Indien: 1. Rundbrief von Sara Faß

„India is not only a country of 1 billion people but of 1 billion minds“

Während ich mir den indischen Film „The Pad Man“ angeschaut habe, ist bei mir vor allem dieses Zitat hängen geblieben. Das erste, was auch ich mit Indien verbunden habe? Die riesige Bevölkerung. Oft fällt es daher schwer, die „1 billion minds“ dahinter zu erkennen. Bisher habe ich zwar noch nicht allzu viel von Indien gesehen, jedoch kamen mir schon die ersten Eindrücke wahnsinnig vielfältig vor. Alleine die Unterschiede zwischen Stadt- und Landleben sind immens.

Da ich mich also die meiste Zeit nur hier in meinem Projekt in Cowdalli aufhalte und meine Umgebung als „privilegierte Weiße“ wahrnehme, kann ich Euch lediglich Einblicke in meinen Alltag geben, nicht jedoch ganz Indien beschreiben.

Mein Projekt

Mein Projekt ist die St. Anthony’s School in Cowdalli. Sie besteht aus L.K.G. und U.K.G. (Lower and Upper Kindergarden), Primary (1.-7. Klasse), Highschool (8.-10. Klasse) und College (11.-12. Klasse). Insgesamt wird die Schule von rund 800 Schüler_innen besucht und es unterrichten um die 30 Lehrer_innen. Seit ca. 3 Jahren gibt es separat auch die „English Medium School“ in welcher ab dem L.K.G. vor allem auf das Englischlernen mehr Wert gelegt wird.

In der Schule unterstütze ich die Lehrerin July im L.K.G. der English Medium School. Die 60 Schüler_innen sind um die 4 Jahre alt und lernen das Alphabet auf Englisch, die Zahlenreihe bis 50, die ersten Buchstaben in Kannada (Amtssprache Karnatakas) und einige Reime auf Englisch und Kannada. Gemeinsam mit July schreibe ich den Schüler_innen Zahlen und Buchstaben vor, kontrolliere ihre Hausaufgaben, lerne mit ihnen Reime oder unterstütze lernschwache Kinder, während July unterrichtet.

Der Schultag beginnt um 10.00 Uhr mit einer Assembly, an der alle Klassenstufen teilnehmen. Hierbei wird gemeinsam gebetet, für Geburtstagskinder gesungen, aus der Zeitung vorgelesen und die Nationalhymne angestimmt. Um 12.30 Uhr gibt es eine 1-stündige Mittagspause und um 16.00 Uhr endet die Schule. Samstags wird nur den halben Tag unterrichtet, sodass die Schüler_innen um 12.30 Uhr nach Hause gehen dürfen.

Auf dem Schulgelände befinden sich außer drei Gebäuden für Primary/Highschool, English Medium School und College noch eine Kirche, ein Pfarrhaus und mein Zimmer, welches über der Schulküche liegt. Im Pfarrhaus lebt Father Santhosh gemeinsam mit seinen Eltern. Er ist nicht nur Schuldirektor, sondern auch mein Vorgesetzter und Ansprechpartner. Im Pfarrhaus halte ich mich aber lediglich zu den Mahlzeiten auf, die die Mutter zubereitet und die mir sehr gut schmecken.

Schulhof und College-Gebäude der St. Anthony’s School.
Highschool- und Primary-Gebäude (von meinem Dach aus fotografiert).
Tanz während einer Function zum Geburtstag des Fathers.

Über Cowdalli lässt sich noch sagen, dass es ein eher ländliches Dorf ist, in dem rund 10.000 Menschen leben. Es gibt eine zentrale Einkaufsstraße, in der man alles Notwendige kaufen kann. Für Stoffe, aus denen ich mir später meine Churidars schneidern lasse, oder zum Geld abheben fahre ich jedoch mit dem Bus 20 Minuten bis nach Hanur, eine etwas größere Stadt in der Nähe. Außerdem hat Cowdalli für indische Verhältnisse eine relativ große muslimische Gemeinde, was ich auch in meinem Alltag mitbekomme, da die Moschee nur 500m von meinem Zimmer entfernt ist. So höre ich den Muezzin 4x am Tag zum Gebet aufrufen, was mir mittlerweile echt gut gefällt. Besonders zum Sonnenuntergang schafft der Gesang eine tolle Atmosphäre und zeigt mir Einblicke in eine Religion, mit der ich in Deutschland bisher nur wenig Kontakt hatte. Auf das Thema Religionen in Indien werde ich in meinen nächsten Rundbriefen sicherlich noch zurückkommen, für diesen würde es allerdings den Rahmen sprengen.

Die Anfangszeit

Nachdem ich mich am 16. August von meiner Familie und Freunden für ein Jahr verabschieden musste, begann meine Reise nach Cowdalli in Südindien. Glücklicherweise verlief der Einstieg in meinen neuen Alltag recht sanft. Die ersten beiden Wochen verbrachte ich noch gemeinsam mit Judith, meiner Vorgängerin. Sie konnte mir einiges erklären und das ein oder andere Fettnäpfchen vermeiden, in welches ich früher oder später getreten wäre. Vor allem zu Beginn war ich nach der Schule immer sehr müde, da über den Tag verteilt einige Eindrücke auf mich einprasselten. So war ich sehr dankbar, dass mir Judith viel helfen konnte. Unter anderem mit der Registrierung, die nach 2 Wochen in Indien anstand. Als ich dann endlich registriert war und Judith auch schon abreisen musste, begann der Freiwilligendienst für mich jedoch erst richtig.

In der Schule hatte ich von Beginn an meine feste Aufgabe im L.K.G., die ich von Judith übernehmen konnte. Das gab mir schnell das Gefühl einer Routine, obwohl doch jeder Tag anders war. Ich hatte zwar auch Momente der Überforderung, wenn ich mal kurz alleine auf die Klasse aufpassen sollte oder die Kinder nicht verstand, da sie in Kannada mit mir redeten, aber am Ende des Tages überwog doch meistens die Freude über mein neues Zuhause.

Den Anschluss zu den Lehrer_innen fand ich auch schnell, obwohl mir bis heute noch die Sprache im Weg steht. Von den meisten Lehrer_innen und der christlichen Gemeinde wird hier Tamil gesprochen, da Cowdalli nah an Tamil Nadu grenzt. Jedoch ist Kannada die Amtssprache in Karnataka. Das bedeutet für mich, dass im Dorf und auch von den Schüler_innen meistens Kannada gesprochen wird. Dazu kommt, dass der Pfarrer und seine Eltern auch nur Kannada sprechen. Somit sollte ich also zwei Sprachen lernen, die sich leider weniger gleichen, als ich es mir erhofft hatte. In meinem normalen Alltag komme ich zwar mit Englisch recht weit oder verstehe Gespräche aus dem Kontext heraus, jedoch bin ich dabei noch sehr von den Englischkenntnissen meines Gegenübers abhängig.

Ein wenig lerne ich Kannada mittlerweile aber auch durch Rupa, Renuka und Giotti, drei Collegeschülerinnen, mit denen ich mich nach der Schule öfters unterhalte. Während sie 40 Minuten auf den Schulbus warten bringen sie mir entweder Vokabeln in Kannada bei oder wir schauen uns gemeinsam Musikvideos an.

So vergehen die Tage bisher sehr schnell und Langeweile kommt nur selten auf. Sonntags gehe ich morgens in die Messe und besuche im Anschluss oft noch Freunde oder widme mich dem Waschen am Waschstein, was ziemlich zeitaufwendig ist. Auf der anderen Seite kann es aber auch schön sein, den Alltag etwas zu verlangsamen und die gewaschene Wäsche schätze ich danach deutlich mehr wert.

Feiertage

Einer meiner ersten Feiertage war der Teacher’s Day am 17. September, auf den ich mich schon lange gefreut hatte.

Zum Glück half mir Philomina, eine Lehrerin der Englisch Medium School, beim Wickeln meines Sarees.

An diesem Tag trug ich nicht nur das erste Mal einen Saree, sondern durfte auch gemeinsam mit den anderen Lehrer_innen an sämtlichen Spielen teilnehmen, die die Schüler_innen vorbereitet hatten. Das ganze hat sehr viel Spaß gemacht, obwohl die Spiele meistens mit schnellem Laufen verbunden waren, was mit dem Saree nicht ganz so einfach war. So mussten die Lehrerinnen beispielsweise bei einem Spiel quer über den Schulhof laufen, auf der anderen Seite einen Luftballon aufblasen, wieder zurück laufen und diesen durch raufsetzen zerplatzen lassen. Für mich reichte es leider nicht für einen Platz auf dem Treppchen, aber dabei sein ist ja bekanntlich alles. Anschließend stand hingegen noch ein Volleyball-Wettbewerb an, bei dem meine Mannschaft sogar gewann und somit räumten wir später bei der Preisverleihung alle einen Kugelschreiber ab.

 

In der Mittagspause gab es ein gemeinsames Essen mit allen Lehrer_innen und einen leckeren Kuchen zur Feier des Tages. Anschließend standen am Nachmittag noch einige Tanz- und Schauspielaufführungen der Schüler und Schülerinnen an, die bereits Wochen vorher geprobt wurden. Dieser Tag zeigte mir auch, dass ich nun ein Teil der Lehrergemeinschaft bin. Von Schüler_innen als auch Lehrer_innen wurde ich mit „Happy Teacher’s Day“ gratuliert und durfte zu Beginn des Tages feierlich mit allen Lehrer_innen unter Trommelschlag und Jubelrufen auf die Bühne einziehen.

Im Gegensatz zum Teacher’s Day stand 2 Monate später der Children’s Day an. Vor diesem Tag war ich schon deutlich mehr aufgeregt, da ich gemeinsam mit drei Lehrer_innen der Highschool einen Tanz aufführen sollte, für den wir erst 3 Tage vorher mit dem Proben begonnen hatten. Zwar trug ich diesmal keinen Saree, dafür aber einen festlichen Churidar, wie auch viele der Schülerinnen. Den Tag über wurden einige Spiele für die Schüler und Schülerinnen vorbereitet und am Nachmittag standen sämtliche Gesangs-/Tanzvorführungen der Lehrer_innen an. Bei unserer Tanzvorführung lief zwar nicht alles glatt und ich vertanzte mich auch einige Male, aber die zuschauenden Schüler_innen und Lehrer_innen schienen ihren Spaß zu haben und somit war es schlussendlich eine lustige Erfahrung.

Während einem Spiel für die Schüler_innen (im Hintergrund sieht man rechts die Kirche).

Ein weiterer Tag, welcher in der Kirche groß gefeiert wurde, war Maria Himmelfahrt. Eine Woche lang gab es täglich einen Gottesdienst, der damit abgeschlossen wurde, die Maria-Statue mit bunten Blumen zu bewerfen oder ihr Blumenkränze umzuhängen. Vor allem in Südindien werden Blumen gerne von Frauen in den Haaren getragen oder verschenkt. So bekomme ich in der Schule fast täglich eine Blume von July, den Schüler_innen oder Müttern geschenkt, worüber ich mich jedes Mal sehr freue.

Samstags wurde die festliche Woche dann mit einem großen Gottesdienst und einer gemeinsamen Prozession um die Kirche herum abgeschlossen. Anschließend gab es für die ganze Gemeinde ein Festessen, bei dem alle noch etwas beieinander saßen und sich unterhielten. Die Stimmung war ausgelassen und da ich noch nicht so viele Leute kannte, kümmerten sich zwei der Lehrer gut um mich und stellten mich einigen vor.

Kurz vor den Herbstferien im Oktober stand zudem der Besuch des AVGs aus Trier an. Während ihrer 4-wöchigen Indienreise besuchten die Schüler_innen und Lehrer_innen auch für 2 Tage ihre Partnerschule in Cowdalli. Dazu wurde von den Schüler_innen ein buntes Programm zur Begrüßung der deutschen Gäste auf die Beine gestellt. Mein persönliches Highlight war dabei ein Schüler der 8. Klasse, welcher diverse Tiergeräusche sehr überzeugend imitierte.

Den Besuch Empfand ich insgesamt als aufwühlend, da ich nach langer Zeit wieder mit Deutschland konfrontiert wurde und mich zwischenzeitlich als „Übermittler“ fühlte. Trotzdem waren es zwei schöne Tage und mich freute das Interesse der AVG-Schüler_innen, denen ich von meinem Alltag an der St. Anthony’s School erzählen konnte.

Für das Programm wurde ein großes Festzelt aufgebaut.
V.l.n.r. mit den Highschool-Lehrern Anitha, Savri und Sarvesh nach dem Programm für die AVG-Gruppe.

 

Klassenfahrt

Ein besonderes Erlebnis der letzen Wochen war die Highschool-Klassenfahrt in der ersten Dezemberwoche. Fünf Tage lang durfte ich gemeinsam mit 60 Schüler_innen und 5 Lehrer_innen durch den Bundesstaat Karnataka reisen. Wir sahen uns viele historische Tempel, die Geburtsstädte des bekanntesten Kannada-Poeten Kuvempu und riesige Wasserfälle (Jog Falls) an.

Mein Highlight war dabei der Strandbesuch in Murudeshwar. Dort konnten wir gemeinsam ein Bad im arabischen Meer nehmen und gleichzeitig die Aussicht auf die weltweit zweitgrößte Shiva-Statue genießen.

Beim Strandbesuch in Murudeshwar.

Diese fünf Tage waren definitiv die aufregendsten und zugleich intensivsten Tage meiner bisherigen Zeit. Jeden Tag besuchten wir mit dem Bus um die drei bis vier  Sehenswürdigkeiten und auch während der Fahrt blieb nicht viel Zeit zum ausruhen. Das lag daran, dass unser Bus ein voll ausgestatteter „Partybus“ mit Diskolichtern und mehreren Musikboxen war. So wurde die Fahrtzeit meistens mit Tanzen verbracht, wovon auch ich nicht verschont wurde. Immerhin kenne ich nun die neusten Partyhits, wie „Guleba“ oder „Chuttu, Chuttu“, die mir als Ohrwürmer lange nicht mehr aus dem Kopf gingen.

In Belur vor dem Chennakeshava Tempel.
Nach 1500 Treppenstufen erreichten wir den Vindhyagiri Hill mit toller Aussicht.

Alles in allem  hat die Klassenfahrt super viel Spaß gemacht und es war beeindruckend so viele verschiedene Orte in so kurzer Zeit zu sehen. Besonders schön war es auch, wie herzlich mich die Schüler_innen aufgenommen haben. Viele von ihnen lernte ich erst durch die Tour kennen, da ich unter der Woche kaum in der Highschool bin. Auch kam es unterwegs öfter vor, dass mich eines der Mädchen spontan an der Hand nahm. Zuerst empfand ich das als super ungewohnt, aber mit der Zeit lernte ich das Händehalten als freundschaftliche Geste zu schätzen.

Als wir nach fünf Tagen wieder in Cowdalli ankamen, fiel ich glücklich, aber auch sehr erschöpft in mein Bett und brauchte erstmal ein paar Tage, um mich wieder ganz von den letzten Tagen zu erholen.

Gruppenfoto mit einigen Schüler_innen und Lehrer_innen vor dem Hoysaleswara Tempel in Halebidu.
Sharadamba Tempel in Sringeri
Gedanken

So richtig kann ich es immer noch nicht begreifen, dass ich nun schon seit 4 Monaten in Indien bin. Das liegt zum einen daran, dass sich mein Alltag hier sehr von dem Bild unterscheidet, welches ich im Vorhinein von Indien hatte. Die Normalität, die recht schnell eingekehrt ist, zeigt mir, dass das Leben hier gar nicht so anders im Vergleich zu Deutschland ist. Speziell auf die Menschen bezogen spricht man aus der Ferne schnell von einer „landestypischen Mentalität“, was ich bisher so gar nicht bestätigen kann. Das Zwischenmenschliche erlebe ich genauso wie in Deutschland, was mir noch einmal mehr bewusst macht, dass Landesgrenzen nichts über die dort lebenden Menschen aussagen.

Ich bin sehr glücklich hier. Die vielen Festtage, das leckere Essen, viele kleine Fortschritte, meine Projektarbeit mit den Schüler_innen, die Selbstständigkeit, das warme Klima, die Spontanität und auch das Alleinsein tun mir einfach gut. Natürlich gibt es auch Herausforderungen wie die Sprachbarriere, Überforderung in der Schule, seltene Momente der Einsamkeit und eine andere Rollenvorstellung, die von manchen vertreten wird. Auch die vor Augen geführte Ungleichheit in der Bevölkerung, die in Deutschland zwar auch herrscht, jedoch nicht immer so offensichtlich spürbar ist, beschäftigt mich oft. Trotzdem habe ich insgesamt das Gefühl, an den Herausforderungen zu wachsen und sehe sie als wichtigen Teil meines Freiwilligendienstes an.

Natürlich kann ich nicht alle Erlebnisse und Eindrücke der vergangenen Monate in einem Rundbrief zusammenfassen, weswegen Euch in den nächsten Rundbriefen noch mehr zu meinen bisherigen Besuchen, Gedanken und dem Schulleben erwarten wird. Auch Weihnachten steht vor der Tür, worauf ich schon sehr gespannt bin.

Ansonsten bedanke ich mich herzlich für das Lesen meines ersten Rundbriefes!

Bei Fragen, Anregungen oder Kritik dürft ihr mir natürlich sehr gerne schreiben.

Bis bald!

Sara