Vanakkam, liebe Freunde,
wie geht’s? Habt ihr gegessen?
So in etwa klingt hier eine normale Begrüßung – Essen ist der zentrale Teil des Lebens und wird mit Wohlbefinden gleichgesetzt. Hast du gegessen, geht’s dir gut; hast du Hunger, geht’s dir schlecht. Wenn’s dir also schlecht geht – iss! Und wenn dir was angeboten wird, iss einfach weiter, auch wenn du schon satt bist.
Das mag zwar zwanghaft klingen, fällt mir aber leicht, weil das Essen einfach unfassbar gut schmeckt und überwiegend pfanzlich und sehr leicht ist.
Ich bin nun seit fast drei Monaten im Friendly Home und freue mich, euch von meinem neuen Leben zu berichten.
Ich habe schon so viel gesehen, gegessen, gefühlt und erlebt, dass es mir schwer fällt, einfach das „Wichtigste“ zu erzählen. Daher gebe ich erstmal einen Überblick über mein neues Zuhause und beantworte die Fragen, die mir ähnlich auch vor der Abreise schon begegnet sind.
Wo lebe ich jetzt?
Ich wohne, arbeite und lebe in Alangayam, im Friendly Home. Alangayam ist ein großes Dorf im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu. Die Umgebung ist ländlich geprägt, die Großstädte Vaniyambadi und Vellore sind jedoch in guter Reichweite.
Das Friendly Home ist ein Kinderheim, das sozial unterprivilegierten Kindern (größtenteils Halbwaisen oder Waisen) eine Unterkunft und Zugang zu guter Bildung an der Schule nebenan bietet. Sowohl diese Schule, eine weitere in Vaniyambadi und das Friendly Home sind Teil des MSFS-Ordens (Missionaries of St. Francis de Sales) und werden dementsprechend von katholischen Fathers verwaltet und geleitet.
Wie läuft also mein Alltag ab?
Um 6 Uhr beginnt der Tag im Friendly Home, wenn die Kinder aufstehen, und ich bin spätestens um 8 Uhr, zum Frühstück, mit von der Partie. Um 9 beginnt die Schule.
Das betrifft auch mich – ich helfe sowohl in Alangayam als auch in Vaniyambadi in der Schule aus und stehe in meiner Deutsch-AG auch vor der Klasse. Eine sehr lehrreiche Erfahrung für mich, vermutlich weit lehrreicher als für die Kinder.. Es ist oft anstrengend, jedoch ebenso oft sehr bereichernd in den Momenten, in denen ich die SchülerInnen, diesen wuseligen, lauten Haufen vor mir, bändigen und erreichen kann. So lerne ich auch einmal die andere Seite meiner Erlebnisse aus der Mittelstufe kennen – das habe ich sicher verdient! Es tut mir leid, liebe Lehrer und Lehrerinnen von damals, ich entschuldige mich…
Während der Schulzeit erledige ich ansonsten kleine Büroaufgaben im Kinderheim, insbesondere für die Kommunikation mit dem Förderverein in Speicher (Eifel). Dieser hat die Gebäude des Friendly Homes größtenteils finanziert und vermittelt Patenschaften für die Kinder.
Zur Mittagszeit kommen die Kinder zum Mittagessen ins Friendly Home und ich bin bei ihnen, um das Essen auszuteilen und ihnen Gesellschaft zu leisten.
Nach der Schule steht zunächst Gartenarbeit an. Die Gemüsepflanzen werden gegossen und das Erscheinungsbild des Hofs wird gepflegt. Danach haben die Kinder Spielzeit, in der ich mit den älteren Volleyball trainiere.
Nachdem die Kinder gespielt haben, ist es für uns (die Fathers und mich) Zeit für Sport: Wir spielen Basketball, Volleyball, Tischtennis oder Badminton; falls die Spiele mal ausfallen, laufe ich auf dem Schulhof. Meine größte Sorge, mich nicht austoben zu können, bleibt also unbegründet. Ich mache hier tatsächlich mehr Sport als in Deutschland, insbesondere mehr Mannschaftssport, worüber ich sehr glücklich bin!
Um sieben Uhr gebe ich für die Kinder im Heim Englischunterricht oder Programm zur Allgemeinbildung. Danach esse ich entweder mit den Kindern oder mit den Fathers zu Abend und lasse anschließend den Abend mit den Kindern ausklingen.
Welche Sprache sprichst du dort?
Mit Englisch kann ich mich im Projekt mit fast allen verständigen. Da die Kinder gutes Englisch lernen sollen, bin ich dazu auch angehalten.
Das ist zwar in der Anfangszeit praktisch, ich finde es jedoch sehr schade, dass es mir dadurch erschwert wird, die eigentliche Umgangssprache – Tamil – zu lernen. Wer mich kennt, weiß, wieviel es mir bedeutet, die Sprache der Orte zu sprechen, die ich bereise. Hier bin ich durch das Englisch nicht gezwungen, die Sprache zu lernen, wodurch es umso mehr Disziplin meinerseits erfordert.
Indien, alleine – als Frau?
Gar kein Problem. Wirklich nicht.
Es ist erschreckend und beschämend, was für ein Bild wir in Europa uns von Indien erlauben, basierend auf Negativschlagzeilen. Hier, vor Ort, von so vielen liebevollen Männern und Frauen umgeben, macht es mich richtig wütend und traurig, dass Medien so selektiv funktionieren, wie sie funktionieren – und dass auch ich davor nicht gefeit war. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, mit meinen Berichten ein umfassenderes und ein der Wahrheit näheres Bild zu vermitteln.
Was die Sorge angeht, ich könne mich hier als Frau nicht sicher bewegen: Das Leben von Frau und Mann ist im öffentlichen Leben weitestgehend getrennt. Das heißt, Frauen und Männer sprechen nicht viel miteinander (nicht einmal Ehepartner zeigen Nähe) und im Bus beispielsweise sitzen Frauen eher vorne und Männer hinten. Zwischen Frauen und Männern gilt hier eine respektvolle Distanz. Ein aufdringliches Verhalten von fremden Männern, wie ich es teilweise in Europa erlebe, ist hier undenkbar.
Das Thema der Gleichberechtigung von Frauen und Männern wiederum ist ein anderes Thema, auf das ich vielleicht im nächsten Rundbrief näher eingehe. Für mich kann ich nur sagen, dass ich mit der Haltung einer europäischen Frau hier recht frei leben kann und die gleichen Rechte genieße wie Männer.
Was ich dennoch sichtbar anpasse, ist meine Kleidung. Ich trage Chudida, die übliche Kleidung der jungen Mädchen und Frauen. Dies ist ein langes Oberteil, zu dem man Leggins oder weite Hosen und ein Tuch über die Schultern trägt. Es ist zwar eine Einschränkung, weil es nicht mein authentischer Stil ist und mir nicht steht; dennoch trage ich es gerne, weil ich mich dadurch sichtbar auf die Kultur der Tamilen einlasse. Wenn ich dazu meine wenigen Brocken Tamil spreche, freuen sich die Menschen sehr über mein Interesse an ihrem Land und sind noch offener als ohnehin schon.
Wie kommst du mit dem Klima und anderen äußeren Umständen klar?
Das Klima ist momentan angenehm warm, weil Regenzeit ist. Fragt mich aber nochmal im Mai, wenn hier Sommer ist und die meiste Zeit Temperaturen über 40° C herrschen..
Ansonsten gefallen mir viele neue Gewohnheiten des Alltags hier sehr gut.
Anstatt nur zwei Monaten habe ich jetzt ein Jahr lang Flip-Flop-Saison, ich bin die ganze Zeit barfuß. Ein Traum! Die Slipper werden beim Betreten eines Hauses ausgezogen, so zum Beispiel auch in der Kirche.
Das Essen ist wie gesagt der Wahnsinn! Die Basis der meisten Gerichte sind Knoblauch und Zwiebeln (meine Grundnahrungsmittel), dann die scharfen, köstlichen Gewürze, die Gemüsesorten wie Brinjal, Bottleguard oder Ladiesfinger, die ich vorher noch nie gesehen habe, aber nicht mehr missen möchte; die vielen verschiedenen Reis- und Weizenmehlzubereitungen wie Idli, Chappatti, Dossai; das obligatorische Pfefferwasser nach dem Essen.. All das esse ich mit der Hand, und ich liebe es. Ich verstehe gar nicht mehr, warum man auf die Idee mit dem Besteck kam. Viel zu unnatürlich und kompliziert!
Ohnehin machen wir uns alles so kompliziert in Europa. Für alles haben wir irgendein Werkzeug oder Papier: Küchenrolle, Klopapier, Papiertaschentücher.. Hier nimmt man für alles seine Hand und Wasser. Ganz einfach! Und wahrscheinlich auch sauberer.
Indien scheint mir generell ein sehr reinliches Land zu sein. Wenn ich nachmittags noch das Gleiche trage wie morgens, fragen mich die Kinder besorgt, ob ich denn nicht geduscht habe. Die Frauen sind immer perfekt frisiert und gekleidet – wenn ich meine Locken ungekämmt als Zopf trage wie in Deutschland, wirkt es für indische Verhältnisse ungepflegt. „Let me comb you!“ sagen die Mädchen dann („Komm, ich kämm dich!“).
Geputzt wird hier gefühlt die ganze Zeit; nach jedem Essen fegen und wischen die Kinder den Raum – schließlich sitzen sie zum Essen auf dem Boden und der sollte dementsprechend sauber sein. Selbiges gilt in den Wohnhäusern der Kinder, zweimal am Tag greifen sie ganz selbstverständlich zu Besen und Wischmopp und putzen ihr Haus.
Auch außerhalb des Friendly Homes bekomme ich den Eindruck, dass Fegen eine der Lieblingsbeschäftigungen der Tamilen ist.
Alles in allem mache ich in meinem Lebensstil keine Abstriche – eher im Gegenteil. Jede Vereinfachung ist mir eine Bereicherung, aber ich lebe nicht in „einfachen“ Verhältnissen. Ich verbringe zwar viel Zeit mit der Handwäsche meiner Kleidung, aber das kann ich auch einfach unter „Sport“ verbuchen..
Und sonst so?
Der Kulturschock, vor dem ich in Bezug zu Indien mehrfach gewarnt worden war, ist bei der Ankunft gänzlich ausgeblieben. Das habe ich vor allem Lea, meiner Vorgängerin, zu verdanken. Lea und ich sind Freundinnen seit der Kindheit und es ist für uns beide ein wunderbarer Zufall, dass ich ihre Nachfolgerin wurde. Seit ich weiß, dass ich in ihr Projekt komme, hat sie mich an ihrem Freiwilligendienst teilnehmen lassen und mir viel erzählt. Die Eingewöhnungszeit, die ich hier an ihrer Seite verbracht habe, war also sehr einfach für mich. Ich bin Lea für diese Hilfe unglaublich dankbar und die drei Wochen, die wir hier zusammen erlebt haben, waren wunderschön.
Eine Art Kulturschock erlebe ich lediglich in der häufigen Reizüberflutung (Indien ist bunt, laut und voll) oder in der sehr anderen Wahrnehmung von Ästhetik. So ist der allgemeine Geschmack aus deutscher Sicht sehr kitschig und die favorisierte Lichtstimmung innerhalb von Gebäuden ist eher hell und kalt. Ich vermute einen Zusammenhang zur Hautfarbe: Hier gilt eine helle Haut als schöner, daher das weiße Licht. Es mag banal klingen, aber es sind Dinge wie diese, wegen derer ich mich fremd fühle.
Das Land an sich ist wiederum wunderschön mit all seinen bunten Häusern, den grünen Reisfeldern, Palmen und dem improvisierten Erscheinungsbild der Straßen, in denen sich kleine Läden und Stände aneinanderreihen, die alles verkaufen, was man so braucht: Obst, Gemüse, Mobilfunkverträge, Kosmetika, und und und.. Dann die Frauen in den schönen Saris und mit dem vielen Schmuck; die Männer sind entweder „westlich“ gekleidet, also in T-Shirt und Hose, oder sie tragen unter ihrem Hemd den hier typischen Wickelrock.
In das Getummel fügen sich Kühe, Ziegen, Schweine, Affen, Hunde, die ganz entspannt ihrer Wege gehen, während Busse, Autos, Mopeds, Roller, Fahrräder, Ochsenkarren und Piaggio-Autorikschas um sie herumkurven.
Ich kann mich nicht sattsehen an dieser „Ästhetik des Chaos“.
Was mich in diesem bunten Bild jedoch stört, ist der Müll. Indien hat ein riesiges Müllproblem, und plötzlich sehe ich, wieviel wir davon täglich produzieren. Er „verschwindet“ nicht einfach wie in Europa, sondern liegt überall. Zwar gibt es Plakate der Kampagne „Bin it, India“ („Wirf es in den Mülleimer, Indien!“), aber nirgendwo steht ein Bin. In der Schule z. B. wird der Müll abends gesammelt und verbrannt, dann hängt mir der Geruch von brennendem PET in der Nase, während ich mit den Fathers Basketball spiele und mich eigentlich nach frischer Luft für meine Lunge sehne.
Um meine Gesundheit mache ich mir deshalb jedoch keine Sorgen.
Ohnehin habe ich mir das hier schnellstens abgewöhnt, dieses „Sorgen machen“. Lea hatte zu mir gesagt: Indien zwingt dich, zu entspannen.
Das wurde mir gleich auf der ersten Autofahrt vom Flughafen bestätigt. Mein sehr ausgeprägtes, deutsches Gefahrenbewusstsein im Straßenverkehr habe ich innerhalb einer Minute über den Haufen geworfen und seitdem auch nicht reaktiviert.
Und ich stelle fest: Es gibt gar keinen Grund zur Sorge! Alles funktioniert irgendwie. Das für mich anarchisch wirkende Verkehrs-„System“ funktioniert reibungslos, auch wenn zunächst alles scheint wie kurz vor der Katastrophe. Auf den zweiten Blick verstehe ich, dass es durchaus Regeln gibt, alles beruht schlicht und einfach auf Kommunikation.
Trotzdem wird auch in vielen anderen Lebensbereichen sehr gelassen mit Gefahren umgegangen und ich empfand das erst als „fahrlässig“. Aus deutscher Sicht ist es einfach normal, dass jedes Risiko minimiert werden muss. In Deutschland möchte man die volle Kontrolle haben. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
Genau das ist glaube ich das Geheimnis der Lebensweise hier: Anstatt Kontrolle haben die Menschen Vertrauen.
Und so habe ich mich angepasst. Wenn ich von Dengue-Mücken zerstochen werde, Wasser trinke, von dem ich nicht weiß, ob es gefiltert ist oder ohne Helm seitwärts auf einem Moped sitzend über die Autobahn mitfahre blende ich die Zweifel ganz einfach aus.
Und das ist total befreiend!
Denn auch wenn wir es in Deutschland gerne so hätten: Wir können keine Gefahr ganz ausschließen. Indien hat mich gelehrt, dass das Leben sehr einfach ist, wenn man nicht immer Gewissheit haben möchte. Ich fühle mich in den Händen Gottes – dort ist es sehr entspannend.
Dieses Gefühl vermitteln mir die Menschen hier auch durch ihre Herzlichkeit und Hilfbereitschaft.
Ich habe bereits beim Straßenverkehr erwähnt, dass in Indien alles auf Kommunikation beruht – so ist es im gesamten öffentlichen Leben.
Man lebt mehr als Gemeinschaft. Ich habe vor einer Reise zum Beispiel nie irgendwelche Zweifel, weil ich weiß, dass ich mich jederzeit und überall an Menschen wenden kann. Im Bus ist zum Beispiel, zusätzlich zum Busfahrer, ein Conductor, der die Tickets ausstellt. Die Sorge, meine Haltestelle zu verpassen, ist überflüssig: Der Conductor wird mir Bescheid sagen und mich im Zweifelsfall auch wecken.
In Deutschland helfen wir uns, wenn es möglich ist; in Indien wird Helfen möglich gemacht.
Darum muss ich fast ein bisschen aufpassen, worum ich bitte, denn der Nebensatz „falls das möglich ist“ hat hier keine Wirkung. „Könnt ihr mich dort hinbringen? Also nur, wenn ihr ohnehin dort vorbeifahrt..“ In Deutschland heißt es dann: „Sorry, ich komme dort nicht vorbei…“ In Indien gibt es keinen Umweg, wenn man jemandem helfen kann: „Klar, ich bring dich hin!“
In Deutschland sagen wir in so einem Fall: Danke, ich bin dir was schuldig. Mit diesem Denken plagt mich hier oft ein schlechtes Gewissen.
In Indien hilft man jedoch gerne; nicht zu Helfen ist keine Option. Füreinander da sein ist so selbstverständlich, dass das Wort „Nandri“ (Danke) unter Freunden nicht wirklich benutzt wird – es kann sogar beleidigend sein, weil es Distanz herstellt.
Mit diesen Eindrücken möchte ich meinen ersten Rundbrief zum Abschluss bringen. Nicht, dass ich nicht noch mehr auf dem Herzen hätte, aber diese Themen vertage ich auf die nächsten Berichte. Dann werde ich auch von meinen Erlebnissen erzählen und nicht nur Allgemeines beschreiben.
Zu guter Letzt bleibt mir noch zu sagen, dass es keine Wahrheit gibt, von der nicht auch das Gegenteil wahr ist, das gilt insbesondere in Indien. Dieses Land ist stark von Kontrasten und Paradoxien geprägt, zu jeder meiner Aussage findet sich auch das Gegenteil. Daher ist es schwierig, diese Nation in Worte zu fassen, der in ihrer Vielfalt eher die Bezeichnung „Subkontinent“ gerecht wird. Indien ist zehnmal so groß wie Deutschland und hat mehr als 100 Sprachen – es ist, als würde ich von ganz Europa sprechen und Deutschland meinen, wenn ich von Tamil Nadu Aussagen über Indien wage.
Was ich jedoch mit Klarheit sagen kann, ist, dass ich sehr glücklich bin, hier zu sein.
Bis bald
Eure ஹெலனா
Für Bilder und weitere Informationen besucht gerne die Internetseiten des Kinderheims und des Fördervereins:
www.kinderpfade-indien.de
www.fiatfriendlyhome.com