Bolivien: 1. Rundbrief von Silas Meyer

Hallo Ihr Lieben!

Gerade sitze ich bei einer Tasse gezuckertem Coca-Tee in meinem kleinen Zimmer meines neuen Zuhauses, dem ‚Internado Divino Salvador‘. Die Coca Blätter habe ich mir vorgestern in einem kleinen Geschäft am Dorfplatz gekauft. Der Verkäufer – mittlerweile ein bekanntes Gesicht.
Der Blick aus meinem Fenster fällt erst auf einen verrußten Schornstein, dann auf felsige, zu dieser Jahreszeit teils grün schimmernde Berge. Dabei blicke ich auf eine sehr intensive, auch oft nicht einfache Zeit zurück.

Die zweite Septemberwoche wurde, anders als erwartet, doch nicht zur erster Woche in meinem Projekt. Angekommen in Azurduy nach einer schlaflosen Nacht im Fernbus, teilte mir meine Begleiterin, eine Mitarbeiterin der Fundación Treverís, mit, dass wir in einer halben Stunde vom ‚padre‘ (Priester) abgeholt werden, um mit ihm drei Tage in die Kommunen aufs Land zu fahren. Über steinige Pisten fuhren wir also täglich in Dörfer, die auf den ersten Blick aus drei Hütten und einem Betonplatz mit Fußballtoren und Basketballkörben bestanden. Wir wurden herzlich begrüßt und großzügig mit Essen versorgt. Gegen Mittag war der Gottesdienst angesetzt und der Dorfplatz, der morgens noch menschenleer war, füllte sich immer mehr mit Personen, die, wie ich erfuhr, vereinzelnd in vielen kleinen Häusern wohnen, teilweise vier Stunden Fußmarsch entfernt. Der Gottesdienst fand meist in Klassenzimmern statt, die vor lauter Leuten aus allen Nähten platzten. Die kurze, sehr interessante Zeit fühlte sich für mich an wie ein halbes Leben und war unglaublich kräftezehrend. Neben meinem Schlafmangel lag das daran, dass ich durchgehend Fragen beantworten musste, vorgestellt wurde und auch mit meinen Begleitern, dem padre und der Mitarbeiterin der Fundación, nur auf Spanisch kommunizieren konnte. Außerdem hatte ich, lacht nur, drei Tage weder Handyempfang noch Internet. Hört sich nach keiner großen Herausforderung an. Wenn man aber an den Google Translater gewöhnt ist, auf ein paar wichtige Nachrichten wartet und das Handy die einzige Verbindung zur muttersprachlichen Welt darstellt, kann man sich vielleicht vorstellen wie ich mich fühlte, als nach dem dritten Tag unseres Ausflugs der Handydisplay ‚3G‘ anzeigte.

die Kommune ‚Thiomayo‘

 

Meine Eigentliche Beschäftigung startete also schließlich erst gegen Ende September, was bedeutet, dass ich mittlerweile seit gut zwei Monaten in Azurduy lebe, unterbrochen von gelegentlichen Wochenendausflügen nach Sucre, wo mir nach wie vor mein Zimmer in dem Bürogebäude der ‚Fundación Treverís‘ zur Verfügung steht. Um meine Arbeit besser zu verstehen, muss man wissen, dass die Organisation ‚Fundación Solidaridad y Amistad Tréveris-Chuquisaca‘ (Stiftung Solidarität und Freundschaft Chuquisaca-Trier) aus einer seit mehr als 50 Jahren bestehenden Partnerschaft zwischen dem Bistum Trier und der Erzdiözese Sucre hervorgegangen ist. Das Bürogebäude befindet sich mitten in Sucre, allerdings kümmert sich die Stiftung um Ausbildung und Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Menschen mit Behinderung im ländlichen Bereich der Region. Ihre 23 Internate und Bildungszentren sind im ganzen Bundesstaat ‚Chuquisaca‘ verteilt. Finanziell wird sie hierbei weitgehend unterstützt vom BDKJ (Bund der Deutschen Katholischen Jugend) Trier. Aufgrund der engen Zusammenarbeit werden von Trier aus Begegnungsreisen nach Bolivien organisiert und der Erlös der ‚Bolivien Kleidersammlung‘ kommt den Projekten der Stiftung zugute (da also fleißig mitwirken – findet normalerweise gegen Ende Mai statt). Jedes Jahr lädt die Fundación zwei Freiwillige aus Deutschland ein, welche dann in Projekten eingesetzt werden, die sich vom vorherigen Jahrgang unterscheiden. So kommt es, dass in meinem Ort das letzte Mal vor drei Jahren eine Freiwillige lebte und sich seitdem Strukturen und vor allem Personal verändert hat.

Meine Arbeit

In meinem Ort Azurduy gibt es zwei von der Fundación unterhaltene Einrichtungen. Einmal das ‚Internado Divino Salvador‘, außerdem das ‚H.R.B.C.‘ (‚Habilitación Reabilitación Basade en la Comunidad‘) eine Nachmittagsbetreuung für Menschen mit physischer und intellektueller Beeinträchtigung, von den Leuten hier ‚Centro‘ genannt. Hier arbeite ich jeden Tag zwischen 2 und halb 6. Außer mir gibt es zwei profesoras und eine Physiotherapeutin. Jeden Tag kommen zwischen 10 und 20 Personen jeglichen Alters in die Betreuung. Die Anzahl variiert, weil einige weit außerhalb von Azurduy leben. In der Betreuung habe ich mich sehr schnell eingelebt und fühle mich wohl. Schon in Deutschland, wo ich in einer Schule ein kurzes Praktikum gemacht habe, fand ich die Arbeit mit Menschen mit Behinderung sehr besonders. Die Leute im Centro sind unglaublich herzlich. Jedes Mal, wenn ich zur Arbeit gehe, erwarten mich freundliche Gesichtsausdrücke und es kommt schon mal vor, dass ich zur Begrüßung fest umarmt werde. Neben Schreibaufgaben und Basteln besteht die Beschäftigung der Männer und Frauen auch aus einem Gemüsegarten, in dem zweimal die Woche gearbeitet wird. Abwechselnd wird jeden Tag etwas kleines gekocht und so gibt es gegen Ende immer ein heißes Getränk oder ein frühes, einfaches Abendessen, zum Beispiel Linsen mit Reis. Weil die meisten Personen taubstumm sind, erhalten sie seit kurzem auch Unterricht in Zeichensprache und so habe ich auch die Möglichkeit das ein oder andere zu lernen – das Alphabet sitzt schon mal!

mit dem Menschen aus dem Behindertenzentrum

Das kleine Internat beherbergt 34 Schüler, Mädchen und Jungen im Alter zwischen 12 und 19 Jahren, deren Familien auf dem Land leben und der Schulweg zu weit ist. Aus diesem Grund wohnen sie unter der Woche im Internat und fahren übers Wochenende nach Hause. Geleitet wird die Einrichtung von einer jungen Frau, die mit ihrem Ehemann und ihrem Kind im Internat lebt. Außerdem gibt es eine Köchin. Zwei Personen für die Betreuung von 34 Jugendlichen? Ja, das kam mir am Anfang auch unglaublich wenig vor. In Bolivien ist das aber Standard und so übernehmen die Kids viele Aufgaben, für die es in Deutschland wahrscheinlich weitere Mitarbeiter gäbe. Zweimal die Woche kümmern sie sich um die Gemüsegärten und sonntags backt immer ein Zimmer Brot für die ganze Woche. Vormittags und teilweise nachmittags haben die Jugendlichen Unterricht im ‚Colegio‘, sind also nicht im Internat. Vormittags helfe ich dann entweder in der Küche oder erledige andere Aufgaben, die anstehen. Ich nutze die Zeit auch um Spanisch zu lernen oder meine Wäsche zu waschen. Ich wasche immer per Hand, wie das alle hier machen. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und bei gutem Wetter und Musik kann das auch sehr entspannend sein. Ein Waschgang nimmt allerdings auch mal den ganzen Vormittag ein. Das ist ein bisschen anders, als in Deutschland zwei Knöpfe zu drücken. Die ‚chicos‘ (Jugendliche) sehe ich also nur zu den Essenszeiten und abends. Mittlerweile ist die Schnupperphase vorbei und ich habe sie echt alle sehr lieb gewonnen. Wir gehen abends oft gemeinsam Fußball spielen, ich helfe ihnen bei ihren Englisch Hausaufgaben und neben dem ein oder anderen Spieleabend gab es auch schon mehrere Kinonächte mit einem Beamer, den ich bei der Fundación ausgeliehen hatte.

Projekte und Feiertage

ein Teddy protestiert für seine Ansichten

Am 8. Oktober war in der ganzen Region der ‚diá de limpieza‘ (Tag des Aufräumens). An diesem Tag gehen die Kinder, statt in die Schule, bewaffnet mit Besen und Mülltüten auf die Straße, um den ganzen Vormittag zu kehren und Müll zu sammeln. Schüler des Colegios und ich haben uns zu diesem Tag eine kleine Aktion überlegt. Wir haben Plüschtiere gesammelt und sie mit kleinen Botschaften zum Thema Müllentsorgung und Umweltschutz ausgestattet, wie zum Beispiel :“La tierra no es un basurero. Resiclamos!“ (Die Erde ist kein Mülleimer. Lasst uns recyclen!) Die Plüschtiere haben wir dann auf dem Dorfplatz um die Statue der Schutzpatronin aufgestellt, so dass es wie ein Protest von Plüschtieren aussah. Den ganzen Vormittag kamen Leute vorbei, um die kleinen Zettel zu lesen und Fotos zu machen. Die Schulklassen der Grundschule waren zur gleichen Zeit dabei den Dorfplatz sauber zu machen und als eine Lehrerin unsere Botschaften entdeckte, ließ sie ihre Kinder die Zettel einzeln vorlesen und erklärte was sie bedeuteten. Die kleine Aktion war ein voller Erfolg und hat riesig Spaß gemacht.

unerwartete Unterstützung durch Lehrkräfte

Mitte Oktober ereignete sich mein persönliches Highlight seit ich hier in meinem Projekt bin und ich möchte euch unbedingt davon berichten. Von Azurduy aus fuhr ich zusammen mit einigen Personen des ‚Centros‘ und einer Profesora für zwei Tage zu einem jährlichen Fest für Menschen mit Behinderung, welches von der Fundación Treverís organisiert wurde. Nachdem wir die ganze Nacht mit dem Fernbus unterwegs waren, kamen wir in einem großen Haus unter, wo wir unsere Matratzen ausbreiteten, die wir in Azurduy im Internat ausgeliehen hatten. Nach ein paar Stunden Schlaf gab es dann ein kleines Frühstück, bestehend aus süßem Brot und Tee. Als wir uns dafür in die Schlange stellten, bemerkte ich erst wie viele Gruppen außer uns im Haus geschlafen haben mussten. Das ganze Haus war voll mit Menschen. Ich erfuhr das Gruppen aus sieben ‚Municipios‘ (Gemeinden) angereist waren, wo es überall ähnliche Zentren gibt, wie jenes, in dem ich arbeite. Vormittags gingen alle gemeinsam zum Dorfplatz, wo Stände aufgebaut wurden und es eine kleine Messe gab, mit Produkten, die ausschließlich in den Zentren hergestellt wurden. Wir hatten Gemüse aus unserem Garten, Armbänder, geflochtene Körbe und Gebäck dabei.

unser kleiner Marktstand

Es war ein sonniger Tag und die Atmosphäre war wahnsinnig positiv und ansteckend. Die Gruppen wurden einzeln vorgestellt, nachdem die Nationalhymne gesungen wurde. Es war das erste mal, dass ich die Nationalhymne gehört hatte. Die Melodie ist sehr schön und die Männer streckten beim singen ihre Faust in die Luft. Zum gemeinsamen Mittagessen ging es zurück in die Unterkunft. Nachmittags gab es ein Fußballturnier in einer Turnhalle. Für jede Mannschaft durfte ein Betreuer mitspielen und so führte ich mein Team ’souverän‘ durch die Vorrunde. Abends füllte sich die Halle bis auf den letzten Platz, denn der Tanzwettbewerb stand auf dem Programm.

mit meiner Tanzgruppe kurz vor der ‚Marcada‘

Wir hatten die Wochen vorher fast täglich zwei Tänze geprobt, die wir, wie alle anderen Gruppen, vorführen sollten. In der ersten Runde ging es um die traditionellen Tänze der jeweiligen Region. In Azurduy ist dies die ‚Marcada‘ (Markierung).
Kleiner Exkurs – Azuruduy ist bekannt für seine Milchkühe. Der Tanz ist eine Hommage an das Heranpirschen und Einfangen der Tiere, um diese zu Markieren. Als Mann trägt man ein weißes Hemd mit dunkler Hose, einen geschmückten Sombrero, Sandalen und ein Lasso über der Schulter.
Mit einer ordentlichen Portion Lampenfieber wurde ich – anders als in den Proben – in die erste Reihe gestellt. Es ging alles gut, bis plötzlich die Musik ausging. Meine Truppe (fast alle taubstumm) hat das allerdings nicht mitbekommen und weiter getanzt. Lachend und unter dem Klatschen der Zuschauer haben wir dann den Tanz ohne Musik zu Ende gebracht. Der zweite Tanz verlief ohne große Überraschung. Zuletzt war der Wettbewerb der ‚Ñusta‘ (indigener Name für eine Prinzessin im Inka-Reich), bei dem jede Region eine Tänzerin stellt, die dann nacheinander mit einem Tanz ihrer Wahl versuchen, die Jury zu überzeugen. Wir haben bei allen drei Tänzen gut abgeschnitten, aber das war für mich nur nebensächlich. Die Teilnehmer und Zuschauer hatten alle super viel Spaß. Als Preis gab es für die Siegerdelegation statt Geld einen riesigen Sack Reis, Sonnenblumenöl und Nudeln – da wurde also praktisch gedacht. Am nächsten Morgen fanden die noch ausstehenden Partien des Fußballturniers statt. Vorher war allerdings das prestigeträchtige Spiel zwischen den Mitarbeitern der Fundación und dem Bürgermeisteramt der Kommune. Für meinen Chef gab es den ganzen Monat vorher kein wichtigeres Thema und so war ich erleichtert, als wir kurz vor Schluss den Ausgleich erzielten und uns mit vier zu vier unentschieden trennten. Die folgenden Partien der Menschen mit Behinderung waren dann unglaublich lustig anzusehen und mit unserer Auswahl holten wir den zweiten Platz. Müde und glücklich machten wir uns dann nachmittags mit dem Bus auf den Heimweg nach Azurduy.

zweiter Platz – aber Sieger der Herzen

Ende Oktober habe ich mein erstes kleines Projekt im Internat umgesetzt. Die Kampagne hieß ‚Limpieza del MI Internado‘ (Aufräumen MEINES Internats). Zur Unterstützung kam eine Mitarbeiterin der Fundación, die sich um ehrenamtliche Arbeit Jugendlicher kümmert. Wir begannen, indem wir den Jugendlichen kurze Clips zum Thema Müllentsorgung zeigten und Mülleimer aus Holz herstellen ließen. Diese sind nämlich Mangelware so ziemlich in ganz Bolivien. An zwei Tagen putzten wir dann zuerst Flure, Zimmer und Bäder, später sammelten wir Müll auf dem Gelände ein. Bevor ich im Internat anfing, haben die Kinder jeden Freitag den Müll verbrannt. Es ist gar nicht so einfach sie jetzt davon zu überzeugen, dass wir das nicht mehr machen sollten. Auf dem Land wird es fast überall so gehandhabt und die Kinder sind damit aufgewachsen. Am Ende der beiden Tage gab es dann zur Belohnung einen Filmabend mit Popcorn und Softdrinks.

beim Müllsammeln mit den Jugendlichen

Am 1. und 2. November wurde in allen christlichen Ländern Allerheiligen und Allerseelen gefeiert. So auch in Bolivien. In Deutschland habe ich die Tage nie bewusst gefeiert, mich höchstens gefreut, dass Schulfrei ist. Hier war das anders.
Kleine Anekdote. Ich stand vor der Wahl übers lange Wochenende nach Sucre zu fahren oder hier zu bleiben. Weil ich schließlich hier keine Familie habe, um deren Toten zu gedenken habe ich den ‚padre‘ gefragt, ob er meine Hilfe gebrauchen könnte. Donnerstags wurde ich also für um 8 Uhr ins Pfarrbüro bestellt. Er erklärte mir, ich solle die ‚Messe notieren‘ was so viel bedeutet, wie die Namen Verstorbener zu notieren, die dann gegen einen kleinen Geldbetrag während der Messe vorgelesen werden, um den Toten zu gedenken. Normalerweise sind dies stets zwischen fünf und zehn Personen. Am römisch-katholischen Tag der Verstorbenen allerdings etwas mehr, wie ich erfahren sollte. Nach einminütiger Einweisung, meinte der padre dann auch schon, er würde wegfahren und mittags wieder zurückkehren. Fünf Minuten später war der Raum voll mit Menschen, die wie in einer Markthalle mit ihrem Geld winkten und mir Namen von Verstorbenen zuriefen – einige in ‚Quechua‘, der indigenen Sprache. Problematisch war, dass ich weder spanische Nachnamen noch ihre Schreibweise kannte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Namen so aufzuschreiben, wie ich sie ungefähr verstand, bewusst, dass die Rechtschreibung vielem ähnelte, aber nicht der spanischen Sprache. Der Menschenstrom hörte einfach nicht auf und erst nach dreieinhalb Stunden schreiben, wurden es langsam weniger. Der padre kam schließlich, allerdings nicht um die Mittagszeit, sondern um halb 5.
Nicht, dass man mich falsch versteht – es war stressig, aber eine unglaublich lehrreiche Erfahrung. Ich hatte die Gelegenheit mit vielen Menschen aus dem Dorf zu sprechen und sie etwas näher kennen zu lernen. Am nächsten Tag in der Messe war allerdings mein einziger Gedanke, ob die Namen der Verstorbenen ungefähr richtig und lesbar seien. Inmitten des Vorlesens der Listen während der Messe wurde der padre unterbrochen und von einer älteren Frau gefragt, wer die die Namen notiert habe. Als sie dann auf mich zustapfte und mir das Herz schon in die Hose rutschte, bat sie mich jedoch nur darum weitere Namen aufzuschreiben, sie hätte am Vortag keine Zeit gehabt.
Der Feiertag an sich – Todos Santos (Allerheiligen) – ist in Bolivien unglaublich schön und gesellig. Als Familie stellt man in einen Raum eines Zimmers einen kleinen Tisch. Diesen Altar dekoriert man zu Ehren der kürzlich verstorbenen mit lauter Leckereien, die dem Verstorbenen entsprachen. Neben Wurst und Gebäck findet man so auf den Tischen dann auch oft Zigaretten, Bier und Cocablätter.

typischer Altar zu Ehren zwei Verstorbener

Ich wurde von zwei Familien in ihr Haus eingeladen, wo es reichlich Essen und Trinken gab. Das Nationalgericht zu diesem Anlass heißt ‚Mondongo‘, bestehend aus Fleisch mit Mais und Kartoffeln und einer super leckeren, pikanten Sauce. Abends sitzt man gesellig beisammen und es werden reichlich alkoholische, oft selbst gebraute Getränke konsumiert. Später wird dann getanzt. Es ist einer der wenigen Tage, an dem die ganze Familie beisammen ist, denn die Söhne und Töchter reisen aus den Städten an. Ich finde die Art und Weise wie dieser Tag zelebriert wird sehr beeindruckend, weil er Gemeinschaft, Feiern und Spaß haben auf der anderen Seite aber auch Andacht, Kirche und Vergänglichkeit vereint.

 

Aller Anfang ist  schwer

Wie angekündigt möchte in jetzt nach knapp vier Monaten über ein Thema schreiben, welches mir Freude, allerdings hundertmal öfter Kopfschmerzen bereitete – die Sprache.
Zur Ausgangssituation. Ich hatte kein Spanischunterricht in der Schule, allerdings zwei Monate vor meiner Ausreise die Möglichkeit, mit einer Lehrerin jede Woche eine Stunde Spanisch zu lernen. Mit einem sehr limitierten Wortschatz und quasi keinem Wissen von der Grammatik startete ich also in Sucre in den vierwöchigen Sprachkurs. Im Sprachkurs hatte ich Spaß am Lernen und meine beiden Lehrer waren sehr kompetent, allerdings war es mein erster Monat in Sucre und es gab neben der Sprache auch ganz viele andere neue, interessante Dinge – Menschen, Orte, Gerüche, Geschmäcker,… . Wenn man das alles verarbeiten möchte, bleibt dann manchmal vom Sprachunterricht nicht ganz so viel hängen, wie man es sich wünscht. Ich hatte zu dieser Zeit definitiv auch eine falsche Vorstellung. In Deutschland wurde mir immer nur gesagt: „Wie cool dann sprichst du ja Spanisch in einem Jahr!“ Ich nahm also an, dass das Sprechen von alleine, käme, hatte aber nicht bedacht, dass der Weg dahin ganz schön steinig sein kann. Jetzt wünsche ich mir, mir hätte schon in Deutschland jemand in den Hintern getreten und gesagt, dass man wirklich Zeit investieren und lernen muss, um eine Sprache möglichst schnell zu sprechen.
Vielleicht gibt es einige, die Sprachen erlernen, indem sie zuhören und nachplappern – ich nenne das die Baby-Strategie – bei mir funktioniert dies leider nicht. Ich habe also vor allem in den ersten beiden Monate nur kleine Fortschritte verzeichnen können und weniger gut Spanisch gesprochen, als ich mir das im Vorhinein erhofft hatte. In Gesprächen kann es sehr frustrierend sein, wenn man seinem gegenüber nicht das mitteilen kann, was man sagen möchte. Es gab Situationen, da wurde ich ausgelacht oder auch angeschrien, weil ich den Inhalt des Gesagten nicht verstand. In der Schule ist die Fremdsprache ein Unterrichtsfach. Hier ist es mein Werkzeug. Mein wichtigstes Werkzeug, welches ich täglich brauche, um Absprachen zu treffen, Dinge begreifen zu können oder mir auch nur etwas zu Essen zu kaufen. Wenn das Werkzeug nicht funktioniert hat man ein ziemlich großes Problem. Aus Europa bin ich es gewöhnt, auf andere Sprachen zurückgreifen zu können. Mit Englisch bin ich bisher überall weiter gekommen, falls es ein Kommunikationsproblem gab. Diese Möglichkeit besteht in Bolivien nicht. Auf Englisch kriegst du nicht einmal einen Kaffee!
Zusammengefasst hatte ich mit der Sprache mehr Probleme als erwartet. Mitte September habe ich angefangen fast täglich meinen Wortschatz um ein paar Vokabeln zu erweitern. Altmodisch, mit Stift und Papier. Ich komme von Zeit zu Zeit immer besser zurecht und kann auch ohne Probleme kurze Unterhaltungen führen. Der Fleißigste war ich leider in der Schule schon nie. Ich glaube also, es braucht noch eine ganze Weile, bis ich mich sicher in der Sprache fühle.

ein Esel kommt mich besuchen
die Schüler des Internats beim Brotbacken

Abschließend bleibt zu sagen, dass dieser Rundbrief so lange auf sich warten ließ, weil ich ihn erst veröffentlichen wollte, wenn ich mich hier in meinem Projekt wirklich wohl fühle. Das Eingewöhnen hat sehr lange gedauert und der Prozess ist sicherlich noch nicht abgeschlossen. Der ‚Campo‘ (das Land, dörfliche Region) unterscheidet sich nun mal sehr stark von den Großstädten wie Sucre. Es gibt äußere Umstände, die sich von dem Gewohnten unterscheiden. Oft wird das Wasser oder der Strom abgestellt. Manchmal sogar für mehrere Tage. Es stehen nicht immer alle Lebensmittel zur Verfügung, sondern das, was die Saison hergibt oder von Sucre importiert wurde. Mittlerweile sind das keine Probleme mehr. Man muss sich einfach darauf einstellen und vorsorgen. Ein größeres Problem ist, dass ich hier kaum Leute in meinem Alter treffe, weil die jungen Erwachsenen, nachdem sie ihre Schule abschließen, normalerweise in die Großstädte ziehen, um zu studieren oder zu arbeiten. In meiner Anfangszeit im Internat war ich außerdem vormittags oft recht beschäftigungslos. Ich musste feststellen, dass die beiden verantwortlichen Frauen nicht so kommunikationsfreudig sind, wie ich mir das vorgestellt habe. So musste ich mir meine Aufgaben oft selbst suchen. Die Rolle die ich im Internat einnehme, ist manchmal schwer umzusetzen. Als Betreuer wird von mir erwartet, dass ich die Jugendlichen zurechtweise und schaue, dass Regeln eingehalten werden. Gleichzeitig sind die Jugendlichen mir von einigen Denkweisen aufgrund ihres Alters doch sehr ähnlich und es werden Freundschaften aufgebaut. Umso seltsamer ist dann das Gefühl, wenn ich teilweise Gleichaltrigen um 22 Uhr den Fernseher abstellen muss, weil die Nachtruhe beginnt. Auch mein Dasein als Europäer birgt Schwierigkeiten. Als einziger Weißer im Dorf fällt man überall auf. Zwischen Internat und Stadt liegen bloß fünf Minuten Fußweg. Jedes mal werde ich von großen Augen angestarrt und ich sehne mich manchmal zurück zu der Anonymität des Stadtlebens. Die meisten Menschen treten mir sehr herzlich gegenüber. Es werden Hände geschüttelt und Fragen gestellt. Oft höre ich im Vorbeigehen Bemerkungen, wie ‚alemán‘ (Deutscher), ‚choco‘ (indigener Name für Blonder) oder ‚gringito‘ (Verkleinerungsform von Gringo – geläufige Bezeichnung für „Weißer“ in Lateinamerika). Normalerweise ist das lustig und nicht abwertend gemeint, trotzdem weisen die Wörter mir einer Außenseiterrolle zu und können deshalb verletzend sein.

Die ersten zwei Monate im Projekt waren also ein Auf und Ab. Weil jeden Tag Herausforderungen auf mich warten, die ich oft meistere, genauso oft aber auch in die Hose gehen, wechselt meine Stimmungslage manchmal mehrmals am Tag. Ich bin froh, die Möglichkeit zu haben, übers Wochenende ab und zu nach Sucre zu fahren und dort eine Art Ausgleich zu finden. Dort kann ich mich mit Florentine austauschen, die ähnliche Erfahrungen macht. Das Gute ist, dass es nur besser werden kann mit der Zeit. Ich lerne neue Leute kennen, die Menschen vor Ort gewöhnen sich an mich und Azurduy wird von Woche zu Woche mehr mein Zuhause. Ich bin nach wie vor sehr glücklich in meinem Freiwilligendienst, denn jede Woche hält Dinge für mich bereit, die mich staunen lassen. Ganz langsam geht mein Blick in Richtung Schulferien der Jugendlichen, welche am 10. Dezember starten und bis Februar andauern. Die Zeit möchte ich nutzen, um Freunde zu besuchen und das Land zu bereisen.

Ich halte euch auf dem Laufenden!

Hasta Pronto! (Bis bald!)

Silas