Liebe Leser,
Erst einmal Entschuldigung dafür, dass ich für diesen Brief so ewig lange gebraucht habe. Mein Leben hier in der Ukraine ist erfrischender Weise immer noch nicht wirklich planbar und sehr spontan und da in den letzten Monaten so viel los war, habe ich es leider nicht früher geschafft. Manche von Euch konnte ich ja im Dezember treffen und ein bisschen was erzählen, hier jedenfalls nochmal eine grobe Zusammenfassung der letzten Monate:
Das Ende des letzten Jahres hat die Nikolaus-Aktion der Malteser größtenteils die Zeit eingenommen. Dabei bringen wir den Kindern in den umliegenden Internaten zum heiligen Nikolausfest (in der Ukraine ist die Bescherung bereits an diesem Tag, dem 19.12.) Geschenke. Der grobe Ablaufplan ist wie folgt: Die Kinder in den Internaten schreiben Wunschzettel, die dann über deren Lehrer im Büro gesammelt werden. Hier kann sich dann jeder, der Lust und Zeit hat, einen Brief abholen und dem Kind aus dem Wunschzettel ein Geschenk basteln. Die Geschenke, manche eher klein, manche so groß, dass wir zwei Leute und eine Leiter gebraucht haben, um sie ins Regal zu hiefen, werden dann ins Büro gebracht. Das große Highlight der Aktion ist die Übergabe in den Internaten, wo von den Malteser-Jugendlichen oder den Kindern selbst ein zum Thema passendes Stück aufgeführt wird, Lieder gesungen werden und der Nikolaus höchstpersönlich die Geschenke übergibt.
Für die Freiwilligen wie mich heißt das also: Flyer und Briefe falten und diese sortieren, Werbung und Spendendosen überall in der Stadt verteilen, Geld aus alten Spendendosen zählen, am Ende die fertigen Geschenke entgegennehmen, registrieren und gegebenenfalls noch verpacken und einen Großteil der Geschenke in Säcke oder Folie verpacken und in die Mateika, mein Wohnhaus transportieren, wo sie dann im Erdgeschoss auf die Fahrt in die Internate warten.

Die Aktion habe ich größtenteils in sehr schöner Erinnerung. Die schöne weihnachtliche Atmosphäre im Büro beispielsweise, oder das Zusammengehörigkeitsgefühl beim gemeinsamen Arbeiten werde ich so schnell nicht vergessen.
Auch die Briefe der Kinder waren sehr schön zu lesen, viele Kinder haben sich einfach Winterklamotten oder Buntstifte zum Malen gewünscht und als Überzeugungsargumente dafür noch besonderen Fleiß oder gute Schulnoten mitgeschickt.
Über jedes große und kleine Geschenk wurde sich gefreut, die Dankbarkeit konnten wir nach der Bescherung noch selbst mit ansehen, als die Kinder in den Klassenzimmern Ihre Geschenke ausgepackt haben und uns stolz neue Winterjacken, Fußbälle, oder Sportschuhe präsentiert haben und die Jungs Ihre Spielzeugautos durch unsere Beine sausen ließen.

Gleichzeitig wurde ich während der Übergabe in den Internaten etwas nachdenklich, bei den Kindern handelt es sich nämlich größtenteils um Waisen oder Halbwaisen. Obwohl von allen Seiten versucht wurde, das Fest so schön wie möglich zu gestalten, bleibt nach der Aktion der Fakt bestehen, dass so viele Kinder ohne Eltern und Zuhause aufwachsen müssen, was ich in dieser Deutlichkeit davor nicht vor Augen hatte.
Als die Geschenkübergabe noch in vollem Gange war, da die rund 20 Internate nicht alle an einem Tag angefahren werden konnten, verabschiedete ich mich schon nach Deutschland. Obwohl das Timing etwas unglücklich war, freute ich mich natürlich trotzdem auf zu Hause und hatte da über die Weihnachtstage eine sehr schöne Zeit mit Familie und Freuden.
Pünktlich zum Silvester-Abend war ich jedoch schon wieder zurück in Ivano. Ins neue Jahr habe ich hier zusammen mit meinem Mitfreiwilligen Simon, sowie ein paar ukrainischen Freunden gefeiert, klassisch ukrainisch mit ,,салат олів’є“ (,,Salat Olivier“, bestehend aus Kartoffeln, Fleischwurst, Erbsen, Möhren, Eiern, Gewürzgurken und sehr viel Mayonnaise).
Das war aber noch längst nicht der letzte Feiertag im Januar, der größte sollte noch folgen. In der Ukraine findet das Weihnachtsfest nämlich erst im neuen Jahr statt, beginnend mit dem Heiligabend am 06.01. An diesem wurden Simon und Ich netterweise von unserem guten Freund Maks nach Hause eingeladen und hatten so die Möglichkeit ein klassisch ukrainisches Weihnachten zu erleben. In der Ukraine gibt es am Weihnachtsabend traditionell 12 Speisen für die 12 Apostel. Ich habe natürlich versucht von allem etwas zu probieren, bin jedoch schnell an meine Grenzen gestoßen. Die wichtigste Speise davon ist wahrscheinlich die sehr leckere ,,кутя“ (,,Kutja“), eine Süßspeise aus Honig, Weizen, Nüssen, Mohn und Rosinen. Bevor wir später nach netten Gesprächen mit Maks Eltern und Großeltern, einem standesgemäßen ukrainischen Weihnachtsständchen und Gedichtvortrag und völlig vollgefressen zu unserem Freund Vova weiterzogen, wurde uns noch eine Ration Schokolade für den Rückweg in die Hand gedrückt, nur für den Fall quasi. Dort haben wir dann natürlich mit ihm und seiner Familie nochmal gegessen, diesmal mit meiner ukrainischen Lieblingsspeise ,,вареники“ (,,Vareneke“, grob vergleichbar mit Maultaschen) und ,,борщ“ (,,Borschtsch“, Gemüsesuppe mit sehr viel roter Beete). Später haben wir den gelungenen Abend dann mit einem Spaziergang durch das weihnachtliche Ivano-Frankivsk abgeschlossen.
Nach dem die Feierlichkeiten mehr oder weniger abgeschlossen waren, nutzten Simon und Ich die Zeit um ein bisschen zu reisen, da es bei den Maltesern im Januar traditionell eher ruhig zugeht. Bereits letztes Jahr hatten wir mehrmals die Möglichkeit die wunderschönen Karpaten kennenzulernen. Zuletzt etwa bei den Malteser-Besinnungstagen, bei denen unser Priester mit der Jugend über Religion und Glaube gesprochen hat und ein paar ukrainische Freunde mich am Vortag noch mit in die Natur genommen haben, oder bei einem mehrtätigen Trip in die bereits verschneiten Vorkarpaten, zusammen mit Kindern und Jugendlichen der Caritas.


Die erste Reise ging Mitte Januar auf einen spontanen Tagestripp nach Chernivtzi, einer Stadt unweit der rumänischen Grenze, um dort Simons verlorene Kopfhörer am Busbahnhof abzuholen. Vor Ort haben wir dann die Zeit bis zur Rückreise genutzt um uns die Altstadt und den jüdischen Friedhof anzuschauen.
Kurze Zeit später stand dann auch schon die erste größere Reise des neuen Jahres an, und zwar sollte sie nach Polen gehen. Dort haben wir knapp vier Nächte in Krakau übernachtet und uns sowohl Krakau selbst als auch das ehemalige KZ in Auschwitz angeschaut. Die Reise nach Polen, besonders die zwei Tage in Auschwitz, sind jedoch noch so frisch, dass ich meine Gedanken darüber noch nicht zu Ende sortiert habe. Von Auschwitz bleibt natürlich ein sehr mulmiges Gefühl zurück. Obwohl ich vor unserem Besuch schon vergleichsweise viel über das KZ wusste und von wenigen Informationen wirklich überrascht wurde, ist das Gefühl vor Ort ein sehr bedrückendes. Die Dimension des Ganzen ist bei mir auch knapp zwei Wochen danach noch nicht ganz angekommen, die Eindrücke schwirren mir immer noch relativ ungeordnet im Kopf rum.
In Krakau selbst haben wir dann den letzten Tag in der beeindruckenden Altstadt, der Burg und dem ehemaligen jüdischen Viertel verbracht und sind mit dem Zug in unsere neue Heimat zurückgefahren.
In den letzten Wochen habe ich dann wieder etwas in meinen Alltag zurückgefunden. Nach der Nikolaus-Aktion, dem Besuch in Deutschland, den Feierlichkeiten und den Reisen im Januar nehme ich die Beruhigung ganz gerne mit und versuche ein bisschen zu reflektieren, was passiert ist.
Dabei ist mir aufgefallen, dass ich mit den Gedanken schon viel mehr in der Ukraine bin als mir Bewusst war. Während mir Deutschland am Anfang noch sehr nahe vorkam und ich unterbewusst ständig Vergleiche zu meinem ,,alten“ Leben zog, kommt es mir jetzt wie eine völlig andere Welt vor. Irgendwann habe ich aufgehört гривня (,,Grivnja“, die Währung der Ukraine) in Euro umzurechnen, bei unserer Reise nach Polen war ich total überrascht von den (für deutsche Verhältnisse) völlig normalen Preisen in den Restaurants und Kneipen. Die ukrainische Spontanität, die ich am Anfang noch gewöhnungsbedürftig fand, finde ich mittlerweile teils angenehmer als die ewige deutsche Planerei und Nachrichten schreiben habe ich wie die meisten Ukrainer durch Anrufe ersetzt. Alltägliche Dinge waren bei meinem Besuch in Deutschland also auf einmal gar nicht mehr so alltäglich, weil sich dieser jetzt eben in der Ukraine abspielt und nicht mehr zu Hause. Aber allzu viel Zeit um in Gedanken zu versinken bleibt mir Gott sei Dank sowieso nicht, nächste Woche geht es schon wieder weiter, diesmal zum Zwischenseminar nach Rumänien!
Hoffe Euch geht’s auch gut, freue mich natürlich wieder über jede Antwort! Den Zeitpunkt des nächsten Rundbriefs lasse ich in weiser Voraussicht einfach mal offen.
Ganz viele Grüße aus dem verschneiten Ivano-Frankivsk,
David
