Ukraine: 2. Rundbrief von Simon Klasen

Tja…

…und plötzlich sind acht Monate vergangen. Bereits zwei Drittel meines Freiwilligendienstes sind vorbei, ich habe einen harten Winter überstanden und frage mich, wo ich mental die ganze Zeit über war. Es ist unmöglich, meine Erlebnisse und meine Gefühlslage so gründlich zu beschreiben wie letztes Mal, da der Zeitraum einfach zu groß ist, aber ich will nun endlich wieder ein bisschen berichten. 

Bei mir ist alles gut
Das kann ich nur immer wieder und in aller Deutlichkeit betonen. Ich habe die Stadt und die Leute kennen und lieben gelernt und jeden Tag aufs Neue bin ich dankbar dafür, dass ich in diesem Projekt arbeiten darf, dass ich mich mittlerweile gut mit den Leuten verständigen und austauschen kann, dass auch die Leute in der Caritas anfangen, mich ins Herz zu schließen und dass ich eine so vielfältige Arbeit habe. Gleichzeitig bin ich froh über den Anschluss bei den Maltesern, über die guten Freunde, die wir dort dazugewonnen haben und die auch außerhalb der Aktionen gerne Sachen mit uns unternehmen.

Zu meinem Arbeitsalltag
Nach einiger Zeit in der Betreuung von Menschen mit Behinderung habe ich Igors Angebot wahrgenommen und einen Projektwechsel gemacht. In der Caritas ist es üblich, dass die deutschen Freiwilligen sich an mehreren verschiedenen Projekten beteiligen und alles ein bisschen kennenlernen können.

   Zum Feierteag: Ein Priester besucht Pani Halene

Meine nächste Arbeit war von November an also die Begleitung der Sozialhilfe in der Innenstadt. Zusammen mit Marika, einer Sozialhelferin, bin ich jeden Morgen in die Wohnung von Pani Halene (Pan = Herr, Pani = Frau; eine Anrede für ältere Leute in der Westukraine), einer bettlägerigen Frau gegangen und habe geholfen, sie sowohl hygienisch und gesundheitlich zu versorgen, als auch ihre Wohnung in Stand zu halten. Ein- bis zweimal die Woche sind wir anschließend in die Wohnung von Pani Merossja, einer Frau ohne Augenlicht gegangen, die bis auf das Fegen und Putzen wenig Hilfe bei der Bewältigung ihres Alltags braucht. Stattdessen stellt sie uns bis heute immer Kaffee und Essen bereit, wenn wir kommen und redet gerne und viel mit uns.
Diese Arbeit hat mir sehr gut getan, denn sie war eine Abwechslung zu den langen Tagen im Caritas-Gebäude. Ich konnte die Stadt besser kennen lernen (zum Beispiel das wunderschöne Rathaus im Zentrum, das auf dem Titelbild zu sehen ist)  und mein Ukrainisch hat sich im Alltag stetig verbessert, da ich nun ohne Igor an meiner Seite mehr darauf angewiesen war.

…und dann kam die Musik
Nachdem ich über das deutsche Weihnachten meine Freundin in Rumänien besucht hatte und ich bei meiner Rückkehr wegen Neujahr und dem ukrainischen Weihnachten ebenfalls einige Tage frei hatte, war meine Arbeit zu Anfang des Jahres wieder etwas undefiniert. Ich habe erneut viel Zeit in Igors Büro verbracht und wurde dadurch spontan einem Projekt der Kinderbetreuung und Familienhilfe zugeteilt: Dem Proben und Aufführen eines Krippenspiels. Im Gegensatz zu Deutschland beginnt in der Ukraine die Weihnachtszeit nämlich erst nach dem eigentlichen Fest am 06. Januar und dauert den ganzen Monat über an.

              Die Krippenspiel-Truppe, 3 Priester, ein Bischof und eine Gitarre

Bereits im Dezember konnte ich ein paar Erfahrungen damit sammeln, meine Gitarre zu bestimmten Anlässen mitzubringen und ein paar Stücke zum Besten zu geben. Auch wenn ich Spaß daran hatte, habe ich gemerkt, dass die englischen Stücke, die ich normalerweise spiele, hier nicht annähernd so bekannt sind wie in Deutschland. Sehr begeistert waren deswegen alle, als ich für den letzten Tag vor meinem Urlaub (19. Dezember, hier der Heilige Nikolaus-Tag) ein populäres ukrainisches Lied gelernt hatte und es alle mitsingen konnten.
Aufgrund dieser Vorerfahrung wurde ich also gefragt, ob ich mir die gesungenen Lieder des Krippenspiels nicht anhören könnte und diese mit ein paar Akkorden zu begleiten. Bei den Proben wurde mir dann spontan noch eine Rolle als König von Griechenland zugeteilt. Diese ganze Aktion hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich konnte die Musik in meine Arbeit einbringen und zudem lauter ukrainische Weihnachtslieder lernen, die auch zu anderen Anlässen immer wieder gerne gesungen wurden. Bis heute kommen gelegentlich Mitarbeiter auf mich zu und fragen mich, ob ich meine Gitarre mitbringen kann und dieses oder jenes Lied lernen will, was mich immens freut.
Das Krippenspiel wurde dann gleich an drei Tagen mehrmals aufgeführt, unter anderem beim Bischof und beim Bürgermeister der Stadt.

Seit Februar
Seit Februar habe ich wieder einen festen Arbeitsplan, der mittlerweile sehr abwechslungsreich ist.

David in der Armenküche der Caritas am Kohl schälen

Jeden Montag helfe ich zusammen mit David in der Armenküche der Caritas, die sich ebenfalls in der Innenstadt befindet und die ich vor Weihnachten schon ab und zu besucht habe. Unsere Aufgabenfelder bestehen hier aus Kartoffeln schälen, Rote Beete schälen, Kohl schälen […]. Am Ende jeder Schicht bekommen wir ein Mittagessen, ein Umstand an den ich mich schnell und gerne gewöhnt habe.

Die Dienstage verbringe ich nun wieder im Bürogebäude mit der Betreuung von Menschen mit Behinderung. Vor allem bei den morgendlichen Sportstunden soll ich hier mithelfen.
Jeden Mittwoch und Donnerstag gehe ich wieder in die Sozialhilfe und nach wie vor kümmern wir uns um die jeweiligen Wohnungen.
Zusätzlich fahre ich donnerstags noch in das Bürogebäude der Caritas und helfe bei der Nachmittagsbetreuung von Kindern aus sozial schwachen Familien. Diese Arbeit lässt sich bis jetzt am freiesten gestalten. Auch hier kam die Gitarre schon oft zum Einsatz.
Der Freitag ist schließlich ein relativ normaler Bürotag, an dem ich entweder Igor bei Übersetzungen ins Deutsche helfe oder das erledige, was bei mir so ansteht.
Es ist natürlich völlig utopisch, diesen Plan in allen Einzelheiten zu befolgen, da immer wieder etwas dazwischenkommt, aber es tut gut, einen Fahrplan für all die Sachen zu haben.

Der Winter ist vorbei
Mein letzter Rundbrief hat aufgehört, bevor der Winter angefangen hatte und der neue kommt jetzt, wo er vorbei ist. Ich glaube, das ist kein Zufall. Tatsächlich haben mir die kurzen Tage, die Kälte und die Länge dieser Zeit (die in Deutschland ähnlich war wie ich gehört habe) diesmal ziemlich aufs Gemüt geschlagen. Dazu kamen ein paar Sachen außerhalb meines Dienstes, die mich in regelmäßigen Abständen etwas herausgerissen und nachdenklich haben werden lassen. Ich habe mir größte Mühe gegeben, dadurch nicht meine Freude an meinem Umfeld und den Erlebnissen hier schmälern zu lassen, was aber leider nicht immer ganz geklappt hat. Mittlerweile hat sich allerdings einiges für mich geklärt und ich habe das Gefühl, langsam wieder aufzuwachen und mich vollends auf die restliche Zeit hier einlassen zu können. Auch das Zwischenseminar in Rumänien und der Besuch meiner Mutter und meiner Schwester vor zwei Wochen haben mir bei der Reflektion sehr geholfen und mir einige Anstöße in die richtige Richtung gegeben.

               Ein schöner Kontrast: Die Vulyzya Shevchenka im Winter und verschneit

Zwischen den Phasen der Grübeleien hatte aber auch der Winter hier einiges an tollen Eindrücken zu bieten. Zum Beispiel konnten wir dank einer Einladung von Maks, einem Freund aus der Malteser-Jugend, das ukrainische Weihnachten an Heiligabend (6. Januar) mit seiner Familie erleben. David und ich wurden vorher gebeten, ein Weihnachtslied und ein Gedicht zu lernen, die wir an dem Abend mehr schlecht als recht einige Male vorgetragen haben. Ganz traditionell gab es zum Abendessen zwölf Speisen ohne Fleisch (dafür mit Fisch), darunter bekannte ukrainische Nationalgerichte wie Borschtsch und Vareneke. Die wohl wichtigste Speise ist an diesem Abend Kutja, ein Brei aus aufgekochtem Weizen, Mohn und Honig. Nachdem wir alles probiert hatten, sind wir weiter zu Maks‘ bestem Freund und seiner Familie gezogen und sollten das Ganze dort wiederholen.
In den anschließenden Wochen folgte die „Koljada“, die Weihnachtsliederzeit, von der ich ja bereits erzählt habe. Nicht nur die Caritas zieht in dieser Zeit von Haus zu Haus, überall formieren sich Gruppen ähnlich den Sternsingern und tragen ihre Lieder und Gedichte vor.

Zuletzt werden auch Schneeballschlachten um Einiges aufgewertet, wenn man sie bei 30 cm Neuschnee spontan im Park veranstalten kann. Um ein Klischee aufzulösen, das vielleicht manche vom Winter in den östlichen Ländern haben: Hier war keine reine Eiszeit. Sowohl am deutschen als auch am ukrainischen Weihnachten waren es hier um die 10 Grad und regnerisch. Dafür gab es wie in Deutschland Ende Februar und Ende März nochmal Kälteeinbrüche, die hier mit -20 Grad und viel Schnee besonders heftig ausfielen. Genauso konsequent stand dafür zwei Wochen später der Frühling vor der Tür. Seit Ostern gehe ich nur noch in kurzer Hose und T-Shirt aus dem Haus.

Ansprüche zurückschrauben
Eine Sache, die ich hier sehr früh lernen musste war, meine Ansprüche vor allem an mich selbst zurückzuschrauben.
Ich bekomme es nicht hin, jeden Tag eine halbe Stunde oder Stunde Vokabeln zu lernen; ich bekomme es nicht hin, dreimal die Woche Sport zu machen; ich bekomme es nicht hin, Kontakt zu Leuten aus Deutschland zu halten, und ich bekomme es wohl doch nicht hin, alle zwei Monate einen Rundbrief zu verfassen. So schlimm das alles in der Anfangszeit für mich geklungen hätte, so unwichtiger wird es mit dem einkehrenden Alltag. Denn da sind andere Sachen, die für meine Zeit hier eine größere Rolle spielen, für die ich aber auch Bereitschaft und Spontanität zeigen muss. Ich bin sehr froh darüber, diese Erfahrung gemacht zu haben und mich mittlerweile öfter einfach treiben lassen zu können, ohne panisch an alles zu denken, was ich noch erledigen wollte.

In diesem Sinne freue ich mich nun auf eine sonnige Zeit voller weiterer Aktionen und Erlebnisse. Ich danke allen, die meine Briefe lesen und in Gedanken bei mir sind.
Bis bald,

…euer Simon

Etwas überrumpelt von der vielen Sonne blinzeln euch am ukrainischen Ostern entgegen: Simon, David (beide in Wyschywanka, ukrainischen Festtagshemden) und Maks

Über Simon Klasen

Hallo, mein Name ist Simon Klasen, ich bin 19 Jahre alt und ich habe mich entschieden, nach meinem Abitur einen Freiwilligendienst im Ausland zu machen. Ich habe mich schon zu Beginn des dreizehnten Schuljahres bei SoFiA beworben und bin nun nach langer Zeit der Vorbereitung in die Ukraine gereist, wo ich für die Caritas Ivano-Frankivsk arbeite. Ich versuche, hier über Rundbriefe regelmäßig von meinen Erfahrungen zu berichten. Viel Spaß beim Lesen!