Brasilien: 4. Rundbrief von Kim Teichmann

„Und mir wird so ich-weiß-nicht-wie…“

Lieber Soli-Kreis,

so langsam geht meine Zeit hier zu Ende, und das ist das Seltsamste, was mir in diesem Jahr passiert ist. Wie kann es sein, dass ich schon ein Jahr lang hier bin? Wie kann es sein, dass dieses Jahr vergangen ist, ohne dass ich es bemerkt habe? Wie kann es sein, dass ich so oft über diese zeitliche Begrenzung nachgedacht habe und es doch nicht schaffe, mir klarzumachen, dass es in genau vier Wochen zu Ende geht?

Leider konnte ich wegen technischer Schwierigkeiten keine Bilder einfügen. Wer den Rundbrief gerne mit Bildern lesen würde, kann mir eine Email an teichmann.kim@web.de schicken, um die Email-Version zu erhalten.

Wie ihr vielleicht bemerkt habt, beginne ich meine Rundbriefe meistens damit, über Zeit zu reden, und irgendwie hat das auch seine Berechtigung, schließlich ist sie ein bestimmender Aspekt meines Freiwilligendienstes. Besonders dieses Mal. Es war von Anfang an klar, dass meine Zeit hier begrenzt ist. Und mir stand auch immer schon konkret vor Augen, was ich danach machen will, sodass ich diese Begrenzung auch nie aus dem Blick verloren habe. Aber nun am Ende zu stehen, zu wissen, dass ich in vier Wochen das alles hier verlasse, erneut aufbreche, einen neuen Lebensabschnitt anfange, das geht nicht in meinen Kopf.

Vier Wochen. Das sind 28 Tage. Was will ich in dieser Zeit noch tun? Wen werde ich noch einmal sehen und von wem muss ich mich schon endgültig verabschieden? Ich will gar nicht so genau darüber nachdenken, denn dann würde ich wohl in Panik verfallen. Nur wenn ich das ausblende, wenn ich so tue, als wäre die Abreise noch weit weg, kann ich ruhig bleiben.

Warum eigentlich? Es gibt vieles, auf das ich mich in Deutschland freue. Meine Familie, meine Freunde, meine Heimat. Ein Studium anfangen. Wieder ins Kino gehen, wieder Spinat essen, wieder den ÖPNV  zur Verfügung haben, wieder nachts allein auf der Straße unterwegs sein, wieder in eine Bibliothek gehen. Was lasse ich im Gegenzug zurück? Das Lächeln, mit dem mich die Schüler morgens begrüßen, das Gefühl, in der APAE dazuzugehören und ein geschätzter Bestandteil zu sein. Den Austausch mit meiner Gastmutter über Bildung, Inklusion und Pädagogik, das „Just Dance“-Spielen mit meinem Gastbruder und die Momente, in denen mein Gastvater und ich gleichzeitig anfangen, zu lachen, weil wir den gleichen Sinn für Situationskomik teilen. Die Besuche bei meinen Mitfreiwilligen, bei denen wir stundenlang über all die großen und kleinen Erfahrungen des Freiwilligendienstes reden. Die Schönheit der portugiesischen Sprache und den Genuss, ein neu gelerntes Wort zu benutzen. Das warme Wetter, die Möglichkeit, überall meine Hängematte aufzuhängen, das leckere brasilianische Essen, die Früchte und den entspannten Lebensrhythmus. Wenn ich alles aufzählen wollte, würde ich wohl nicht fertig werden. Und der Abschied von all dem fällt mir umso schwerer, weil es ein endgültiger Abschied ist. Natürlich kann ich wieder hierher zurückkommen. Aber so wie jetzt wird es nie wieder sein. Ich werde dann keine Freiwillige mehr sein, nicht mehr in der APAE arbeiten und mein Portugiesisch wird eingerostet sein. Diese Zeit jetzt gerade, die habe ich nur einmal und deshalb fällt es mir so schwer, loszulassen.

Und dann ist da noch die Angst. Was, wenn Deutschland nicht mehr so ist, wie ich es in Erinnerung habe? Nicht weil Deutschland sich verändert hat, nein, weil ich mich verändert habe. Deutschland war immer normal für mich. Hier war anders. Inzwischen ist hier normal für mich. Heißt das, Deutschland ist jetzt anders? Was, wenn meine Erwartungen falsch sind? Wenn das, worauf ich mich freue, nicht so ist, wie ich es in Erinnerung habe? Wenn es mich nicht darüber hinweg trösten kann, was ich zurücklassen musste? Ich bin gerade erst richtig hier angekommen, habe mir ein Leben aufgebaut. Jetzt muss ich wieder weg.  Ich werde umziehen, studieren, zum ersten Mal allein leben. Schon wieder neu anfangen.

Dennoch wird die Zeit nicht meinetwegen anhalten und eigentlich ist es sinnlos, Angst zu haben oder an der Vergangenheit festzuhalten. Denn Angst vor etwas zu haben, verhindert nicht, dass es passiert und an der Vergangenheit festzuhalten, hindert einen nur daran, im Jetzt glücklich zu sein. Also lebe ich mein Leben hier weiter, versuche, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden und die schönen Momente auszukosten und wenn der Abschied kommt, werde ich gehen, mit Tränen in den Augen und einem Lächeln auf den Lippen.

Festa Junina

Nach dem ganzen Gelaber über den Abschied will ich jetzt aber auch noch von den vergangenen Monaten erzählen. Im Juni wurden überall die Festa Junina gefeiert. Diese Feste werden im Juni zum Ende der Regenzeit oder des „Winters“, wie man diese Jahreszeit hier nennt, gefeiert. Sie entstanden aus den Erntedankfesten der bäuerlich geprägten communidades (Gemeinden) und stecken daher voller ländlicher Traditionen. Vom Essen, über die Kleidung und die Dekoration, bis hin zu den Tänzen ist alles caipira (ländlich, bäuerlich, rustikal). Es gibt ganz viele aus Mais zubereitete Speisen, man kleidet sich in Karomuster und getanzt wird Quadrilha und weitere traditionelle Tänze aus verschiedenen Teilen des Nordens und Nordostens wie den Pau de Fita („Stab der Bänder“, bei diesem Tanz verweben die Tänzer an einem hohen Holzpfosten angebrachte Bänder zu kunstvollen Mustern, indem sie im Kreis darum herum tanzen) oder den Dança do Boi („Tanz des Ochsen“, dieser Tanz geht auf die Legende von der Wunderheilung eines prächtigen Ochsen zurück). Die meisten Schulen und andere Einrichtungen veranstalten Festa Junina, die entweder gratis oder gegen einen Eintrittspreis für das Publikum zugänglich sind.

Wie ich schon in meinem letzten Rundbrief erwähnt habe, hat auch die APAE ein Festa Junina ausgerichtet, das wir fast den ganzen Juni lang vorbereitet haben. Wochenlang haben wir Dekoration gebastelt, die aus bunt gemusterten Wimpeln, Lampions, Papierblumen und Unmengen bunter Bänder bestand. Ich kann nicht beurteilen, wie es an anderen Schulen ist, aber meine Kolleginnen in der APAE sind echte Profis im Dekorieren, deshalb war der Hof der APAE am Abend des Festa Junina wunderschön festlich geschmückt.

Außerdem haben wir mit unseren Schülern Tänze einstudiert, die zusammen mit einigen Tanzgruppen von anderen Schulen das Abendprogramm gebildet haben. Es gab unter anderem einen Dança do Boi von unseren Kleinsten in süßen Kostümen aus Pappkarton, den Dança do Cangaço, der die Robin-Hood-mäßige Legende vom Räuber Lampião und seiner Braut Maria Bonita (schöne Maria) erzählt und einen Pau de Fitas, beides getanzt von unseren älteren Schülern.

Reise nach Pará

Im Juli waren noch mal zwei Wochen Ferien in der APAE, die ich genutzt habe, um nach Pará zu reisen. Dort leben vier deutsche Freiwillige von einer anderen Organisation, die ich im Februar auf dem Zwischenseminar kennengelernt habe, zwei Jungs in einem Dorf namens Juruti Velho und zwei Mädchen in einer kleinen Stadt namens Óbidos. Beide Orte liegen in der Nähe von Santarém am Rio Amazonas. Mitte Juli habe ich mich aufgemacht, um die beiden Mädels für eine Woche zu besuchen. Unterwegs war ich allerdings zwei komplette Wochen, da ich auf dem Hinweg eine etwas längere Reiseroute gewählt hatte.

Zuerst bin ich etwa 20 Stunden mit dem Bus von Piripiri nach Belém gefahren. Bélem ist die Hauptstadt des Bundesstaates Pará, einem der beiden größten Bundesstaaten des Nordens, und liegt mehr oder weniger am Amazonas-Delta. Der Name Belém ist die portugiesische Variante von Bethlehem, die Stadt ist also genau wie São Paulo (Heiliger Paulus) oder Natal (Weihnachten) mit biblischem Hintergrund benannt. Meine Mitfreiwilligen Angela und Max sind auch schon beide in Belém gewesen und ich fand es sehr interessant, wie unterschiedlich unsere Eindrücke von der Stadt waren. Ich für meinen Teil bin sehr beeindruckt und fasziniert von der Großstadt zwischen Meer und Fluss.

Aber das hängt wohl daran, auf welche Weise ich sie kennengelernt habe, nämlich durch die Augen der Familie von Cecilia, einer Bekannten meiner Chefin. Sie hat mich donnerstags abends am Busbahnhof abgeholt und ich habe zwei Tage bei ihr verbracht, bis samstags abends mein  Schiff abgelegt hat. Sie lebt mit ihrer Mutter, drei ihrer Töchter, ihrem Bruder und einer Enkelin zusammen in einem unglaublich verschachtelten Haus in Umarizol, einem der besten Viertel im Stadtzentrum. Warum sie sich das leisten können, haben sie mir erklärt. Ihre Familie hat das Grundstück gekauft und das Haus gebaut, lange bevor das Viertel so beliebt wurde und die ganzen Hochhäuser gebaut wurden. Ein echter Glücksgriff, denn so leben sie heute in  einem der sichersten Viertel der Stadt und haben alles Wichtige bequem in Laufnähe. Und können, anders als in anderen Stadtteilen, dank der relativ guten Sicherheitslage auch tatsächlich zu Fuß gehen, selbst wenn sie als reine Frauengruppe unterwegs sind.

Dadurch konnte auch ich Belém zu Fuß kennenlernen und einige Sehenswürdigkeiten besichtigen, wie den Markt Ver-o-Peso (in etwa: das Gewicht sehen), den Aussichtspunkt auf den Fluss Ver-o-Rio oder Janela-para-o-Rio (den Fluss sehen oder Fenster-zum-Fluss), die Ruinen des portugiesischen Forts in der Altstadt oder das Teatro da Paz (Friedenstheater) auf dem dazugehörigen Platz. Besonders schön und faszinierend fand ich allerdings den zoobotanischen Garten mit Pflanzen und Tieren der Region. Dort habe ich wunderschön bunte Araras, ein Becken voller Schildkröten, einen Panther, eine Boa Constrictor und vieles mehr bewundern können.

Ehrlich gesagt hat mir Belém aber nicht wegen der Sehenswürdigkeiten so gut gefallen, sondern, weil ich in den zwei Tagen ein wenig am Familienleben meiner Gastgeber teilhaben durfte. Ich konnte morgens mit der Oma am Frühstückstisch sitzen und den Erzählungen von ihren Reisen auf dem Fluss zuhören, habe mir von der elfjährigen Nichte ihren Lieblingsblick auf die Stadt zeigen lassen, mit Cecilia ihre Stammkirche besucht und eine Unterrichtsstunde im Açai-Essen bekommen. Und obwohl Belém zu den gefährlichsten Städten Brasiliens zählt, konnte ich mich unbesorgt bewegen und sogar nachts noch zu Fuß durch die Straßen laufen. Allein hätte ich das niemals gewagt, aber ich konnte mich darauf verlassen, dass meine Begleiter wissen, wo es sicher ist und wo nicht, und so habe ich Belém auf eine Art kennengelernt, wie ich es als normaler Tourist nicht gekonnt hätte.

Am Samstag musste ich dann wieder meinen Rucksack packen und mich von Cecilia und ihrer Familie verabschieden. An einem kleinen Hafen am Stadtrand bin ich am Nachmittag auf ein Barco gestiegen, ein Schiff, das auf der Linie Belém-Manaus und umgekehrt auf mehreren Decks Menschen und Waren transportiert. Für die Strecke braucht das eher langsame Barco ungefähr sechs Tage. Ganz so lange musste ich jedoch nicht darauf bleiben, da ich in Óbidos ausgestiegen bin, was ein gutes Stück vor Manaus liegt. Diese Schiffe sind eins der Haupttransportmittel in der Gegend und während der Reise hängt man an Bord zum Schlafen seine Hängematte auf, weswegen meine Freundinnen aus Óbidos auch Hängemattenschiff dazu sagen.

Drei Tage bin ich mit diesem Schiff flussaufwärts unterwegs gewesen. Und obwohl ich allein gereist bin, wurde mir während der Fahrt kein bisschen langweilig. Nicht nur, weil in Brasilien niemand allein bleibt, der nicht allein bleiben will, sondern auch, weil ich vollauf damit zufrieden war, mir stundenlang die vorüberziehende Landschaft anzuschauen. In der Nähe von Belém sind wir zuerst noch auf schmäleren Seitenarmen gefahren, sodass man gut das Ufer auf beiden Seiten sehen konnte. Dort sind wir immer wieder an vereinzelten Häusern und Hütten direkt am Wasser vorbeigekommen und überall waren Menschen in kleinen Booten unterwegs. Im Laufe des Sonntag hat sich die Umgebung dann verändert. Der Fluss wurde breiter, bis das andere Ufer kilometerweit weg und nur noch in der Ferne zu erspähen war. Ich kam mir vor wie in einer Welt aus Wasser. Wo genau der Fluss aufhört und festes Land anfängt, konnte ich oft nicht sagen, da die Pflanzen bis ins Wasser gewachsen sind und ich nicht erkennen konnte, ob irgendwo dort im Unterholz tatsächlich fester Boden vorhanden ist oder nicht.

Das Leben auf dem Schiff folgt dem gemächlichen Rhythmus des Flusses. Früh morgens wurde ich wach und habe mich aus meiner Hängematte geschält, um den Sonnenaufgang am Heck zu bewundern. Während des Frühstücks habe ich dann darüber nachgedacht, was ich wohl heute den ganzen Tag lang tun würde, nur um mich gegen vier Uhr am Nachmittag verwundert zu fragen, wie eigentlich die Zeit so unbemerkt verstreichen konnte. Dabei habe ich doch nicht viel mehr gemacht, als ein bisschen zu lesen, ein bisschen an der Reling zu lehnen, auf den Fluss zu schauen und mich ab und an mit meinen Mitreisenden zu unterhalten.

So gingen die drei Tage langsam und gleichzeitig schnell vorbei. Dienstags kam ich in Óbidos an, wo ich eine Woche bei Greta und Katja zu Besuch war. Die beiden leisten ihren Freiwilligendienst über den BDKJ Würzburg und leben zu zweit in einem Haus auf dem Grundstück der Schwestern, die ihr Projekt leiten. In der Zeit, die ich bei ihnen verbracht habe, durfte ich einen weiteren Teil Brasiliens kennenlernen, der sich in vielem von meiner Umgebung in Piripiri unterscheidet. Im Dialekt beispielsweise. So wird die Stadt Santarém in Piauí Santarén ausgesprochen, in Pará dagegen wie Santaréng. Oder Óbidos, das hier mehr oder weniger so klingt, wie es geschrieben wird, wird in Pará Óbidusch gesprochen. Auch das Essen ist etwas anders und das Klima sehr viel feuchter, wodurch ich unglaublich viel geschwitzt habe.

Aber vor allem habe ich die Lebensrealität als eine andere empfunden, auf Arten, die ich gar nicht so genau definieren kann. Vielleicht, weil die Menschen mir ärmer erschienen, der Umgangston rauer oder der Machismus ausgeprägter. Ehrlich gesagt kann ich diese Eindrücke selbst noch nicht so richtig einordnen und möchte deshalb auch nicht viele Worte darüber verlieren. Aber mir ist klar geworden, dass ich in diesem Jahr nur einen kleinen Teil dieses großen Landes und nur eine Handvoll seiner unzähligen Lebensrealitäten kennengelernt habe. Keine der Erfahrungen, die ich hier gemacht habe, lässt sich allgemeingültig auf das ganze Land und alle seine Menschen übertragen. Ich beginne sogar, mich zu fragen, wie gut ich eigentlich Deutschland kenne und wie viele Lebensrealitäten es in meinem Heimatland gibt, mit denen ich noch nie in Berührung gekommen bin.

 

Das war’s dann auch schon wieder von mir. Ich werde wahrscheinlich noch einen Rundbrief nach meiner Rückkehr veröffentlichen, in dem ich auf das Jahr zurückblicke.

Bis dahin alles Gute und viele herzliche Grüße aus Piripiri,

Kim