Indien: 3. Rundbrief von Klara Lenz

Wo ist die Zeit bloß hin?

Diese Frage stelle ich mir aktuell tagtäglich. Mittlerweile zähle ich nicht mehr die Monate, die ich schon hier bin, sondern eher die Wochen, die mir noch bleiben. Bei der Abreise (und auch zwischendurch in harten Momenten) kam mir ein Jahr so lang vor, aber die Zeit verfliegt. In den letzten 3 Monaten ist mal wieder einiges passiert und somit ist es wieder an der Zeit, dass ich euch teilhaben lasse.Weltfrauentag

Ein Tag, der mich in den letzten Monaten sehr berührt hat und mir gewiss noch lange in Erinnerung bleiben wird, war der Weltfrauentag. In Deutschland habe ich diesen Tag kaum wahrgenommen. Hier wird er richtig zelebriert. Wir veranstalteten mit den Kindern, die jeden Tag zu uns zur Nachhilfe kommen, eine Feier. Es wurde viel getanzt und gesungen. Die Jungs hatten einen kleinen Sketch zum Thema Gleichberechtigung für die Mädchen vorbereitet. Gegen Ende wurde noch eine Rede gehalten, die besonders betonte, wie wichtig die Bildung junger Mädchen ist. Noch immer senden Familien öfter ihre Söhne zum studieren, als ihre Töchter – unabhängig davon, wer besser geeignet wäre. Gleichzeitig erleben wir oft, dass wenn die Mädchen studieren, sie kurz danach verheiratet werden und dann Zuhause bleiben, damit sie Kinder bekommen und sich um den Haushalt kümmern. Das heißt nicht, dass es nicht auch Ehen gibt, in denen die Frau arbeiten geht. Gerade bei uns im Nähzimmer haben die meisten Frauen Kinder und sie kommen trotzdem jeden Tag, auch wenn das bei manchen Konflikte mit ihren Familien verursacht. 

Wenn ich an starke Persönlichkeiten denke, die ich in den letzten Monaten hier treffen durfte, waren es häufig Frauen. Ich will nicht schlecht über die indischen Männer reden, weil ich durchaus schon sehr nette kennenlernen durfte. Aber die Frauen haben mich bis jetzt viel stärker wirklich beeindruckt. Das liegt vor allem daran, dass Jungs und Mädchen sehr unterschiedlich erzogen werden. Die Söhne sind die „Prinzen“ der Familie. Sie bekommen sehr viel Aufmerksamkeit und werden verwöhnt. Die Mädchen wissen, dass sie kämpfen müssen, wenn sie etwas wollen. Dementsprechend erlebe ich die Frauen hier oft als sehr starke Persönlichkeiten. Am Weltfrauentag hat es mich einfach unglaublich gefreut, dass die jungen Mädchen, die oft von ihren Brüdern überschattet werden, im Rampenlicht standen und auch den Mädchen hat man angemerkt, wie sehr sie diesen Tag genossen haben.

Familienbesuch

Anfang März bekam ich Besuch von meiner Mutter und meinem älteren Bruder Philipp. Ich freute mich natürlich riesig, endlich zumindest einem Teil meiner Familie mein neues Zuhause hier zu zeigen. Gleichzeitig war ich aber auch nervös, denn irgendwie war es auch ein komisches Gefühl, dass diese zwei Welten aufeinander treffen würden.

Wir verbrachten 3 Tage in Viralimalai, damit ich den Beiden meinen Arbeitsplatz, das Nähzimmer, zeigen konnte und natürlich auch die Menschen, die hier zu meinem engsten Umfeld gehören.

Danach fuhren wir nach Munnar in die Berge. Von Munnar habe ich bereits in meinem letzten Rundbrief berichtet. Da mir die Landschaft bei unserem Tagesausflug im Dezember so gut gefallen hat, wollte ich noch einmal dorthin. Wir besichtigten die Teeplantagen und -fabriken, eine Gewürzgarten und wanderten einfach ein bisschen durch die schöne Landschaft. 

Die letzten Tage des Aufenthalts meiner Familie verbrachten wir dann am Strand in Kerala.  Außer einem kleinen Bootsausflug durch die bekannten Backwaters (ein wunderschönes Netzwerk aus Wasserstraßen), verbrachten wir die meiste Zeit in oder am Meer und genossen einfach das Zusammensein. 

Durch das Wiedersehen mit meiner Familie ist mir sehr deutlich bewusst geworden, wie sehr ich mich hier schon verändert habe, beziehungsweise wie viel ich hier gelernt habe. 

Beispielsweise war ich in den letzten Monaten immer wieder frustriert, weil ich noch immer kein Tamil spreche. Auf den Reisen im Vergleich mit meiner Familie ist mir dann aufgefallen, wie viel besser ich das Englisch beziehungsweise den Mix aus Englisch und Tamil, den die Leute hier meist sprechen, verstehe. Dadurch ist mir bewusst geworden, dass ich sprachlich sehr wohl Fortschritte gemacht habe, nur eben nicht in Tamil, sondern in (wie die Tamilen es nennen) „Tamlish“.

Außerdem ist mir aufgefallen, dass ich deutlich geduldiger und entspannter bin, als ich es in Deutschland war. Hier wartet man eigentlich ständig auf irgendetwas oder irgendwen. Wenn der Verkäufer wie es hier üblich ist 3 Leute auf einmal bedient, ist das für mich ganz normal. Mein Bruder hingegen wurde schnell ungeduldig, weil wir Deutschen in solchen Situationen gerne mit „Das ist doch total ineffizient“ oder „Jetzt war ich doch eigentlich dran“ reagieren. 

Der Abschied fiel mir gegen meine Erwartungen nicht allzu schwer. Nach 8 Monaten kommen mir die noch bevorstehenden 4 Monate sehr kurz vor und ich war vor allem sehr froh noch mehr Zeit hier zu haben und nicht jetzt schon heimzufliegen. Für mich war der Abschied vor allem mit Verwirrung verknüpft, weil es für mich schwer zu begreifen ist, dass ich innerhalb von 24 Stunden in Deutschland sein könnte. Weil hier einfach vieles anders als zu Hause ist, habe ich oft das Gefühl auf einem anderen Planeten zu sein und dementsprechend kommt es mir absurd vor, dass ich nur in ein Flugzeug steigen muss, um nach Deutschland zu kommen. Meiner Familie das Land und mein Leben hier zu zeigen, hat mir ein bisschen die Angst vor dem Abschied und der Heimkehr genommen, weil ich jetzt weiß, dass Zuhause Menschen sind, die wissen wie mein Leben hier für das Jahr aussah und somit Verständnis haben, dass es mir schwerfällt zu gehen und Zuhause anzukommen. 

Müll

In meinem letzten Rundbriefen habe ich durchaus versucht negative Schilderungen über Indien zu umgehen, weil ich finde, dass die Medien in Deutschland sehr negativ und einseitig berichten und ich dagegenhalten wollte. Ein Thema, unabhängig von sozialen Missständen hier vor Ort, dass mich nach wie vor belastet, ist der Müll. Sowohl in den Städten, als auch auf dem Land ist er ein ständig sichtbarere Begleiter des Alltags. 

Vor unserem Haus ist eine Grünfläche, die theoretisch gesehen dem Staat gehört. Alle paar Wochen sammeln meine Mitbewohnerinnen und ich den Müll, der sich dort ansammelt, auf. In der Regel sieht es dann für 3 Tage gut aus, bevor sich erneut Abfall anhäuft. Die Müllberge, die hier überall an Straßenrändern liegen, zerstören die Ästhetik dieses Landes leider sehr. Es gibt viele Initiativen und Programme, die dieses Problem beseitigen sollen und ich hoffe sehr, dass sie in Zukunft auch fruchten werden.

Die dauerhafte Sichtbarkeit des Mülls hat mich aber auch erneut sensibilisiert, wie viel Plastik unnötig produziert wird und zwar nicht nur hier, sondern auch in Deutschland. In Deutschland ist das Ausmaß lange nicht so sichtbar wie hier, weil der Müll für uns einfach verschwindet, sobald die Müllabfuhr ihn abholt. Viele haben gar keinen Bezug dazu, wie sehr es unserer Umwelt schadet und welche Mengen an Plastik wir tagtäglich „verbrauchen“.

Ein besonders schockierender Moment war für mich, als ich bei einem Ausflug zur Südspitze Indiens an einem Strand stand, der übersät war von Plastiktüten und Flaschen. Bei einem Strand denken wir an eine idyllisches Postkartenmotiv und da ist der Kontrast zu den Müllbergen, die ich hier sehen musste, besonders heftig.

Das Traurige ist, dass unsere Postkartenstrände nicht anders aussehen würden, wenn sie nicht tagtäglich gereinigt werden würden. Zusätzlich ist der Plastikanteil im Meer mittlerweile so hoch, dass auch unglaublich viel Müll angeschwemmt wird. Die zunehmenden Mengen an Müll sind ein globales Problem. Hier ist es im Alltag nur deutliches sichtbarer, als es bei uns der Fall ist. 

Ich weiß dieses Thema hängt nicht direkt mit meinem Freiwilligendienst zusammen, aber es beschäftigt mich sehr und vielleicht kann ich euch mit meiner Schilderung auch ein bisschen mehr für dieses Thema sensibilisieren.

Und sonst so?

In den letzten Monaten war ich wieder mehr unterwegs. Neben dem Urlaub mit meiner Familie,  habe ich mir das Projekt meiner Mitfreiwilligen Helena angesehen und war mit meinen anderen beiden Mitfreiwilligen für ein paar Tage in Bangalore. 

Ich habe gemerkt wie wichtig es ist, gelegentlich mal rauszukommen und für ein paar Tage etwas anders zu sehen. Mein Alltag hier ist sehr beschränkt auf mein Projekt und dementsprechend wird es mir hier manchmal zu monoton und ich verliere schnell meinen Antrieb. Wenn ich gelegentlich übers Wochenende weg bin, komme ich jedes mal mit neuer Motivation zurück und kann so viel präsenter sein.  Außerdem ist mir noch einmal bewusst geworden, wie wichtig der Austausch mit anderen ist. Ich bin sehr glücklich, meine 3 Mitfreiwilligen zu haben, denn die Erfahrungen die wir machen sind sehr ähnlich und dadurch trifft man bei den anderen immer auf Verständnis. Außerdem lernt man sich  während dem Freiwilligendienst unglaublich schnell sehr gut kennen und so bin ich froh sagen zu können, dass die 3 eben nicht mehr nur Mitfreiwillige sind, sondern Freundinnen, mit denen mich sehr viel verbindet und die ich auch in Deutschland nicht mehr missen möchte.

Mittlerweile habe ich einen Rückflug und somit ein Datum, an dem ich weiß, dass all das hier endet und das bringt gemischte Gefühle mit sich, weil man sich auf vieles Zuhause freut, aber gleichzeitig weiß, dass man von vielem Abschied nehmen muss.  

Als kleines Update, habe ich euch noch ein paar Fotos von den Dingen, die wir in den letzten Wochen im Nähzimmer hergestellt haben, angehängt. Die Arbeit macht mir immer noch viel Spaß und ich bin sehr dankbar in einem Projekt gelandet zu sein, in dem ich meine Kreativität so gut integrieren kann!

Das war’s dann wieder von mir! Liebe Grüße und bis in 3 Monaten,

Klara