Hallo zusammen aus Jordanien!
Höchste Zeit euch mal wieder auf den aktuellen Stand zu bringen.
Die letzten Monate waren wieder sehr ereignisreich und es gibt einiges, von dem ich gerne erzählen möchte.
Wohn- und Arbeitssituation im Projekt
Anfang Februar habe ich das Wohnhaus der Mädchen verlassen. Das hat damit zu tun gehabt, dass die Schwestern die Zuständigkeit gewechselt haben, Umbauarbeiten im Haus begonnen wurden und eben einiges umstrukturierte wurde, sodass ich auch mein Zimmer wechseln musste. Aufgrund von Platzmangel bin ich zwischenzeitlich mit einer italienischen und einer französischen Freiwilligen, die für einen Monat in Anjara waren, außerhalb des Geländes in der Unterwohnung einer Familie aus der Gemeinde untergekommen, die aber nur ganze drei Gehminuten vom Kirchengelände entfernt war. Das Wohnen außerhalb habe ich positiv in Erinnerung, da Wohnen und Arbeiten klar voneinander getrennt waren. Gleichzeitig habe ich aber auch das Wohnen und intensive Arbeiten mit den Mädchen vermisst. Nach circa drei Wochen habe ich dann wieder ein anderes, eigenes Zimmer mit Bad innerhalb des Geländes bekommen, welches beim Garten liegt und zu keinem der drei Wohnhäuser gehört.
Gearbeitet und gegessen habe ich für eine kurze Zeit mit den Kinder bis zu 12 Jahre, bis ich dann schließlich im Haus der Jungs, für die die Priester verantwortlich sind, mitgeholfen habe. Das hört sich vielleicht nach viel Hin und Her an, aber der Alltag in den Häusern ist ähnlich strukturiert, auch wenn jedes seinen ganz eigenen Rhythmus hat und mit der Zeit bin ich hier schon wesentlich flexibler geworden. Andererseits ist es auch schade, ein Haus dann wieder zu verlassen, denn mit jedem Tag gewöhnen sich die Kinder und Jugendlichen mehr an mich und auch ich nehme meinen Platz Stück für Stück ein und zudem spielt man sich mit den Schwestern und andern Freiwilligen als Team und als kleine Familie ein.
Bis zuletzt war ich also bei den Jungs, die insgesamt sieben sind, wobei ich praktisch nur nach den fünf jüngeren im Alter zwischen neun und vierzehn Jahren geschaut habe. Das heißt, wir haben gemeinsam gegessen, gelernt, die Hausaufgaben und die Hausarbeit erledigt, Spiele gemacht und gemeinsame Sachen unternommen, Streitigkeiten geschlichtet und einander zugehört…
Auffällig ist, dass die Jungen wesentlich lockerer erzogen werden als die Mädchen. Nicht nur, weil die Priester neben ihren anderen Tätigkeiten weniger Zeit haben, um ununterbrochen ein Auge auf die Jungen zu werfen, sondern auch, weil es im Gegensatz zu den Mädchen (die alle älter sind!!) kein Problem ist, wenn sie mal kurz vor die Tür gehen.
Für mich hatte es sich bis jetzt nie komisch angefühlt, dass ich als Mädchen im Haus der Jungen mithelfe. Ich glaube auch, dass die Jungs mich ehr als eine Art große Schwester wahrnehmen, die sie nach der Schule zum Mittagessen empfängt und sie dran erinnert, die Hände vor dem Essen zu waschen und die blöderweise ruft, wenn es Zeit ist, die Hausaufgabe zu machen und gemeinsam Englisch zu lernen. Außerdem halte ich mich auch nur in dem Teil des Hauses auf, der auch für jeden der Gemeinde zugänglich ist und immer offen steht.

Geschlechterrollen
Das Thema Geschlechterrollen ist ein Thema, über das ich bei der Arbeit im Haus der Jungen öfter nachgedacht habe und an dem man in Jordanien nicht vorbeikommt. Deshalb möchte ich es nun in diesem Rundbrief ansprechen. Auf der einen Seite habe ich mich schon daran gewöhnt, dass ich hier in einer noch sehr traditionellen, patriarchalisch geprägten Gesellschaft mit klar definierten Geschlechterrollen lebe. Wenn ich beispielsweise in einen öffentlichen Bus einsteige, dann setze ich mich ohne groß darüber nachzudenken automatisch neben eine Frau, auch wenn das manchmal bedeutet, dass andere ihre Plätze wechseln müssen, bis es eben aufgeht.
Auf der anderen Seite vergesse ich doch manchmal, wie sehr das öffentliche und private Alltagsleben von sozialen Regeln geprägt ist. Wenn ich zum Beispiel in den nächsten Supermarkt gehen will und mir jeder entgegnet: „Du kannst doch hier in Anjara nicht alleine auf die Straße gehen! Lass dich von einem Jungen begleiten, oder sag‘ mir was du willst, ich besorge es dir.“
Ohne solche Kommentare hätte ich überhaupt kein komisches Gefühl, hier alleine in einen Supermarkt zu gehen. Es ist kein Problem der öffentlichen Sicherheit. Wenn ich mich alleine unwohl oder gar unsicher fühlen würde, das Kirchengelände ohne Begleitung zu verlassen, würde ich das nicht machen und hätte kein Problem damit, um Hilfe zu bitten.
Es ist die soziale Regel, die besagt, dass Mädchen bzw. Frauen nicht ohne männlichen Begleiter in die Öffentlichkeit gehen sollen. Sicherlich ernte ich viele Blicke durch mein auffälliges, ausländisches Aussehen (ganz offensichtlich mehr, wenn ich ohne männliche Begleitung unterwegs bin). Aber ich erlebe selten aufdringliches Verhalten. Aber wenn ich ständig solche Aussagen zu hören bekomme, oder jeder mich ungläubig fragt: „Wie – du bist alleine dorthin gefahren?“, dann werde ich dadurch manchmal verunsichert.
Gleichzeitig wird dem gleichaltrigen, französischen, männlichen Freiwilligen hier im Projekt, der erst seit kurzer Zeit da ist und sich nicht auf Arabisch verständigen kann, nichts dergleichen entgegnet.
In manchen Momenten macht es mich wütend, dass mir nur weil ich ein Mädchen bin weniger zugetraut wird und doch weiß ich, dass dies auch ein Ausdruck der Fürsorge sein kann. Für mich sind Unabhängigkeit und Eigenständigkeit aber sehr wichtig und so bedeutet mir die Banalität, dass ich alleine zum nächsten Supermarkt gehen kann, sehr viel.
Die vielen gesellschaftlichen Normen hier bedeuten für mich als junges Mädchen, die mit vielen Freiheiten in Europa aufgewachsen ist, in einigen Situationen oft eine Einschränkung. Es ist nicht so, dass mir das vorher nicht bewusst war. Aber etwas zu wissen und es am eigenen Leib zu spüren, sind bekanntlich zwei Dinge. Ich kann hier abends mit meinen Freundinnen nicht in ein Café oder in die Nachbarstadt gehen, um eine Shisha zu rauchen. Das ist etwas, was hier nur Jungen und Männern vorbehalten ist.
Als wir neulich in einer kleinen Gruppe von fünf Leuten am Abend in ein Restaurant/Café gehen wollten, um den Abschied eines angehenden Priesters zu feiern, der für seine Ausbildung nach Italien gehen wird, hatten wir geplant, nach Feierabend in den zehn Minuten entfernten Nachbarort zu fahren. Doch dann wurde mir gesagt, dass ich nicht mitgehen kann, weil ich nicht als einziges Mädchen in einer reinen Männergruppe unterwegs sein darf. Das hat mich sehr getroffen –
Kein schönes Gefühl, wenn man als einzige zu Hause bleiben muss nur wegen seines Geschlechts!
Was ich damit sagen will ist, dass es nicht immer leicht ist, seine eigenen Ansprüchen, Bedürfnisse und Gewohnheiten an die hiesigen kulturellen Gegebenheiten anzupassen bzw. darauf Rücksicht zu nehmen.
Wovon ich gerade gesprochen habe, trifft so nur auf den Ort meines Projektes Anjara zu, da dies ein Dorf in einer ländlichen Region ist. In der Hauptstadt Amman ist es nochmal anders. Dort ist es in vielen Vierteln nicht unüblich, junge, ausgehende, Jeans- und gleichzeitig Kopftuch tragende Studentinnen in Cafés sitzen zu sehen.
Außerdem ist es mir wichtig zu erwähnen, dass diese sozialen Regeln nicht nur auf Muslime zutreffen. Im Gegenteil: Ich spreche über meine Erfahrungen, die ich hauptsächlich in der christlichen Community gemacht habe, da ich mich größtenteils in christlichen Kreisen bewege, was natürlich nahe liegt, wenn man in einem Kloster arbeitet und lebt.
Meiner Wahrnehmung nach bestehen in der Denk- und Lebensweise und vor allem auch, was das Thema Geschlechterrollen angeht, zwischen den Christen und Muslimen nur minimale Unterschiede, da dabei die kulturelle Prägung tragender ist als die religiöse. Beispielsweise frage ich mich auch manchmal, warum Frauen keine Priester werden dürfen und warum die wichtigen Entscheidungen in der Kirche ausschließlich von Männer getroffen werden. Also die patriarchalischen Strukturen kann man nicht automatisch den Muslimen zuschreiben.
Für viele junger Jordanierinnen, die ich getroffen habe, ist es wichtig, einen guten Schulabschluss zu machen, zu studieren und in der Berufswelt etwas zu erreichen. Frauen mit Verantwortung in Arzt-, Ingenieur- oder Rechtsberufen sind keine Seltenheit. Frauen werden in der Gesellschaft durchaus wertgeschätzt, doch noch immer vor allem in ihrer Rolle als Mutter. Es ist selbstverständlich und es wird erwartet, dass sie für den Haushalt sorgen. Frauen sind für Familie und Haus verantwortlich. Wenn sie dann noch arbeiten, sind sie doppelt belastet. Ein Mädchen wächst von klein an mit dieser klaren Rollenverteilung auf. Das heißt oft, je älter sie werden desto mehr spielt sich ihr Leben im Haus ab, während Jungs viel freier darin sind, ein- und aus zu gehen.
Ein Mädchen bekommt auch früh vermittelt, welche Ansprüche an sie gestellt werden: Es soll brav sein, das heißt, stets angemessene Kleidung tragen, nicht widersprechen, vor Männern keinen Sport treiben, nicht mit Jungs befreundet sein…
Nun will ich damit nicht sagen, Mädchen haben es schwer und Jungen leicht. Dass mich das Rollenbild der Mädchen und Frauen eher beschäftigt liegt nahe. Aber auch Männer werden in eine Rolle gedrängt. So ist es die Pflicht eines Mannes, für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen. Er muss die finanziellen Mittel aufbringen, damit die Familie mit Essen, Kleidung, Wohnung und Gesundheitsversorgung versorgt ist. Wenn ein junger Mann ohne gute Ausbildung, ohne einen Job oder ausreichend finanziellen Mitteln heiraten möchte, hat er ganz schlechte Karten. Außerdem hat es ein Mann mit weichen Charakterzügen nicht leicht. Schon bei den Jungen kann man beobachten, wer sich nicht gleich hinreichend verteidigt, ob mit Worten oder Fäusten, der wird schnell als Mädchen beschimpft.

Zwischenseminar Jerusalem
Ende Februar ging es für mich dann zum Zwischenseminar nach Jerusalem. Mit fünf weltwärts-Freiwilligen aus Jordanien, die ich hier bereits vorher kennen gelernt hatte, und vier weiteren weltwärts-Freiwilligen aus Palästina verbrachte ich eine Woche in Jerusalem, um das vergangene halbe Jahr zu reflektieren und um auf die nächsten sechs Monate vorauszuschauen. Dies war eine gute Gelegenheit sich auszutauschen, da wir doch alle, so unterschiedlich unsere Projekte auch sind, oft mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert werden.
Außerdem habe ich in der kurzen Zeit viel über den Nahost-Konflikt gelernt. Es war interessant, politische und geschichtliche Informationen zu erhalten. Die Freiwilligen vor Ort haben über ihre persönlichen Eindrücke und Begegnungen erzählt und ich konnte die Stimmung vor Ort selbst für einige Tage mitbekommen.
Nicht zuletzt war es auch eine tolle Möglichkeit Jerusalem zu erkunden. Wir hatten das Glück, eine Unterkunft direkt in der Innenstadt zu haben. Ich habe die Auszeit genossen, aber war danach auch glücklich in mein Projekt zurückzukommen. Es hat sich angefühlt wie nach Hause zu kommen.
Muttertag
Der Muttertag in Jordanien, den wir am 21.März gefeiert haben, hat ein große Bedeutung. In der Schule fielen extra zwei Schulstunden aus. Es wurde ein kleines Fest mit Aufführungen von jeder Klasse veranstaltet, zu dem einige Mütter von Schülern kamen und auch die Lehrerinnen besonders geehrt wurden und mit Kaffee, Schokolade und Blumen beschenkt wurden.
Meine Kindergartengruppe hatte ein Lied eingeübt, ältere Klassen haben Gedichte vorgetragen oder den traditionelle Dabke-Tanz in Kostümen vorgeführt.
Auch ich habe öfter alles Gute zum Muttertag gewünscht bekommen, denn dafür muss man hier keine eignen Kinder haben oder verheiratet sein. Jeder Frau wird gratuliert.
So haben wir am Abend mit allen Kindern, die hier wohnen, ein gemeinsames Abendessen mit einem kleinen Sketch und Geschenken für die Nonnen vorbereitet.

Ostern, Besuch aus Deutschland
Die Zeit vor Ostern war nicht nur besonders schön, weil meine Familie und meine Vorfreiwilligen aus Deutschland zu Besuch ins Projekt kamen, sondern weil in der Gemeinde für die Feiertage vieles vorbereitet wurde. Einige Wochen davor fing die Jugendgruppe und der Chor an, ein Theaterstück zur Ostergeschichte zu proben. So chaotisch und unvollständig, aber lustig die ersten Proben verliefen, so schön war dann doch die Vorführung am Ende, bei der ich eine kleine Nebenrolle in der Frauengruppe neben Maria hatte.
Außerdem wurde die ganze Osterwoche lang viel dekoriert, um die besonderen Gottesdienste zu feiern. Ostern wurde hier dieses Jahr eine Woche später als in Deutschland gefeiert, da die Gemeinde das orthodoxe Osterdatum übernommen hat.


Liebe Grüße und bis zum nächsten Rundbrief,
Charlotte