Bolivien: 2. Rundbrief von Lea Möller

¡Estimad@s y querid@s amig@s!

In Ascensión fühle ich mich sehr wohl. Für mich ist hier jeder Tag ein neues Abenteuer.

Ich bin de facto in zwei unterschiedlichen Projekten tätig, im Colegio Santa Teresita und in der Musikschule Santa Clara.

Das Colegio Santa Terestita

Morgens begleite ich den Musiklehrer Bernardo im Colegio Santa Teresita. Von 7:30 bis 12:00 werden täglich drei Klassen unterrichtet, hier dauert eine Unterrichtseinheit anderthalb Stunden. Die Schüler*innen sind zwischen sechs und zwölf Jahre alt.Die Klassen sind etwas größer als die in Deutschland, jeweils um die 35 bis 40 Kinder. Von den Schüler*innen wurde ich sehr herzlich empfangen, ab und zu bekomme ich von ihnen ein selbstgemaltes Bild geschenkt. In den Pausen (und auch im Unterricht) werde ich viel gefragt, ich übersetzte einzelne Worte auf Deutsch oder Englisch und erzähle, dass es in Deutschland im Winter auch mal unter null Grad Celsius hat und schneit. Gerade die jüngeren Kindern sind außerordentlich herzlich, wenn ich morgens zur Schule laufe, rennen einige auf mich zu und begrüßen mich mit einem gut gelaunten „¡Buenos días, Señorita Lia!“. In manchen Klassen werde ich stürmisch umarmt, sobald ich den Raum betrete.

Eine mir geschenkte Zeichnung

Hier lernen die Kinder Lesen und Schreiben in der Vorschule, dem sogenannten „kínder“, danach folgen sechs Jahre in der Primaria und weitere sechs in der Secundaria, für alle verpflichtend. In der weiterführenden Schule gibt es auch praktische Kurse, in Santa Teresita kann zwischen dem Gastronomie-, Landwirtschafts- und Computerkurs gewählt werden.

Und noch etwas ist strukturell anders: die ganze Woche lang haben alle Klassen der Primaria Unterricht bei einer einzigen Lehrkraft. Nur die drei Fächer Religion, Musik und „educación física“ (Sport), werden von anderen Personen unterrichtet. Somit finden Mathe, Sprachen, Naturwissenschaften, Kunst, Gesellschaftslehre etc. stets im selben Klassenraum bei der gleichen Stammlehrkraft statt. Dass Profe Bernardo so viele unterschiedliche Klassen unterrichtet, ist also die Ausnahme.

Der Tag beginnt und endet immer mit der „oración“, ein Vater Unser oder ein Ave Maria. Hier besteht der Musikunterricht hauptsächlich aus dem Singen von Liedern und Theorie. Der Inhalt ähnelt sich in allen Klassen, fast jede Woche gibt es ein neues Lied, welches dann in allen Kursen gelehrt wird. Ich schreibe häufig den Liedtext an die Tafel und dann dauert es immer seine Zeit, bis alle Schüler*innen fertig abgeschrieben haben. Oft sollen sie auch die Liedtexte verzieren oder Instrumente malen. Melden und Fragen beantworten, Arbeitsblätter und Gruppenarbeiten? Nein. Zumindest nicht im Musikunterricht. Die mediale Gestaltung des Unterrichts beschränkt sich ausschließlich auf die Tafel.

Ich setze mich häufig neben Schüler*innen, die Probleme beim Abschreiben haben und zeichne für sie den Text mit Bleistift vor. Die Schulhefte werden danach abgestempelt, wobei allerdings Rechtschreibung oder fehlende Zeilen nicht verbessert werden. Anschließend wird das Lied gesungen, durch eine Gitarre begleitet. Da es eine katholische Schule ist, dürfen manche Stücke der Texte wegen nicht gesungen werden und so stammt die Mehrheit aus dem Kirchenliederbuch und handelt von der schützenswerten Natur oder davon, wie wichtig Freunde sind.

Ein Hefteintrag, mit Stempel und Unterschrift

Alle drei Monate ist eine Prüfungswoche und es werden Tests in allen Kursen geschrieben. Im Fach Musik heißt das, dass eine Seite aus dem Heft herausgenommen, die Aufgabenstellung von der Tafel kopiert und beantwortet wird. Benennen der einzelnen Notenwerte, Definition der einzelnen Instrumentenklassen; Zeichnen von drei Instrumenten für die Erstklässler*innen, je nach Klassenstufe leicht unterschiedlich. Auch eine beliebte und für mich ungewöhnliche Aufgabe: im Musiktest drei Symbole des Vaterlandes Boliviens zu malen. Benotet wird von 0 bis 100 Prozentpunkten.

Mit Profe Bernardo verstehe ich mich sehr gut, er ist ein ruhiger Pädagoge, der tiefe Freude an der Musik und seinem Beruf hat. Eigentlich ist er Lehrer der Primaria, also auch für andere Fächer ausgebildet, mangels weiterer Kräfte und vor allem auf Grund seines Könnens (er spielt nicht nur Gitarre, sondern auch Geige, etwas Klavier und singt sehr gut) unterrichtet er dieses Schuljahr ausschließlich Musik.

Ein Klassenzimmer in Santa Teresita

Alle Schüler*innen und Lehrenden tragen Schulkleidung bzw. Uniform. Je nach Altersstufe leicht unterschiedlich, ein T-Shirt mit dem Schulemblem und (das erleichtert es mir sehr) dem Namen auf dem Rücken, die Jungs tragen dazu dunkle Hosen, die Mädchen Leggins oder Rock; die Lehrer*innen alle ein weißes Hemd bzw. eine weiße Bluse; ich als Freiwillige habe ein ebenfalls helles Oberteil mit dem Schulemblem bekommen.

Die Musikschule Santa Clara

Nach einer kleinen Mittagspause wechsle ich zu meinem zweiten Projekt, der Musikschule. Drei Musiklehrer arbeiten dort, ein Cellolehrer, ein Geigenlehrer, der Dritte leitet das Orchester und spielt ebenfalls Violine. Montags, mittwochs und freitags unterrichte ich nachmittags jeweils zwei Celloschülerinnen. Die beiden 15-Jährigen sind totale Anfängerinnen – Notenlesen, Rhythmus, für sie alles Neuland.

An den anderen beiden Werktagen bin ich mit zwei Musiktheorieklassen beschäftigt, für die ich den Unterricht gestalte. Jeweils anderthalb Stunden mit einer kurzen Pause dazwischen. Beide Gruppen zählen knapp zehn Kinder, der Jüngste ist erst fünf, die Älteste elf Jahre alt. Das macht es für mich anspruchsvoll, den Unterricht für alle spannend zu gestalten, wenn ich mich einerseits darum kümmern muss, dass diejenigen, die noch kaum Lesen und Schreiben können, nicht überfordert werden und anderseits die Älteren den Spaß am Lernen behalten.

Ebenfalls unterschiedlich ist der Wissensstand – manche Kinder können Noten lesen, andere überhaupt nicht. Ich verpacke den Inhalt häufig in Spiele und merke, dass die Kinder ein anderes Lernsystem kennen. Somit braucht es immer seine Zeit, bis sie sich beispielsweise an das „Mozart-Nummernspiel“, das „Noten-Bingo“ oder das „Musik-Hangman“ gewöhnt haben, danach fragen sie aber immer wieder, wann wir es das nächste Mal spielen können.

Einer der Unterrichtsräume

Die Musikschule hat auch ein Orchester, wir proben fast jeden Samstag und haben auch schon kleinere Auftritte gehabt, in der Kirche und auf der Plaza. Die Region ist berühmt für die Barockmusik, die sich hier im Zuge der Jesuitenmission verankert hat. Deshalb spielen wir neben der Regionalhymne und der Filmmusik zu „Fluch der Karibik“ auch viele Werke von Vivaldi, Bach & Co..

Die Schüler*innen erscheinen fast immer zu spät, häufig eine gute Viertelstunde, hin und wieder fehlen sie auch ohne abzusagen. Wenn es regnet, kommen keine Kinder, weder zur Musikschule, noch zum Colegio, der Unterricht fällt ersatzlos aus. Orchesterproben und Veranstaltungen fangen immer später an, als offiziell angesetzt; Reisebusse dagegen fahren auf die Minute genau. Das Gespür, wann ich, die sogenannte „hora boliviana“ mitgerechnet, erscheinen soll, gilt es zu entwickeln. Und so lange warte ich halt ein paar Minuten, bevor nach und nach die Schüler*innen eintrudeln.

Ascensión

Ascensión liegt inmitten der Natur, die nahegelegenen Dörfer Yagarú und Urubichá (jeweils ca. eine Stunde Fahrt auf einer unbetonierten Straße, ringsum Palmen und viele Rinder) bedeuten auf der Regionalsprache sehr treffend „schwarzer Jaguar“ bzw. „viel Wasser“. Ascención ist mit ca. 30.000 Einwohnenden die lokale Hauptstadt, hat aber einen sehr dörflichen Charakter. Es gibt ein kleines Krankenhaus, diverse Schulen, die „Itapemi“-Lagune, einen Markt und in der Hauptstraße mehrere Läden, in denen man fast alles findet, was man so zum Leben braucht. Was es nicht gibt: eine funktionierende Post.

Meine Wohnsituation könnte besser nicht sein, fünf Fußminuten vom Colegio entfernt, direkt gegenüber der Plaza. In der Kirche und ihrem Umfeld ist oft etwas los, ab und zu kommen andere Priester, die hier einen kurzen Besuch abstatten. Jeden Morgen und Abend findet ein Gottesdienst statt, der gut besucht wird. Im Anschluss verbringen die Messdienenden noch etwas Zeit zusammen, ich bin oft dabei und so spielen wir regelmäßig „Mensch ärgere dich nicht“ oder Karten.

Sonstiges

Auf der Plaza und im Colegio werden regelmäßig „actos cívicos“ gefeiert, beispielsweise zum Jubiläum des Departamentos Santa Cruz, anlässlich des „día de la tradición“ und dem Geburtstag der Schule. Dabei werden diverse Hymnen gesungen, die bolivianische, die der Region Guarayos, sogar das Colegio hat eine eigene. Einmal gab es zu Ehren des Departamentos – alles war in den Farben grün und weiß geschmückt – eine riesige Parade mit allen Schüler*innen und Lehrkräften jeglicher Schulen; früh morgens wurde angefangen, die Parade ging bis zum Nachmittag, bei knapp 40 Grad Celsius im Schatten. Auch der „día de los estudiantes“ wurde umfangreich zelebriert, alle kamen verkleidet in die Schule, es gab wieder eine Parade quer durch die näheren Straßen. Anschließend wurden die Schüler*innen mit Süßigkeiten, Torte und Softdrinks beschenkt. Am Nachmittag ist der Musikunterricht ebenfalls ausgefallen, stattdessen wurden die Räume dekoriert und es gab auch hier Kuchen und Cola.

Aniversario de Santa Cruz

Als ich in Asuncion ankam, war nur ein einziger Padre, Leonidas, hier. Zwischendrin hat für zwei Wochen ein deutschstämmiger Priester hier gelebt, der aber aus gesundheitlichen Gründen wegziehen musste, dafür ist Padre Victorio hergekommen. Ab und zu trinken wir einen Kaffee oder Mate zusammen. Zur Unterstützung der Priester war für etwas über einen Monat ein junger Franziskanermönch hier, mit dem ich mich sehr gut verstanden habe. Zum Abschied hat er mir ein Mategefäß mit einer Pfadfinderlilie geschenkt.

Doña Carmen, die Haushälterin, ist mir schon sehr ans Herz gewachsen. Sie kommt jeden Morgen um 7 Uhr her und bleibt dann bis zum späten Nachmittag. Nach dem Mittagessen helfe ich ihr immer etwas beim Abwasch und auch in den Unterrichtspausen am Nachmittag gehe ich häufig in die Küche und wir trinken gemeinsam einen „refrescito“ oder essen etwas von ihrem leckeren Kuchen.

In Guarayos wird neben Castellano (also Spanisch) auch die Regionalsprache Gwarayo gesprochen, vor allem von älteren Menschen. Eine Handvoll Worte hat mir Doña Carmen bereits beigebracht. Die Begrüßung „Abïrave“ beispielsweise benutze ich täglich mehrmals.

Das verlängerte Wochenende an Allerheiligen habe ich mit den anderen Santa-Cruz-Freiwilligen in Concepción verbracht. Seit langem mal wieder Deutsch mit dem Gegenüber reden. Wir haben viel gelacht und konnten feststellen, dass uns ähnliche Dinge begeistern, beschäftigen und bewegen. Am Freitag gingen wir, wie viele andere, abends zum Friedhof. Etliche Gräber, auch die vielen kleinen Kindergräber, waren mit Plastikblumenkränzen geschmückt und eine Unmenge an Kerzen gab dem Ort eine schummrig-schöne Atmosphäre. Auf einigen Grabplatten wurden zudem Brot oder Getränke platziert. Etliche Familien nahmen zusammen das in riesigen Töpfen mitgebrachte Abendessen ein. Ich habe keine einzige Person weinen sehen. Auch nicht bei den Beerdigungen, die in der Kirche stattfinden und von denen ich fast immer etwas mitbekomme.

Mit Luisa, Clara und Salome in Concepción

An mein neues Leben habe ich mich durchaus gewöhnt – daran, dass ich das Leitungswasser nicht trinken kann, an die vielen Straßenhunde, dass es manchmal für ein paar Stunden kein fließendes Wasser gibt, und dass Stromausfälle und Kurzschlüsse (so sind gleichzeitig mein Handy- und Laptopladekabel kaputt gegangen, dank hilfsbereiter Personen habe ich schnell Ersatz bekommen) einen den Sinn von Taschenlampen wieder in Erinnerung rufen.

Aussichten

Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu, ab Dezember sind Schulferien, das Colegio pausiert für einige Wochen. Dann werden mehr Kinder zur Musikschule kommen, vor allem morgens. Vormittags soll ich einen Kinderchor aufbauen und auch Englischunterricht anbieten. Für das Orchester fangen demnächst die Weihnachtsvorbereitungen an.

¡Muchos saludos!

Eure Lia (wie hier fast alle sagen)

 

Auf dem Weg nach Urubichá