Uganda: 4. Rundbrief von Lilli Baumhauer

Zeit und kleine Dinge

Seit meinem letzten Rundbrief vor mehr als zwei Monaten hat sich einiges verändert und glücklicherweise größtenteils zum Positiven. Eigentlich hätte ich schon längst Zeit gehabt diesen Bericht zu schreiben, aber andere Dinge waren mir ehrlich gesagt einfach wichtiger. Anstatt vor dem Bildschirm meines Laptops zu sitzen, wollte ich lieber draußen sein und so viel mehr tun. Nun nehme ich mir aber mal die Zeit und möchte gleich loslegen. Anfangen möchte ich dort, wo ich letztes Mal aufgehört habe: Mit dem Ende der Schulferien und somit meiner Reise nach Jinja zu einem Seminar für Freiwillige verschiedener Entsendeorganisationen, die zurzeit in Uganda, Ruanda und Sambia leben. Auf dem Weg zu dem Konvent, in dem das sogenannte Zwischenseminar eine Woche lang abgehalten wurde, ging es für mich mit einer neuen Gruppe Patienten nach CoRSU (das Krankenhaus bei Kampala, in das ich hin und wieder Patienten begleite), wo alles, so wie immer, erfolgreich verlief.

Und auf der Hinfahrt ist noch etwas anderes geschehen, das ein schönes Sinnbild  für eine der Lektionen hergibt, die ich hier in Uganda gelernt habe. Der Bus, mit dem wir nach Kampala fahren wollten, war bereits beinahe ausgebucht, als spontan eine weitere Patientin mit ihrer Mutter zu unserer Gruppe stieß. Wir benötigten also zwei weitere Tickets. Im Bus jedoch war nur noch ein Platz frei… Während ich alle möglichen Optionen durchging und keine wirklich zufriedenstellende Lösung fand, geschah ein kleines Wunder. Ein Mann trat an den Tisch des Busunternehmens und wollte sein Ticket zurückgeben, da er doch nicht nach Kampala fahren konnte. Somit wurde also doch noch ein weiterer Platz im Bus frei und zwar genau der Platz, den wir benötigten. Eine halbe Stunde vor Abfahrt des Busses wendete sich also doch noch alles zum Guten.

Jinja und Reisen

Nach dieser Fahrt ging es also nach Jinja zum Zwischenseminar. Trotz anfänglicher Bedenken war die Zeit wirklich sehr schön. Die anderen Freiwilligen waren supernett und wir haben uns echt gut miteinander verstanden. Als wir alle über unser erstes halbes Jahr erzählen sollten, wurde mir noch einmal richtig bewusst, wie gut es mir hier geht. Ich konnte den ganzen Tag nicht mehr aufhören zu lächeln. Fühlte mich wie neu beflügelt und frisch motiviert.

An der Quelle des Nils in Jinja

Nach dem Zwischenseminar tat ich dann das erste Mal etwas, das man als Reisen bezeichnen könnte. Bevor ich nach Uganda geflogen bin, hatte ich ganz klar auch das Ziel möglich viel von dem ganzen Land zu sehen und zu reisen.

Einer der drei Sipi Falls bei Mbale

Aber seit ich hier bin, ist dieser Plan immer mehr in den Hintergrund gerückt, weil andere Dinge einfach wichtiger geworden sind und ich mich im Hinterkopf ehrlich gesagt auch immer etwas schlecht fühle, wenn ich etwas „Touristisches“ unternehme, da ich eigentlich Teil der Gemeinschaft sein möchte, aber mir andererseits das Privileg herausnehme, zu reisen und vergleichsweise viel Geld auszugeben. Das ist vielleicht etwas schwer zu verstehen, da ich es selbst auch nicht richtig in Worte fassen kann, aber es schwingt bei diesem Thema immer unterbewusst in mir mit. Aber nun zurück zu der Reise. Nach dem Seminar ging es mit einigen anderen Freiwilligen nach Kampala, wo wir einige Tage lang gemeinsam durch die Stadt liefen und etwas entspannten. Wohnen konnten wir dort glücklicherweise bei einem anderen Freiwilligen. Auf der Rückfahrt nach Ococia konnte ich dann noch die Sipi Falls besuchen, die wirklich beeindruckend aussehen und für eine Nacht in Mbale übernachten. Trotz der schönen Orte, die ich gesehen habe und der wunderbaren Momente, die ich erleben durfte, war ich sehr froh wieder in Ococia zu sein. Endlich konnte ich den Spruch „Zuhause ist es doch noch am schönsten“ auch mal nachvollziehen!

Primary School and Nursery

Zurück in Ococia ging das Leben erst einmal wie gewohnt weiter und ich lebte mich schnell in meinem neu gefundenen Alltag ein. Mittlerweile gehe ich nicht mehr jeden Tag der Woche ins Health Center, da ich ein bis zwei Vormittage wöchentlich die Nursery School besuche. Dort spiele ich mit den Kindern und helfe ein wenig im Unterricht aus. Doch es fällt mir dort nicht immer leicht. Ich finde es besonders bei so kleinen Kindern schwer zu ertragen, wenn sie mit einem, wenn auch nur kleinen, Ast geschlagen werden oder bei einer falschen Antwort im Unterricht beinahe beleidigt werden. In solchen Momenten ist es für mich nicht einfach, besonders da die Erzieherinnen so überzeugt von ihren Methoden und dem meiner Meinung nach nicht ganz kindgerechten Unterricht sind. Aber ich möchte mir auch nicht das Recht herausnehmen die Erzieherinnen vor allen Kindern in solchen Momenten bloßzustellen und „zurechtzuweisen“. Was mir bleibt, sind Gespräche während die Kinder nicht in der Nähe sind und freundliche Hilfestellungen im Unterricht sowie motivierende Worte für die Kinder. So kann ich wenigsten nachmittags mit dem Gefühl nach Hause gehen, einen kleinen, aber feinen Unterschied im Nursery-Alltag der Kinder gemacht zu haben, ohne mich aufzuspielen oder jemand anderen für sein Verhalten zu kritisieren.

Eine ähnliche Methode, um mit den Disziplinarmaßnahmen umzugehen, verwende ich auch in der Primary School. Ich weiß, dass einige Lehrer dort die Schüler schlagen, dies meist auch vor der ganzen Klasse. Für mich kein schöner Anblick, aber für viele Lehrer ein effektiver Weg die großen Schulklassen in Schach zu halten. In meinem Unterricht schlage ich die Kinder nicht und dennoch sind sie glücklicherweise meist aufmerksam und ruhig. Mittlerweile sprechen mich sogar teilweise Lehrer und Lehrerinnen darauf an, wie ich die Kinder denn „unter Kontrolle halte“ und so können Gespräche entstehen in denen ich ganz ohne andere Methoden scharf zu verurteilen meinen Standpunkt ausdrücken kann und vielleicht auch ein Nachdenken anrege. Obwohl ich das Schlagen von Kindern auf keinen Fall respektiere, habe ich mich entschlossen, es hier in einem kleinen Maße zu akzeptieren und nicht jedes Mal dazwischen zugehen. Denn ich kann mir vorstellen, wie blöd es sich für die Lehrer und Lehrerinnen anfühlen muss, wenn ein 18-jähriges, unausgebildetes Mädchen aus einem anderen Land (das ohnehin schon als privilegiert gilt) auf sie zukommt und erklärt wie falsch und unmoralisch die Erziehungsmethoden sind, die man schon seit Jahren anwendet und in seiner Ausbildung ans Herz gelegt bekommen hat.

Aber was mache ich eigentlich in der Primary School? Mittlerweile gehe ich jeden Nachmittag in die Schule, da ich gemeinsam mit einer Lehrerin ein „Reading and Writing“ Projekt gestartet habe. Jeden Nachmittag üben wir mit den Schülern der P4, also der vierten Klasse, lesen und schreiben. Dafür haben wir den Jahrgang in zwei Gruppen aufgeteilt: einerseits Schüler, die schon ganze Sätze lesen können und andererseits Schüler, die entweder nur einzelne Worte lesen/buchstabieren können oder gar Probleme mit dem Alphabet haben. Obwohl die Kinder eigentlich schon ab P3 in der Lage sein sollten, kurze Texte zu lesen, stellte sich nach einem Test heraus, dass die Mehrheit der Schüler in P4 noch gar nicht oder nur sehr einfache Worte lesen können. Ich unterrichte zurzeit die Gruppe, die noch nicht lesen kann. Dies bedeutet momentan 110 Schüler (5 Kinder konnte ich nach einiger Zeit in die andere Gruppe schicken). Und ja, die Klasse ist riesig, das heißt, ich kann nicht wirklich einen „innovativen“ Unterricht gestalten, aber ich war selbst überrascht, wie effektiv man den Unterricht trotz der hohen Schülerzahl ausfüllen kann. Abends verlasse ich die Schule jedes Mal überglücklich, da mich das Unterrichten so erfüllt. Und ich sehe tatsächlich Fortschritte. Mittlerweile sind die Kinder nicht mehr so zurückhaltend und beteiligen sich am Unterricht. Die meisten haben auch keine Angst mehr Fehler zu machen, versuchen ihr Bestes und sprechen lauter. Dennoch fand ich es zu Beginn unglaublich und in gewisser Weise schockierend, 10, 12 und sogar 14 jährige vor mir sitzen zu haben, die keinen blassen Schimmer haben, was ich gerade an die Tafel schreibe. Und ich weiß, dass es auch in den höheren Klassen bei vielen Kindern nicht anders aussieht.

Mir ist aufgefallen, dass ich in der Schule noch keine Bilder gemacht habe, deshalb hier zumindest ein Bild vom Erdnüsse schälen zu Hause…

Vor einigen Wochen war ich dann auch eine Woche in der kleinen Schule meiner Mentorin Truus, in der Kinder unterrichtet werden, die aufgrund von geistigen Beeinträchtigungen etwas mehr Aufmerksamkeit und Hilfe im Unterricht benötigen. Da ein Lehrer ausfiel und mein Mitfreiwilliger Michi, der sonst immer auf die Kinder aufpasst und mit ihnen spielt, auf Reisen war, sprang ich dort spontan ein. Ich übernahm also den Unterricht der Fächer Mathematik, Social Studies und Englisch. Ein unglaublicher Kontrast zu den Klassen in der Primary School. Vor mir saßen nicht über hundert, sondern nur 11 Kinder, die alle ganz unterschiedliche Fähigkeiten in den einzelnen Fächern haben. Während einige bereits schreiben und erzählen können, lernen andere noch sprechen. Von der Lehrerin dort konnte ich unglaublich viel lernen und wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass unterrichten total mein Ding ist. Und da die Klasse so klein ist, konnten wir auch während des Unterrichts Spiele spielen und Lieder singen. Eine weitere Veränderung entstand dadurch, dass ich auf Ateso unterrichten musste und mir wurde bewusst, dass ich die Sprache zwar bei Weitem noch nicht gut beherrsche, aber dass es reicht, eine kurze Geschichte zu erzählen, Kinder zu unterrichten, Small Talk zu halten sowie wichtige Dinge zu kommunizieren. Es geht also Schritt für Schritt voran mit meinen Sprachkenntnissen. Ich bewundere wirklich, wie die Lehrer und Erzieher in dieser Schule den Kindern helfen, das Beste aus sich herauszuholen und sie fördern, wo es nur geht.

Women’s Day und Ostern

Zu Besuch bei einer Freundin an Ostern

Doch nun genug von meinen Ambitionen während meiner Zeit in Uganda eine gute Lehrerin zu sein. Auch in den letzten Monaten gab es natürlich wieder Feierlichkeiten. Zunächst am 8. März den Weltfrauentag, der in Deutschland ja leider nicht wirklich beachtet wird. Hier kochten die männlichen Mitarbeiter des Health Centers das Abendessen für die Frauen und organisierten eine Party, bei der natürlich wieder stundenlang getanzt wurde. Tagsüber spielten die Krankenschwestern ein Fußballspiel gegen die Schülerinnen der Secondary School. Auch das, eine wirklich schöne Idee, da sonst eher selten Frauen auf dem Fußballplatz zu finden sind…

Aber nun zu der großen Feierlichkeit, die im März stattfand: Ostern. Die Fastenzeit habe ich dieses Jahr wirklich sehr intensiv wahrgenommen, da ich einerseits beinahe jeden Tag die Messe besuchte und andererseits um mich herum ständig Leute zählten, wie viele Tage es noch bis zur Kreuzigung und Auferstehung Jesu waren. In meinem bisherigen Leben habe ich noch nie so richtig Ostern gefeiert und hatte ehrlich gesagt auch keine hundertprozentige Ahnung von den Feiertagen, die auf Ostern hinführen. So habe ich zum Beispiel das erste Mal Palmsonntag miterlebt. An diesem Tag war die Kirche so voll, dass ich von draußen zuhören musste, was bei der stickigen Luft in der Kirche an diesem Tag vielleicht auch gar nicht so schlecht war. Dann kam der Tag, an dem das heilige Sakrament von der Kirche in die Kapelle des Konvents verlagert wurde und den ganzen Abend „Adorations“ abgehalten wurden (vielleicht kann sich ja noch jemand an meine Erzählungen von den „Adorations“ während der Youth Conference im Dezember erinnern). Da dies nicht meine erste „Adoration“ war, war ich bereits an das Weinen und Geschrei gewöhnt und konnte mich ganz auf die schöne Atmosphäre konzentrieren. In der Messe erwartete mich dann eine weitere Neuheit. Der Pfarrer wusch 12 Gemeindemitgliedern die Füße in Anlehnung an das letzte Abendmahl in der Bibel. Bisher habe ich auch noch nicht die Nachtmesse anlässlich der Auferstehung Jesu miterlebt und war deshalb verwundert und überwältigt von den Freudenschreien und dem Tanzen in der Kirche. Ostersonntag dann war die größte (und längste?) Messe, die ich hier bisher erlebt habe. Wieder standen unzählige Menschen vor der Kirche, aber ich konnte diesmal einen Sitzplatz ergattern. Während der Messe wurde eine Hochzeit abgehalten, für die unzählige Menschen in extravaganten Kleidern anreisten… Aber das war für mich gar nicht das Highlight des Tages, obwohl ich Trauungen mittlerweile sogar doch etwas abgewinnen kann. Das Schönste an Ostern war für mich auch nicht die große Feier am Ostermontag, sondern das harmonische Zusammensein im Konvent. Nach der Messe am Sonntag saßen wir alle beisammen, haben gekocht und Musik gehört. An sich nicht spannend, aber für mich ein perfekter Tag.

Zeit und Abschied

Nächtliche Aktivität mit den Sisters: Ameisen fangen

Nun noch ein kleiner Einblick in meine Gedanken. Der März war für mich gefühlstechnisch nicht ganz einfach und auch das erste Mal, dass ich nicht rundum glücklich war. Mittlerweile ist alles wieder gut und ich glaube, mir geht es sogar noch besser als zuvor, aber zu diesem Zeitpunkt kamen einfach viele Dinge zusammen. Ich möchte jetzt gar nicht alles näher erläutern, aber es ereigneten sich Dinge, die mir zeigten, wie sehr mir viele Menschen ans Herz gewachsen sind und wie kostbar Zeit ist. Zum Beispiel lief eines der Mädchen aus dem Konvent weg, was für mich nicht einfach zu verstehen war, da ich sie mittlerweile wirklich wie eine Schwester gesehen habe… Besonders die Wochen, in denen wir nicht wussten, wo sie ist und wie es ihr geht, haben mich tatsächlich belastet. Vielleicht etwas irrational, aber an meinen Gefühlen kann ich nunmal nichts ändern. Wir haben sie zwar immer noch nicht wiedergesehen, aber nun wissen wir, dass sie in Kampala gefunden wurde und dort in einem Kinderheim untergebracht ist. Also alles gut und nächstes Mal, wenn ich nach Kampala fahre, werde ich sie dort abholen.

Und ja noch etwas anderes, womit ich nie gerechnet hätte, ist geschehen. Eine Bekannte, beziehungsweise Freundin von mir, ist gestorben. Ich war bisher noch nicht auf vielen Beerdigungen und vor allem ist in meinem Umfeld noch nie ein so junger Mensch gestorben. Sie war 18 Jahre alt, also eigentlich zu jung zum Sterben. Und ja, im Health Center sterben oft Menschen, aber es ist eben doch noch einmal ein Unterschied, ob man eine Person persönlich kennt oder nicht…

Aber warum erzähle ich das jetzt eigentlich? Mir ist klar geworden, wie schwer Abschied ist und wie schwer mir wahrscheinlich der Abschied von Ococia im August fallen wird. Ich habe noch immer über 100 Tage vor mir und doch stelle ich mir die Frage „was kommt danach“? Wie soll ich im August ins Flugzeug steigen, wenn ich hier so zu Hause und glücklich bin? Das Leben hier schenkt mir einfach so unglaublich viel… Ich denke, für Viele ergibt was ich hier schreibe gerade keinen Sinn. Ich soll doch einfach die verbleibende Zeit genießen. Und das tue ich auch. Ich genieße es, in die Schule zu gehen, durch Sonnenschein und Regen zu laufen, den Mangos beim Reifen zuzusehen und im Garten zu stehen, Nüsse und Bohnen zu pflanzen, Maniok zu schälen, zu tanzen und frei zu sein. Leute auf dem Fahrrad herumzukutschieren, Gespräche zu führen, die Natur zu beobachten, mit den Secondary School-Schülerinnen Nüsse zu schälen und pure Erfüllung zu verspüren. Meine Tage setzen sich zusammen aus vielen schönen Momenten, sie ähneln sich zwar und doch sind so unglaublich verschieden. Ich trage keine Uhr mit mir herum und verliere irgendwie mein Zeitgefühl. Stehe auf und schon ist der Tag wieder vorbei. Und das ist, worauf ich aufpassen muss. Die verbleibende Zeit nutzen und nicht erst im letzten Moment zu bemerken, wie viel ich doch eigentlich noch tun und erleben wollte. Nächste Woche stehen wieder Schulferien an und für diese Zeit ist neben viel Raum für die spontanen Momente auch tatsächlich viel geplant. Davon jedoch in meinem nächsten Rundbrief mehr!

Viele Grüße,

Damit man auch mal mein Gesicht sieht: Ich beim Essen eines brother hearts (Obst)

 

 

 

 

 

 

Lilli