Bolivien: 4. Rundbrief von Lara Eisenbarth

Liebe Familie, liebe Freunde, liebe Interessierte,

Anfang März, also mit dem Ende der Regenzeit, nahm auch meine Zeit in der Fundación ein Ende. Von Seiten der Fundación war es nicht sonderlich erwünscht, dass ich, nun Freiwillige einer anderen Institution, dort weiterhin wohnen sollte. Daher wurde nach langem Hin und Her entschieden, dass ich umziehen sollte. Die Entscheidung über mein neues Zuhause wurde mir überlassen und recht schnell habe ich mich für eine Familie entschieden, die ich damals bereits kannte und bei der ich Mitte März schließlich eingezogen bin.

Mein Umzug auf den gegenüberliegenden Berg

Meine Gastfamilie besteht aus meinen Gasteltern Miguel und Neira, meinem Gastbruder Silver, meiner Gastschwester Ana, ihrem sechsjährigen Sohn Aaron, Mila, eine andere deutsche Freiwillige, drei Hunden, einer Katze und mittlerweile drei kleinen Küken.

Auf dem Foto ist ein großer Teil meiner Familie zu sehen, inklusive eines Riesenkürbis aus dem Garten.

Das Haus ist also voll! Daran musste ich mich erstmal ein wenig gewöhnen, schließlich hatte ich ja die letzten drei Monate, zumindest unter der Woche, alleine gelebt. Aber mittlerweile gefällt es mir dort richtig gut! Ich bin ein Teil der Familie geworden und fühle mich dort sehr wohl. Mit meinen Gastgeschwistern und Mila unternehme ich andauernd etwas und das Gefühl von Einsamkeit ist mir in den letzten Monaten fremd geworden. Auch meine Wochenenden verbringe ich nun meistens mit meiner Gastfamilie, aber natürlich auch mit Franzi, die zwar ihr Projekt auf dem Land hat, aber die Wochenenden in der Stadt verbringt.

Endlich: Mein Arbeitsalltag

In meiner Arbeit, dem Instituto Psicopedagógico, ist inzwischen längst der gewöhnliche Arbeitsalltag eingekehrt. Anders als in den Ferien sind die Kinder nun in verschiedene Kleingruppen aufgeteilt. Etwa zehn Kinder gehen in die Schule oder den Kindergarten, die meisten anderen werden in der sogenannten „schulischen Unterstützung“ spielerisch unterrichtet und die am stärksten beeinträchtigten Kinder werden jeweils nach Alter in drei Gruppen aufgeteilt. Gemeinsam mit Doña Rebecca bin ich für circa sechs Kinder zwischen sieben und zehn Jahren zuständig. Das heißt, dass uns täglich etwa zwei Stunden mit diesen Kindern zur freien Verfügung stehen. Doch nicht nur mir, sondern auch Doña Rebecca, die auf diesem Gebiet keine Ausbildung hat, fällt es recht schwer, eine sinnvolle Beschäftigung für diese Kinder zu finden. Das liegt vor allen Dingen daran, dass die meisten sich auch auf die einfachsten Dinge nicht konzentrieren können und sie alle recht verschiedene Beeinträchtigungen haben.

Mittlerweile haben diese beiden Kinder den Dreh raus, wie sie selbstständig schaukeln können, das konnten sie zum Zeitpunkt des Fotos noch nicht.

Am Anfang hat mich das schon sehr frustriert, allerdings habe ich es mittlerweile geschafft, mehr die kleinen Erfolge wertzuschätzen. Beispielsweise habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, dass die Kinder häufiger draußen an der frischen Luft sind. Und mittlerweile haben diese beiden Kinder den Dreh raus, wie sie selbstständig schaukeln können, das konnten sie zum Zeitpunkt des Fotos noch nicht. Und was soll ich sagen: Man wächst eben mit seinen Aufgaben.

Hin und wieder gibt es auf meiner Arbeit auch kleine Festchen, die den sonst eher eintönigen Arbeitsalltag bunter gestalten. Beispielsweise wurde besonders der Kindertag, zudem auch die Kinder der Mitarbeiter eingeladen wurden, im Psicopedogógico groß gefeiert. Und erst kürzlich wurden im Internat die Geburtstage aller Kinder gemeinsam gefeiert. Zu diesem Anlass gab es für jedes Kind ein kleines Geschenk und es wurde viel getanzt und vor allem ausgiebig Torte gegessen (siehe Foto).

 

Besuch aus Deutschland

Außerdem stand für mich in diesen zwei Monaten viel Besuch aus Deutschland an. Im ersten Moment war es schon ungewohnt, denn für mich gab es immer mein Leben hier und mein Leben in Deutschland und diese sind nun aufeinander getroffen. Doch es war richtig schön und ich habe es sehr genossen, ihnen mein Leben hier zeigen zu können. Natürlich haben wir die Gelegenheit auch genutzt, um mehr von Bolivien sehen zu können. Unter anderem waren wir am Titicacasee, welcher der größte Süßwassersee Südamerikas (circa 15 Mal so groß wie der Bodensee) ist. Ein Teil des Sees gehört zu Bolivien, der andere zu Peru. Vor allem die Isla del Sol (Sonneninsel) und die Isla de la Luna (Mondinsel) weisen eine große historische Bedeutung für die Inka-Kultur auf, denn dort, so sagt man, sind jeweils Sonne und Mond entstanden. Zudem durften wir das einzigartige Naturspektakel des Salars de Uyuni, dem größten Salzsee der Welt, bewundern und haben die Minen in Potosí besucht (siehe Foto). Der Cerro Rico („ Reiche Berg“) wird seit der spanischen Kolonialzeit auf Grund seines (damals) hohen Silber- aber auch Zinkvorkommens ausgebeutet. Mit diesem Silber hätte man eine Brücke von Lateinamerika nach Europa bauen können. Noch heute arbeiten dort viele Bergarbeiter unter sehr schweren Bedingungen.

Ein besonderes Highlight war für mich der Dschungel bei Rurrenabaque. Der naheliegende Madidi Nationalpark gilt als einer der artenreichsten Nationalparks der Welt, was unter anderem an den verschiedenen Ökozonen liegt, die der Park aufzuweisen hat. Dort kann man noch unangetastete Dschungellandschaften, Affen und viele weitere, mir bis dahin unbekannte, Lebewesen bewundern und mehr oder weniger wie Tarzan an der Liane schwingen.
Obwohl Bolivien zu den vom Tourismus am wenigsten geprägten Ländern Südamerikas gehört, kann man vor allem hier in Rurrenabaque deutlich dessen Auswirkungen spüren. Noch vor über 30 Jahren war Rurrenabaque ein kleines Fischerdörfchen ohne Infrastruktur. Heute ist es eine 13 Tausend Einwohnerstadt, die sogar über einen kleinen Flughafen verfügt. Diese Entwicklung Rurrenabaques ist auf einen Unglücksfall zurück zu führen, der sich im Jahr 1981 ereignete. Vier Ausländer wollten gemeinsam auf Erkundungstour in den Dschungel gehen, allerdings wurden sie schon nach kurzer Zeit voneinander getrennt.. Zwei von ihnen sind für immer verschollen geblieben, einer wurde nach kurzer Zeit von einem Fischer gerettet. Nach drei Wochen der Suche wurde auch dessen Freund, ein Israeli namens Yossi Ghinsberg, völlig unterernährt und von Parasiten befallen aber am Leben, von ihm und eben diesem Fischer gefunden. Daraufhin verfasste Ghinsberg das heute, vor allem in Israel, populäre Buch „Back from Tuichi“, welches von seiner Zeit alleine im Dschungel berichtet. Im letzten Jahr wurde das Buch unter dem Namen Jungle verfilmt. Nach den damaligen Ereignissen gründete der Fischer dort die erste Touristenagentur für Touren durch den Dschungel und war nach kurzer Zeit der reichste Mann des Dorfes. Heute findet man fast an jeder Straßenecke eine Agentur.

Das Ritual der K‘oa

Außerdem war eine Delegation des Bistums Trier mit Bischof Stephan Ackermann zu Besuch in Bolivien. Zu diesem Anlass wurde die Delegation und auch die SoFiA-Freiwilligen von einer Gemeinde in El Alto zum gemeinsamen Essen und anschließendem Tanzen eingeladen.
Wie es in Bolivien so üblich ist, wurde dabei die sogenannte K’oa abgehalten, eine Art Ritual zu Ehren der Pachamama (Mutter Erde oder auch Mutter Kosmo). Die Pachamama schenkt Leben, nährt, schützt und ist zu ritueller Kommunikation zwischen Ober-und Unterwelt fähig. Das Volk der Quechua und Aymara verehren die Pachamama als allmächtige Göttin. Und obwohl Bolivien heute (seit der Missionierung durch die Spanier) weit überwiegend katholisch ist, ist die Pachamama weiterhin von großer Bedeutung geblieben. Beispielsweise wird häufig vor dem Konsum eines alkoholischen Getränkes erst für die Pachamama ein Schluck auf die Erde gegossen. In Bolivien wird das Christentum unmittelbar mit dem ursprünglichen Glauben verknüpft.

Immer am ersten Freitag des Monats wird die K’oa für die Pachamama abgehalten. Das Ritual beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit zwischen der Pachamama und den Menschen. Sie ist wie ein Segensspruch der beispielsweise für ein Haus, ein Auto oder die Gesundheit durchgeführt wird oder wie in diesem Fall zur Einweihung der Gemeinde in El Alto. Bei der K’oa werden viele Elemente, die für die Pachamama von Bedeutung sind, also beispielsweise Weihrauch, Fett des Lamas, Pflanzenbestandteile oder Misterios (Täfelchen mit Zeichen) in ein Gefäß gelegt. Nachdem jeder Kokablätter in seine beide Wangen verteilt hat, wird der Reihe nach ein Segensspruch oder Wunsch ausgesprochen. Währenddessen wird Alkohol um die Mitte geschüttelt und die Kokablätter werden paarweise darumgelegt. Das liegt daran, dass die andine Welt dual ist, denn die Nacht folgt auf den Tag und der Tod auf das Leben. Zum Schluss wird alles verbrannt, damit die Gegenstände in Rauch umgewandelt werden und zum Himmel aufsteigen können, sodass mit dem Geist der Pachamama kommuniziert werden kann.
Vor allem fasziniert mich an diesem Ritual das gegenseitige Nehmen und Geben und die tiefe Verbundheit mit der Pachamama. Es sind eben solche Traditionen, die mich immer wieder innehalten und staunen lassen.

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Mittlerweile ist die Regenzeit längst vorbei und der Winter steht unmittelbar vor der Tür. Es wird langsam kälter – vor allem nachts. Schließlich liegt Sucre immerhin noch auf einer Höhe von 2800m, auch wenn das für bolivianische Verhältnisse noch relativ wenig ist.
Nun bleiben mir hier nur noch wenige Monate und ich denke häufiger über den Abschied nach, als mir lieb ist. Das Leben in einer Gastfamilie ermöglicht mir, Bolivien und somit die Menschen dieses Landes nochmal besser kennenzulernen. An manchen Tagen habe ich das Gefühl, Bolivien schon gut zu kennen, ja fühle mich dazugehörig. An anderen Tagen hingegen, erscheint mir einiges noch immer fremd. Dann fällt mir auf, wie anders ich doch bin, wie anders ich aussehe, wie anders ich mich verhalte und denke. Aber vor allem wird mir immer mehr bewusst, wie viel ich an Bolivien vermissen werde. Ich werde Salteñas, Tojori und andere Köstlichkeiten vermissen, die überquellenden Märkte, die vielen Essensstände auf der Straße, die traditionelle Musik, die man mal hier und mal da hört, den bolivianischen Lebensstil (vielleicht sogar die Unpünktlichkeit), und vor allem auch die Menschen – meine Gastfamilie, aber auch meine neu gefundenen Freunde hier. Und gleichzeitig freue ich mich unglaublich auf Deutschland – auf meine Familie und Freunde, auf das Essen und eben auch auf den dortigen Lebensstil, auf meine Hobbys, auf das Autofahren, aber auch auf eine Waschmaschine und das (warme) Leitungswasser.
Momentan fühle ich mich hin und hergerissen zwischen den Ländern, zwischen dem Gefühl des einen Heimwehs und dem des kommenden Heimwehs, welches mich in Deutschland erwarten wird. Zudem wird mir immer mehr bewusst, dass ich nun bereits Dinge zum letzten Mal hier tue. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als meine restliche Zeit noch in vollen Zügen zu nutzen und zu genießen.

 

Liebe Grüße, Lara