Liebe Familie, liebe Freunde, liebe Interessierte,
in Bolivien ist der Winter längst eingetroffen. Und während in Deutschland alle ins Freibad gehen, mache ich mir hier in der Nacht zwei Wärmflaschen. In Sucre ist es noch lange nicht so kalt, wie in den Wintermonaten in Deutschland. Trotzdem nehme ich hier den Winter extremer wahr, denn die Häuser sind anders gebaut; sie haben keine Heizungen oder Dämmungen und sind meist sehr offen. Das bedeutet beispielsweise, dass unsere Küche keine Fensterscheibe hat, dass meine Zimmertür nicht in den Flur, sondern direkt nach draußen führt und dass ich mir unter dem Sternenhimmel die Zähne putze. Einerseits gefällt mir das sehr gut und ich genieße es, dass das Leben so sehr draußen stattfindet. Andererseits ist nun Winter und nachts sind es meist um die 5 Grad und in meinem Zimmer eben auch. Wenn ich von den Jahreszeiten in Deutschland erzähle – von heißen Sommern und Schnee im Winter, dann löst dies hier in den Menschen häufig großes Erstaunen aus. Mir ist vorher nie wirklich bewusst gewesen, dass auch in Bolivien die Jahreszeiten spürbar sind, mal abgesehen von der Regenzeit. Doch es gibt zwei Monate im Jahr, die plötzlich unerwartet kalt sind.
Aber genug davon: Meine letzten Monate waren wieder sehr ereignisreich und erneut kann ich nicht begreifen, wie die Zeit so schnell vergehen konnte. Schließlich sind es nun weniger als zwei Monate bis zu meinem Rückflug nach Deutschland.
Meine Arbeit – die Nachmittagsschicht
Bei meiner Arbeit habe ich mittlerweile von der Vormittags- in die Nachmittagsschicht gewechselt. Das lag vor allen Dingen daran, dass das frühe Aufstehen und die darauffolgende doch sehr kräftezehrende Arbeit mich sehr geschlaucht haben. Außerdem kann ich so mehr am Familienleben teilnehmen, dass sich meist erst abends abspielt. Da ich nun von eins bis sieben Uhr arbeite, kann ich nun auch den Nachmittagsalltag im Instituto Psicopedagógico kennenlernen. Und dieser sieht so aus: Nach dem Mittagsschlaf werden die Kinder, ähnlich wie auch am Vormittag, in verschiedene Kleingruppen unterteilt.
Die meisten Kinder werden von Lehrern spielerisch unterrichtet. Zusätzlich gibt es drei sogenannte Maternalsgruppen, in welchen die Kinder grob nach Alter aufgeteilt werden. Gemeinsam mit Doña Anita, die sehr freundlich ist und mit der ich mich gut unterhalten kann, bin ich für eins dieser Maternals zuständig. Bis etwa halb 4 sind wir nun in dieser Gruppe, die meist aus Kindern zwischen vier und acht Jahren besteht.

In dieser Zeit passe ich teilweise auf über zehn Kindern auf, denn die Lehrer haben noch Siesta. Das kann ganz schön anstrengend sein und ich bin vollkommen damit beschäftigt, dass die Kinder nicht komplettes Chaos hinterlassen, Einzelteile in den Mund nehmen oder sich gegenseitig ärgern. Kurz darauf gibt es bereits die erste Mahlzeit und zwar Tecito, sprich gesüßte Milch mit Brot und meist süßem Belag.
Nach der Zwischenmahlzeit werden die Kinder nun wieder in die einzelnen Kleingruppen unterteilt. Da nun auch wirklich alle Lehrer eingetroffen sind, passe ich dann anstatt auf über zehn Kinder, meist nur noch auf drei oder vier auf. Diese Zeit ist also deutlich ruhiger, sodass ich mehr auf die einzelnen Kinder eingehen kann. Bereits um halb 6 gibt es Abendessen, daraufhin werden die Kinder ins Bett gebracht und es kehrt langsam Ruhe ein. Bis wir alle Kinder zugedeckt haben, ist es auch schon dunkel und ich mache mich langsam auf den Nachhauseweg.
Das Arbeiten in der Nachmittagsschicht bereitet mir mehr Freude, denn hier bin ich für Kinder verantwortlich, die ein wenig fitter sind. Daher können wir häufig mit Puzzeln oder Lego spielen oder malen. Die meisten Kinder lieben es auch in der Hängematte zu schaukeln oder zu Musik zu tanzen. Und auch wenn es manche Tage gibt, an denen ich vor vollen Windeln oder quengelnden Kinder am liebsten davon laufen würde, gefällt es mir dort immer besser.
Das Leben in meiner Gastfamilie

In meiner Gastfamilie gefällt es mir weiterhin unglaublich gut. Morgens kommt häufig mein sechsjähriger Gastbruder Aaron in mein Zimmer und belagert dieses zu großen Teilen mit seinen Malsachen (er geht erst nachmittags in die Schule). Abends verbringe ich die Zeit gerne mit meinem Gastbruder Silver und Mila. Auch wenn mir bewusst geworden ist, wie sehr hier die Rollenverteilung noch ausgeprägt ist und wie verschieden der Umgang mit Kindern ist, bin ich sehr froh, dass sie mich aufgenommen haben und ich nun die bolivianische Kultur nochmal besser kennenlernen kann. Mila und ich haben außerdem zweimal die Woche gemeinsam Gitarrenunterricht bei einem Freund. Mit ihm gehen wir auch manchmal am Wochenende wandern, denn in der Umgebung von Sucre gibt es tolle Gelegenheiten dazu! Mit genügend Motivation gehe ich nach der Arbeit auch mal im Parque Bolivar joggen. Dort steht übrigens ein kleiner, aber stolzer Eiffelturm, welcher ebenfalls von Gustave Eiffel entworfen wurde.
Streik in Sucre
Anfang Mai fand in Sucre ein Streik (Paro) statt. Ein Streik, in einem Ausmaß, das ich so noch nie erlebt habe und so auch nie wieder erleben möchte. Die Bolivianer streiken gerne, sogar noch lieber als die Franzosen, und wenn dann mit Leib und Seele. Wie es zu diesem Streik kam, versuche ich nun kurz zu erklären: Auch wenn Bolivien zu den ärmsten Länder Lateinamerikas gehört, ist es reich an Bodenschätzen und natürlichen Rohstoffen. Die dadurch gewonnen Einnahmen kommen in Bolivien den sogenannte Departamentos (etwa wie Bundesländer) zu Gute. In Chuquisaca, dem Departamento, in dem Sucre die Hauptstadt ist, liegt das kleine Dorf Incahuasi. Dort wurde im Jahr 2004 ein riesiges Gasfeld unmittelbar an der Grenze zu Santa Cruz entdeckt. Wie es hier so oft der Fall ist, wird dieses Gas von einer ausländichen Firma gefördert und nur 25% des Gewinns gehen an das jeweilige Gebiet in Bolivien. Diese 25% haben sich bis jetzt die beiden Departamentos Santa Cruz und Chuquisaca geteilt. Doch obwohl Incahuasi zu Chuquisca gehört, liegt das Gasfeld gerade so noch auf dem Gebiet von Santa Cruz. Aus diesem Grund hat nun das Departamento Santa Cruz diese 25% komplett für sich beansprucht. Daraufhin ist in ganz Chuquisaca, vor allem aber in Sucre, ein riesiger Streik ausgebrochen.
Es gab eine riesige Blockade und nur noch die wenigsten Menschen sind arbeiten gegangen. Der Verkehr innerhalb und auch außerhalb der Stadt wurde eingestellt, indem die Straßen mit Bussen, Möbeln oder anderen Gegenständen zugestellt wurden. Es gab nicht nur viele Protestmärsche, sondern auf den Straßen wurden auch Autoreifen angezündet oder Leute haben dort campiert.
Da keiner die Stadt verlassen konnte, konnte auch keiner in die Stadt hinein gelangen und sogar der Flughafen wurde lahmgelegt. Dadurch wurde das Essen knapp, vor allem das verderbliche wie beispielsweise Obst, Gemüse oder Fleisch. Demzufolge hatten die Märkte fast überwiegend geschlossen und das Essen, was es noch gab, war überdurchschnittlich teuer. In den Straßen hat sich der Müll gestapelt, in welchem Hunde, aber teilweise auch Menschen nach Essen gesucht haben.
Dieser Ausnahmezustand hielt fast drei Wochen an. Die Stimmung war agressiv und hat sich immer mehr zugespitzt. Im Endeffekt wurde der Gewinn des Gases trotzdem dem reichsten Departamento, nämlich Santa Cruz, zugeschrieben. Seit einiger Zeit hat sich die Situation zum Glück wieder normalisiert. Ich bin froh, dass dieser Streik, trotz der zwischenzeitlich unberechenbaren Stimmung, recht friedlich sein Ende genommen hat. Für mich war dieser Streik schon eine spannende Erfahrung, wenn auch nicht unbedingt eine positive. In Deutschland wäre ein Streik in diesem Ausmaße unvorstellbar gewesen.
Endseminar – Weg des Incas Yanacachi
Außerdem stand Ende Mai schon unser Endseminar an – kaum zu glauben! Dieses bestand zu einem Teil aus einer zweitägigen Wanderung und zum anderen Teil aus einer eintägigen Reflektionsrunde unseres Freiwilligendienstes. Unsere Wanderung war der sogenannte Weg des Incas Yanacachi und mitsamt Schlafsack, Isomatte, Zelt, Verpflegung und Klamotten für vier Tage haben wir diesen auf uns genommen. Als wir an unserem höchsten Punkt (4700hm) angekommen sind, haben wir ein, in Bolivien recht übliches Ritual abgehalten. Bei diesem werden Kokablätter, Alkohol und Geldmünzen auf einen Haufen gelegt und dazu wird ein Gebet gesprochen. Es geht darum, Schutz auf dem kommenden Weg zu erbitten. Unser Ziel war das kleine Dorf Yanacachi, welches nur noch auf knapp 2000hm liegt. Wir haben also einige Vegetations- und Klimazonen durchquert. Am ersten Tag waren wir fast fünfzehn Stunden unterwegs, am zweiten Tag noch elf weitere, bis wir komplett am Ende unserer Kräfte endlich unser Ziel erreicht hatten. Diese Wanderung hat erneut unseren Gruppenzusammenhalt gestärkt. Vor allem als sich jemand auf dem Weg den Fuß gebrochen hat und wir ohne Handyempfang kilometerweit von einer befahrbaren Straße entfernt waren. Erneut war es ein tolles Seminar und vor allem die Wanderung wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben.
Chile ~ Bolivien
Ich nutze nun die Wochenende immer häufiger um zu verreisen, meist um andere Freiwillige zu besuchen und deren Leben und Projekte kennenzulernen, was immer sehr schön ist. Dabei bemerke ich immer wieder auf’s Neue die Vielfalt Boliviens und die sich vor allem zwischen Hoch- und Tiefland unterscheidenden Mentalitäten und Lebensweisen.
Über Franzis Geburtstag haben wir gemeinsam mit Sarah, einer anderen SoFiA-Freiwilligen, einen Wochenendausflug nach Chile unternommen. Dort ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, wie es sich zeigt, dass Bolivien zu einem der ärmsten Länder Lateinamerikas gehört… Kurz nach meiner Ankunft in Bolivien wurde ich des Öfteren gefragt, ob ich denn einen Kulturschock hätte. Nein, hatte ich damals nicht, ich wusste ja, dass dieses Land anders sein wird als Deutschland. Vielleicht lag es auch an der monatelange Vorbereitung oder der Aufregung– ich weiß es nicht. Doch als ich vor 2 Wochen nach Iquique gefahren bin, eine kleine, aber nette Stadt in Chile am Meer, erfasste mich das erste Mal das Gefühl eines Kulturschocks. Denn obwohl wir gerade einmal 3 Stunden Fahrzeit von der Grenze zu Bolivien entfernt waren, hatte ich das Gefühl, in einer komplett anderen Welt zu sein. Auf einmal gab es riesige Shopping-Centers, öffentliche und vor allem strukturierte Verkehrsmittel und Ketten wie McDonald’s. Statt überquellende Märkte, gab es Supermärkte mit Einkaufswagen, in denen man Gouda und aus einem mir unerklärlichen Grund deutschen Fertigkuchen und eingelegte Gurken kaufen konnte. Doch auch wenn Bolivien nicht immer „bequem“ ist, bin ich unglaublich froh, hier meinen Freiwilligendienst absolvieren zu können! Bolivien fasziniert mich und lässt mich an meine Grenzen stoßen. Bolivien ist so reich an Kultur und ebenso einzigartig, wie wunderschön.
Hochs und Tiefs
Ein anderer Freiwilliger hat einmal zu mir gesagt: „Aber es ist halt auch ein Up und Down, ein Hin und Her der Wünsche und Emotionen, so ein Freiwilligendienst.“ Und wie Recht er damit hat! Ich hatte noch nie so viele emotionale Hochs und Tiefs wie innerhalb dieses Jahres. Ich habe so ausgelassen gelacht und so verzweifelt geweint. Ich habe so viel Neues erlebt und so viel Altes vermisst. Ich habe so viele verschiedene Erfahrungen gemacht – so viele schöne und unvergessliche, aber auch so viele frustrierende. Ich habe mich so Willkommen und so einsam und fehl am Platz gefühlt. Ich habe so viele tolle Gespräche geführt und so oft kein Wort verstanden. Ich habe so viel über mich oder andere Menschen gelernt und so sehr meine eigenen Werte und Ideale hinterfragt.
Ich habe noch nie eine solche Langeweile empfunden. Ich musste noch nie so sehr an mir selbst wachsen, um meine Situation zu verbessern. Ich habe noch nie so viele leckere Früchte gegessen und habe noch nie so viele sonnige Tage in einem Jahr erlebt. Ich habe noch nie so sehr einen Moment oder eine kleine Geste zu schätzen gewusst. Und noch nie habe ich so schnell Menschen in mein Herz geschlossen.
Liebe Grüße, Lara