteck ersetzt.
Auch bei den Hauptgerichten habe ich als Vegetarierin selten Probleme, denn neben Fleisch gibt es immer Reis und/oder Salat. Dazu wird oft eine Joghurtsoße gegessen, die man zum Beispiel unter den Reis mischen kann. So auch beim Nationalgericht „Mansaf“, das zu besonderen Anlässen gekocht wird. Es besteht aus Safranreis, Lammkoteletts, der joghurtähnlichen Soße und Mandeln.
Die Süßspeisen mit reichlich Zucker darf man natürlich auch nicht vergessen. Neben Baklava (kleine Blätterteigteilchen in verschiedensten Ausführungen mit Nüssen und reichlich Zuckersirup) gibt es als Nachtisch oft „Knafeh“ (süßer Käse mit süßen, dünnen Fadennudeln überzogen und mit Pistazien garniert).
Schaut man mal spontan oder nur kurz bei jemandem zu Hause vorbei, bekommt man entweder den arabischen Kaffee oder Schwarztee, manchmal mit ein paar Blättern frischer Minze oder auch Salbei, serviert.

Eine weitere Sache, die mir hier sehr viel Freude bereitet, ist, wenn ganz spontan angefangen wird zu singen. Oft wenn die Kinder oder auch die Lehrerinnen zusammensitzen oder einen Ausflug machen und gemeinsam im Bus sitzen, wird selber gesungen statt Musik anzumachen. Dabei wird an die Tür, die Scheibe oder den Sitz getrommelt. Auch wenn ich vom Text nichts verstehe, stecken mich der Rhythmus und die Freunde immer an.

Knafeh wird verteilt; Nationalgericht Mansaf; beim Meze essen im Restaurant

 

 

 

Herzliche Grüße und bis bald,

Charlotte