Bolivien: 1. Rundbrief von Luisa Boos

Hallo ihr Lieben,

ich bin jetzt seit fast vier Monaten in Bolivien und es ist viel zu viel passiert, um alles in einem einzigen Rundbrief festzuhalten. Daher wird dieser erste Eintrag nur einen kleinen Einblick in mein Leben hier geben können und ganz sicher nur einen winzigen Einblick in dieses vielfältige Land…

Zwei Uhr nachmittags. Ich sitze in meinem Zimmer, starre auf den Bildschirm und versuche, das blanke Chaos in meinem Kopf auf magische Weise in Worte zu verwandeln. Heute fühle ich mich mal ausnahmsweise nicht wie ein pollo en la plancha (gegrilltes Hähnchen); der plötzliche Regen gestern Nacht hat für angenehme Temperaturen gesorgt, weswegen es mir eigentlich gelingen sollte. Doch irgendwie verging die Zeit in den letzten Monaten wie die Busfahrt von La Paz nach Santa Cruz: In einem Moment steht man ewig an der gleichen Stelle und im nächsten wechselt die Landschaft gefühlt im Sekundentakt.

Sicht aus dem Busfenster bei La Paz

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – ich musste bereits feststellen wie schnell sich meine Stimmung sowie meine Wahrnehmung verändern kann. Doch seltsamerweise bleiben mir, wenn ich auf die Zeit zurückblicke, stets eher die schönen Augenblicke, die neuen, faszinierenden, zu viele um sie alle aufzuzählen.

Concepción 

Nach dem Aufenthalt in der bewegten Zwei-Millionen-Stadt Santa Cruz war das abgeschiedenere, gemütliche Örtchen eine Erholung für mich. Einen Monat lang habe ich mit drei anderen deutschen Freiwilligen in Santa Cruz verbracht und an einem Sprachkurs teilgenommen. Mit einer der Freiwilligen habe ich sogar in einer Gastfamilie gelebt, eine etwas seltsame, doch auf keinen Fall schlechte Erfahrung. Doch auch wenn ich die Zeit mit den Dreien genossen habe, war ich doch die ganze Zeit gespannt auf dieses sagenhafte Concepción, von dem mir alle erzählten. „Concepción? Da war ich letztens. Sehr schön. Und sehr heiß.“, so oder so ähnlich lauteten die Kommentare, wenn ich erzählt habe, dass ich dorthin gehen würde.

In Concepción, oder Conce, wie es auch von den Einwohnern oft genannt wird, läuft alles sehr „tranquilo“ (ruhig), abgesehen von den Motorrädern die als Hauptverkehrsmittel ständig die Straßen passieren. Was auch kein Wunder ist bei den tropischen Temperaturen, die hier herrschen und die Mücken dazu einladen mich nach Lust und Laune zu verspeisen (Meine Beine sehen ständig aus als hätte ich Windpocken).

 

wenn die Temperaturen unerträglich werden, sorgt der große See für eine Abkühlung

Conce ist außerdem sehr überschaubar, jeder kennt jeden, und zu Fuß, ansonsten mit dem Motorrad, kann man gut jeden Ort erreichen. Wenn ich meine Gastmutter bei ihren Einkäufen begleite, wird nach links und rechts gegrüßt, dort eine Cousine, dort ein Großonkel, dort die Frau bei der die Brötchen gekauft werden. Dort der Sohn von der Schwester von Hmhmhm, der diese hmhmhm geheiratet hat und von dem aber die Cousine, die Lehrerin ist, die Kollegin von meinem Onkel, kennst doch meinen Onkel hmhmhm? Jedenfalls hab ich dessen Sohn letztens mit hmhmhm gesehen. Ernsthaft? Ja, wirklich. Nein! Doch. Ooh!

Kein Wunder, dass ich ständig den Spruch „Pueblo pequeño, infierno grande“ (kleines Dorf, große Hölle) zu hören bekomme.

Natürlich wird auch über mich ordentlich getratscht und natürlich bin ich besonders am Anfang das Zentrum der Aufmerksamkeit gewesen, alle wollten mich kennenlernen oder zumindest einmal mit mir geredet haben. Zum Glück für mich ist der Mensch ein Wesen von kurzer Aufmerksamkeitsspanne, sodass sich der Trubel um mich nach einer Weile ein wenig gelegt hat. Und unter all denen, die mich kennenlernen wollten, habe ich schließlich auch gute Freunde gefunden, denen ich vertrauen kann. Aber dazu später mehr.

Umgeben ist der Ort von einer wunderschönen und scheinbar endlosen Weite, die man jedes Mal durchquert, wenn man die Stadt verlässt. Riesige Schmetterlingsschwärme, die die den Himmel mit gelben Tupfern besprenkeln und deutlich sichtbare Regenbögen neben tiefblauen Gewitterwolken verstärken das seltsame Gefühl in mir, dass ich mich in einem sehr realen Traum befinde. Doch spätestens nach einer Stunde auf den hügeligen Straßen, wenn mein Gesicht die gleiche Farbe angenommen hat wie die Landschaft (ein schönes saftiges Grün), kann ich die tolle Aussicht schon nicht mehr genießen. (Selbst wenn ich mit meinen Freundinnen auf einer Matratze liege, die hinten auf den Pick-Up geladen wurde, wirklich eine tolle Art zu reisen)

Im Zentrum (und gleichzeitig am Rand, fragt mich nicht wie das geht) steht die Kathedrale, die mit deutscher Unterstützung errichtet wurde und der Stolz der Einwohner ist (zu Recht). Direkt davor ist die Plaza, die an warmen Nächten (also fast immer) mit Menschen gefüllt ist und an der man immer irgendwen trifft, den man kennt. Hundert Meter von der Plaza entfernt ist mein Projekt, die Musikschule Martin Schmid, eine Straße weiter wohne ich.

      Die Plaza bei Tag…                          …und bei Nacht

Die Wohnung ist aus meiner Sicht perfekt: Ich besitze ein eigenes Bad mit warmem Wasser, eine kleine Küche, in der ich mir sonntags etwas kochen kann, und einen Garten mit Veranda. An der Palme, die darin wächst, ist mittlerweile eine Cattleya (die Orchidee des Ortes) erblüht und ab und zu sehe ich wundersame Tiere durch das Gras huschen. Links neben mir wohnt eine ältere Schweizerin, die mir Früchte schenkt (Mangos, Papayas, Bananen?) rechts von mir wohnt meine Chorleiterin. Gewöhnen muss ich mich nur etwas an das Waschen per Hand, doch ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, dass man sich an so ziemlich alles gewöhnen kann. Außer an die Hitze.

Das Projekt

Das Ensamble war auf einem sehr guten Level, hatte viele Schüler, Lehrer, Instrumente, bis der Direktor vor wenigen Jahren mit dem Bürgermeister eine neue Musikschule aufgemacht hat und fast alle Lehrer und Instrumente mitgenommen hat, woraufhin die große Mehrheit der Schüler ebenfalls gewechselt ist. Mittlerweile wurde die Schule wieder aufgebaut, es wurden neue Lehrer gesucht und jeder Schüler hat ein eigenes Instrument, doch dieses Ereignis hat natürlich Spuren hinterlassen, weswegen noch sehr viel zu tun ist. Dass ich kommen würde, wussten die Verantwortlichen schon vor einem Jahr, ich wurde sehr schnell und herzlich aufgenommen und bin erstaunt darüber, wie willkommen meine Unterstützung ist. Ich habe drei (und bald wahrscheinlich mehr) Klavierschüler, privat fragen mich auch viele (Jugendliche) ob ich ihnen auf der Gitarre ein paar Dinge beibringen kann. Außerdem gebe ich Theorieunterricht: Die Lehrer bereite ich auf ihre Musikprüfung in Urubicha vor (an dieser Stelle ein riesiges Dankeschön an meinen Klavier- und meinen Musiktheorielehrer, ich weiß doch noch mehr als ich gedacht hätte!), der Chor muss allerdings erst noch lernen Noten zu lesen, wobei ich auch helfe. Doch vor allem assistiere ich der Chorleiterin Annemie, mache Aufwärmübungen, helfe bei der Vermittlung, bespreche mich mit ihr über Schüler und Maßnahmen, begleite auf dem Klavier und vertrete sie, wenn sie nicht kommen kann. Annemie ist Belgierin, spricht neben 6 weiteren Sprachen auch Deutsch, doch wir sprechen stets Spanisch miteinander. Mit ihr unterhalte ich mich über Musik, ein Thema bei dem sie viel zu erzählen hat: Egal ob in Israel, Irland, Namibia, überall hat sie schon unterrichtet, ein Fakt der nicht nur mich, sondern auch die Chorschüler (die kaum den Ort verlassen und alle nur ihre Muttersprache sprechen) immer wieder auf‘s Neue fasziniert.

Natürlich nehme ich auch selbst am Chor teil. Und auch wenn wir viel mit Unpünktlichkeit zu kämpfen haben (eine halbe Stunde Verspätung ist leider sehr normal), finden sich unter den Jugendlichen genug, die mit viel Spaß und Talent bei der Sache sind. 

Meine Arbeit besteht also nur aus Musik. Was will man mehr?

 

El festival de la Orquídea (das Orchideenfestival)

Jedes Jahr im Oktober findet zu Ehren der Cattleya ein dreitägiges Festival statt, zu dem Menschen von überall herkommen. Drei Tage lang können die unterschiedlichsten Orchideen (vor allem aber die Cattleya) in Form von Zeichnungen und Malereien, geschnitzt, geschauspielert, aufgemalt, in der aufwendigen Frisur der Miss Orquídea oder natürlich im Original bewundert werden. Es werden Wanderungen veranstaltet, bei denen man die Orchideen in ihrem natürlichen Umfeld sieht, und ganz nebenbei eine atemberaubende Sicht auf die eindrucksvolle Landschaft der Chiquitania hat. Auf der Plaza wird eine Bühne aufgebaut, außerdem lauter Stände, an denen die notorisch gelangweilte Dorfjugend ihr Geld für schmerzlose Piercings, Spiele und ganz viel Plastik lassen kann.

Und natürlich gibt es auch ein Musikprogramm. Da kommt unter anderem das Ensamble Padre Martin Schmid ins Spiel. Wir haben jeden Tag folkloristische und barocke Stücke in einer gut gefüllten Kathedrale zum Besten gegeben, wobei auch mal Tränen bei angeblich missglückten Soli flossen, die allerdings unbegründet waren.

Alles in allem war es ein sehr gelungenes Fest. Die Häuser sind nun mit Orchideen (karrenweise eingekauft von übereifrigen Hausfrauen) bereichert; die bemitleidenswerte Miss Orquídea wurde endlich von ihren hohen Schuhen, dem Make-Up und ihren zahlreichen Anwesenheitspflichten befreit; und auch die Schüler unserer kleinen Musikschule hatten sich ihren freien Tag redlich verdient.

Abends gibt es ständig malerische Sonnenuntergänge zu sehen

Auch ich konnte mich nun wirklich nicht über Langeweile beklagen. Da mein Gastvater (vielleicht sollte ich das mal erklären: Den ersten Monat habe ich zur Eingewöhnung bei einer tollen Gastfamilie verbracht) der neue Bürgermeister der Stadt ist, war ich bei den meisten Veranstaltungen dabei, und meine Wohnung habe ich nur dann zu Gesicht bekommen, wenn ich mich umgezogen habe, um auf die nächste Party, Konzert, Wanderung etc. zu gehen.

Meine Gastschwester und ihre beste Freundin, die jetzt auch meine Freundin ist, nutzen die Vorteile meiner Wohnung (sie ist direkt hinter der Schule) gerne und oft, was bedeutet, dass die Befürchtung meiner Gastfamilie, ich könne ja einsam werden, unbegründet bleibt. Mittags und Abends esse ich außerdem bei einer liebenswürdigen älteren Dame in ihrem “Restaurant“ (wenn man’s denn so nennen kann), bei der es immer leckeres Essen und Saft aus den Pflanzen im traumhaften Hof gibt. Mit ihrem Enkel und dessen Freunden hab ich mich angefreundet, außerdem mit ein paar der Stammgäste. Beim Mittagessen wird sich immer gut unterhalten, kaum einer nimmt schweigend seine Mahlzeit zu sich wie so oft in Deutschland. Abends schau ich mit der Familie noch Fernsehen oder gehe mit meinen Freunden zur Plaza, wo sich immer die Jugendlichen aufhalten, von denen ich viele bereits kenne. Es ist schwer sich in Concepción alleine zu fühlen. Doch ich mag es auch meine eigene Wohnung zu haben, in die ich nach einem anstrengenden Tag mit vielen neuen Erfahrungen zurückkehren kann.

Ich bin immer wieder unglaublich froh, dass ich schon ein gutes Sprachlevel hatte als ich kam, ich weiß sonst nicht, wie lange ich gebraucht hätte, um wirklich Anschluss zu finden. Selbst wenn das mit Bolivianern nicht sonderlich schwierig ist. Das Spanisch, das hier gesprochen wird, unterscheidet sich sehr von dem Spanisch, das ich in der Schule gelernt habe. Und wie Annemie schon gut angemerkt hat, ist es oft schwieriger, sich umzugewöhnen, als etwas von Grund auf neu zu lernen. So habe ich jahrelang versucht, mir einige portugiesische Wörter abzugewöhnen, nur um dann hier festzustellen, dass man sie hier so ähnlich auch benutzt. Selbst so banale Dinge wie Begrüßung, Verabschiedung, Anrede sind hier komplett anders als in Spanien. Mal ganz abgesehen vom Dialekt natürlich.

Aber natürlich merke ich auch, wie viel man dazulernt in so kurzer Zeit: Hatte ich anfangs noch große Schwierigkeiten die Jugendlichen zu verstehen, so ertappe ich mich mittlerweile ständig dabei, wie ich auf Spanisch fluche statt auf Deutsch (die Sprache hat da auch wirklich ein tolles Vokabular zu bieten). Alle versuchen, aus mir eine richtige Camba (jemand aus der Region Santa Cruz) zu machen.

Mittlerweile kann ich nicht mehr durch die Stadt ziehen, ohne dass mir irgendwer „Luisya la piya“ (niemand kann mir erklären, was genau das bedeutet) oder Sonstiges hinterbrüllt, was mir jedoch um einiges lieber ist, als das Hinterherpfeifen an jeder Straße. Doch selbst daran gewöhnt man sich. Ich habe gelernt nur nachzusehen, wenn ich meinen Namen höre (auch wenn selbst Fremde manchmal meinen Namen kennen, woher auch immer).

Weiterhin habe ich endlich gelernt, die Leute anständig zu grüßen und zu verabschieden, so wie es hier üblich ist (mit Küsschen). Ja, tatsächlich lerne ich erst hier in Bolivien, was gute Manieren sind (wofür ich auf keinen Fall meine Eltern verantwortlich machen will, sie haben‘s ja immer vergeblich versucht). Immer guten Appetit wünschen, immer Leuten etwas anbieten, einladen und vor allem ständig Smalltalk führen. Etwas das mir nun wirklich nicht liegt, aber ich werde besser, glaub ich. Neben den Bolivianern sind die Deutschen wirklich ein furchtbar unhöfliches Volk.

Todos Santos / Día de los muertos (Allerheiligen)

Zu Allerheiligen kamen mich die anderen Freiwilligen aus Santa Cruz besuchen und wir sind abends gemeinsam zum Friedhof von Concepción gezogen, um uns den Día de los muertos (Tag der Toten) anzusehen. Während die eine der Meinung war, es hätte etwas Deprimierendes an sich, waren wir anderen seltsam gerührt von dem, was sich uns dort bot: Sämtliche Familien des Ortes hatten sich an den Gräbern ihrer Verstorbenen versammelt, dicht aneinandergedrängt auf Bänken, die rund herum aufgestellt waren. Der Friedhof glühte im Kerzenlicht, alles war mit Blumen behangen und mehrere Marschkapellen spielten gleichzeitig, so laut, dass der deutschen Kartoffel in mir vor Schreck die Sandalen von den Socken fielen. UND DAS AUF EINEM FRIEDHOF?? Darf er das? Dieser Gedanke schoss mir jedoch nur für einen winzigen Moment (aus Gewohnheit) durch den Kopf, im nächsten war ich schon verzaubert von dieser Tradition. Obwohl meine Freundin sicher ihre Gründe hatte so etwas zu sagen, habe ich nach besagtem Deprimierenden vergeblich gesucht.

So. Von Ereignissen zu berichten ist einfach. Und davon gibt es wirklich mehr als genug in Conce. Schwieriger ist es zum Beispiel, wirklich detailliert meinen Alltag zu beschreiben, da der sich immer ändert. Bitte seid euch dessen bewusst, wenn ihr meinen Bericht lest. Denn alle paar Wochen lese ich mir durch, was ich bisher geschrieben hab und es ist wirklich beeindruckend, wie viel ich jedes Mal verändern muss. Manchmal lösche ich ganze Absätze wieder, füge neue hinzu, korrigiere Aussagen, weil sich so etwas wie eine Routine einfach nicht einstellen will. Was meiner Meinung nach jedoch alles andere als schlecht ist.

Im Bewusstsein, dass sich bis zu meinem nächsten Rundbrief wieder unglaublich viel verändert haben wird, beende ich diesen vorsichtshalber jetzt, bevor ich zu detailliert und subjektiv werde. Vielen Dank für all die Unterstützung, ich weiß jetzt schon, dass es eine meiner besten Entscheidungen war, nach Bolivien zu gehen! (Allein schon wegen Achachairú. Was für eine göttliche Frucht!)

Bis zum nächsten Rundbrief! Besos, Luisa ?