Rumänien: 1. Rundbrief von Rahel Galm

Liebe Freundinnen und Freunde, Familie und Interessierte,

schon fünf Monate sind vergangen, seit ich im August letzten Jahres in Mannheim in den Zug gestiegen bin. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen, dass ich mich erst so spät melde.

Viel ist passiert und es fällt mir schwer, alles Erlebte und Gefühlte in Worte zu fassen. Ein Bericht wie dieser ist natürlich nur begrenzt, hoffentlich kann ich euch trotzdem einen Eindruck meines bisherigen Freiwilligendienstes vermitteln.

Nachdem ich zusammen mit meinem Bruder nach Budapest gefahren bin, um das Sziget-Festival zu besuchen, ging es von dort alleine mit dem Bus weiter nach Rumänien. Ich hatte mich bei die Anreise gegen einen Flug entschieden, denn abgesehen vom umweltfreundlicheren Aspekt, hatte ich so die Möglichkeit zu beobachten, wie sich die Landschaft und die Sprache um mich herum nach und nach verändern. Das Gefühl des Ankommens nach über 20 Stunden Fahrt ist nun doch etwas Anderes.

Târgu Mureș. Hier kam ich also an, in der Stadt die für das kommende Jahr mein Zuhause werden sollte. Oder auch Marosvásárhely, der ungarische Name. Auf dem Ortsschild sind beide Sprachen vertreten, sowie die deutsche Variante, Neumarkt am Mieresch. Für mich ist das ein unglaublich interessanter und spannender Ort, denn obwohl ich mich in Rumänien befinden, sind etwa die Hälfte der hier lebenden Menschen UngarnInnen. Wie in den meisten Teilen von Transsylvanien ist die Bevölkerung gemischt, da diese geschichtsträchtige Region vor dem Ersten Weltkrieg noch zu Österreich-Ungarn gehörte. Noch vor 100 Jahren lebten in Târgu Mureș zu 90 Prozent UngarInnen. Die Auswirkungen des ungarisch-rumänischen Konflikts sind heute noch zu spüren, was für mich anfangs allerdings schwer zu fassen war. Je mehr Zeit ich hier verbringe und mit je mehr unterschiedlichen Menschen ich mich unterhalte, umso mehr beginne ich die Beziehung der RumänInnen und der UngarInnen zueinander zu begreifen – von der persönlichen bis zur politischen Ebene.

Ich wurde für die ersten Monate in einer ungarischen Familie untergebracht, die mich auch am Bahnhof abholte. Meine Gastmama spricht relativ gut Deutsch, was mir den Anfang natürlich erleichtert hat. Aber auch mit den beiden Töchtern, zehn und 13, hat die Kommunikation funktioniert, wenn auch nur mit wenigen Worten Englisch und Ungarisch sowie Händen und Füßen.

Da bei meiner Ankunft noch Sommerferien waren und daher mein Projekt noch nicht angefangen hatte und die beiden Mädchen noch nicht zur Schule mussten, hatten wir in den ersten paar Wochen viel Zeit, Ausflüge in der Stadt zu unternehmen und uns besser kennenzulernen. Hier gibt es wahnsinnig viele Kulturangebote und vor allem im Sommer häufig Konzerte in einem der Parks oder im Garten der mittelalterlichen Burg. Direkt im August fanden außerdem eine Art „Ungarische Tage“, (Forgatag) statt, bei denen wir eine Woche lang überall in der Stadt verschiedenste Veranstaltungen besuchen konnten. Überall gab es Essensstände, die traditionelle Süßspeisen oder gesalzene Maiskolben verkauften.

Ausflug mit Freunden in Cluj/ Kolozsvár

Nach den freien Tagen war ich aber auch froh, dass mein Sprachkurs endlich anfing, denn ich freute mich schon darauf, Ungarisch zu lernen, was noch so fremd und unentwirrbar klang. Vielleicht fragt ihr euch, warum ich Ungarisch und nicht Rumänisch lerne, denn obwohl die Bevölkerung wie gesagt zu gleichen Teilen aus UngarInnen und aus RumänInnen besteht, ist die vorherrschende Sprache trotzdem Rumänisch. Das heißt, alles Offizielle ist auf Rumänisch. Die UngarInnen lernen die Landessprache ab dem Kindergarten, die meisten beherrschen es auch annähernd fließend. Die Caritas, bei der ich arbeite, ist allerdings vorwiegend Ungarisch, da es sich um eine katholische Organisation handelt (die meisten RumänInnen sind hingegen orthodox).

Réka, meine Lehrerin, die normalerweise Englisch unterrichtet, ist unfassbar herzlich und offenherzig und nach kurzer Zeit meine erste Freundin hier geworden. Die Privatstunden bei ihr zu Hause bedeuteten nicht nur Lernen, sondern auch zusammen Filme anschauen, plaudern und ihre selbstgemachten typischen Spezialitäten wie vinete (Auberginenmus) oder szilvás gombóc (Zwetschgenknödel) zu probieren. Ich brauchte meine Zeit, mich an die Sprache zu gewöhnen, denn Ungarisch ist ein sogenannter Alien unter den Sprachen und somit sehr andersartig, allerdings dadurch wahnsinnig interessant und meiner Meinung nach auch wunderschön.

 

Schon ein paar Wochen, nachdem ich angekommen bin, fand zu meinem Glück auch schon das Caritas-Teambuilding statt, das regelmäßig für die MitarbeiterInnen der Caritas im ganzen Land veranstaltet wird. Total schön war, dass ich Alina, eine SoFiA-Freiwillige in Petroșani, zum ersten Mal seit Beginn unseres Freiwilligendiestes wiedersehen konnte. Es war sehr bereichernd, sich nach dem ersten aufregenden Monat austauschen und Zeit miteinander verbringen zu können. Außerdem war es für mich eine tolle Möglichkeit, meine KollegInnen aus Marosvásárhely näher kennenzulernen, außerhalb des Arbeitsumfeldes. Wir verbrachten das Teambuilding am Lacul Roșu/ Gyilkos-tó, einem malerischen See bei den Bergen. Dementsprechend konnten wir auch viel Zeit in der Natur verbringen – sei es bei der Bootsfahrt oder bei Wanderungen mit ungelogen atemberaubenden Aussichten. In diesen paar Tagen konnte ich wirklich einiges an Kraft und Zuversicht auftanken.

Aussichten bei den Wanderungen während des Teambuildings

Im September fing mit dem Schulbeginn auch meine Arbeit in den Projekten an. Ich habe nicht einen festen Ort, an dem ich arbeite, sondern kann mich hauptsächlich in drei unterschiedlichen Bereichen einbringen:

Jeden Montag begleite ich einen Deutschkurs gemeinsam mit Ágnes, einer Ungarin, die allerdings einige Jahre in Deutschland gelebt und studiert hat und nahezu perfektes Deutsch spricht. Den Kurs besuchen RentnerInnen, aufgeteilt in AnfängerInnen und Fortgeschrittene, die alle noch daran interessiert sind, eine neue Sprache zu erlernen, was ich in dem Alter ehrlich beeindruckend finde. Die Beweggründe sind meistens Kinder, die nach Deutschland gezogen sind und ihre eigenen Kinder nun dort aufziehen. Dass junge Menschen aus Rumänien auswandern, meist nach Westeuropa, ist übrigens keine Seltenheit und das Thema ist in der Bevölkerung sehr präsent – viele sehen ihre Zukunft im Ausland. Darauf werde ich aber eventuell in einem meiner nächsten Rundbriefe noch näher eingehen.

Die anderen Tage der Woche gehe ich in unterschiedliche Dörfer in der Umgebung, zwei Tage die Woche nach Sângeorgiu de Mureș/ Marosszentgyörgy und zwei Tage nach Sângeorgiu de Pădure/ Erdőszentgyörgy. Auch wenn mein Arbeitsweg dadurch länger wird, bin ich sehr dankbar, auch in den Dörfern aktiv sein zu können, denn hier lerne ich nochmal ein ganz anderes Rumänien als in der Stadt kennen. In diesen beiden und noch weiteren Orten hat die Caritas Familienhilfsprojekte, unter anderem für Kinder aus der Roma Minderheit aufgebaut. Manchmal fahre ich auch mit einem der Kollegen durch die Dörfer für Familienbesuche, um beispielsweise Ausweise zu dokumentieren, aber meistens helfe ich bei den After-School-Programmen für die Roma-Kinder aus. Nach der Schule kommen die Kinder im Grundschulalter zu uns ins Kulturzentrum oder andere Räume, die wir zur Verfügung gestellt bekommen und bleiben dort meist für drei Stunden. Jeden Tag erhalten sie eine warme Mahlzeit und nach gemeinsamem Beten und Essen werden meistens die Hausaufgaben erledigt. Je nachdem, wie viel Zeit am Ende noch übrig bleibt, spielen wir gemeinsam etwas oder machen andere Gruppenaktivitäten, in deren Gestaltung ich mich natürlich einbringen kann und da glücklicherweise auch sehr frei bin.

Kinder aus Erdőszentgyörgy auf dem Spielplatz

Selbstverständlich gab es vor allem am Anfang Sprachschwierigkeiten, allerdings wird mir am allermeisten im Umgang mit den Kindern klar, dass das keine große Barriere sein muss. Kommunikation kann auf sehr vielen Ebenen funktionieren, und Kontakte knüpfen und Beziehungen aufbauen geht auch ohne die gleiche Sprache zu sprechen. Nichtsdestotrotz freue ich mich natürlich immer über Fortschritte, und jedes Mal, wenn ich eine Geschichte, die eines der Kinder mir erzählt, komplett verstehe oder bei etwas anderem als den Mathe-Hausaufgaben helfen kann, ist das ein Erfolg für mich. Nach und nach fühlt es sich immer natürlicher an, Ungarisch zu hören und zu sprechen.

 

An meinen Sprachkenntnissen hat sich auch etwas durch meinen Umzug geändert. Ende Oktober, also nach zweieinhalb Monaten, habe ich nämlich beschlossen, in eine WG mit etwa Gleichaltrigen zu ziehen, in der ich jetzt auch lebe. Daher kann ich mich nun nicht mehr auf der Kommunikation auf Deutsch mit meiner Gastmutter ausruhen. Mit meinen neuen MitbewohnerInnen unterhalte ich mich nun fast ausschließlich auf Ungarisch. Es fiel mir nicht ganz leicht, zur Entscheidung, umzuziehen, zu finden, und vor allem auch meiner Gastfamilie den Entschluss zu eröffnen. Letztendlich wusste ich aber, dass ich für den Rest des Jahres lieber selbstständiger und mit Menschen im Studierendenalter leben möchte.

Seitdem hatte ich auch viel mehr Möglichkeiten, junge Menschen kennenzulernen. Anfangs war es etwas schwierig, neue Kontakte zu knüpfen, aber irgendwann trat der Schneeballeffekt ein und immer mehr neu gewonnene Freunde stellten mir ihre Freunde vor und so weiter, sodass mein Bekanntenkreis mittlerweile angewachsen ist. Dadurch, dass ich bei meiner Ankunft niemanden hier kannte und auf Leute zugehen musste, konnte ich bis jetzt schon eine große Portion Schüchternheit überwinden, wofür ich sehr dankbar bin. Ich merke spürbar, dass es mir jetzt leichter fällt, Menschen anzusprechen und Beziehungen aufzubauen.

gemeinsames Singen in den letzten wärmeren Tagen

Die Zeit zum Ende des Jahres empfand ich nochmal als besonders schön. Im Dezember wurde in der Stadt ein Weihnachtsmarkt aufgebaut und überall wurden die Bäume und Häuser beleuchtet und geschmückt. Die Caritas veranstaltete an einem Tag im Zentrum das Eine-Million-Sterne-Projekt, das in diesem Moment im ganzen Land stattfand, bei dem Kerzen angezündet und Spenden für Bedürftige gesammelt wurden. Mit den Kindern in den Dörfern sangen wir in den letzten Wochen vor Weihnachten viel und bastelten winterliche Dekorationen. Außerdem bekam jedes der Kinder ein Paket vom Schuhkartonprojekt, von dem ihr bestimmt schon mal gehört habt. Mein Highlight war etwas, das kurz vor den Ferien passierte: Ein Mädchen aus unserer Gruppe in Erdőszentgyörgy leidet unter Hörproblemen und daraus resultierend auch Sprachproblemen, wodurch sich ihr Hindernisse sowohl im schulischen als auch im sozialen Bereich in den Weg stellten. Nun bekam sie endlich ein Hörgerät und zeigte mir begeistert und fast schockiert, welche Dinge sie jetzt hören kann, wie zum Beispiel fließendes Wasser aus dem Hahn, Händeklatschen oder den Regen.

 

Târgu Mureș/ Marosvásárhely zur Weihnachtszeit und zu Neujahr

Über die Feiertage gab es in den Projekten kein Programm. An Weihnachten wurde ich von einem Freund eingeladen, mit seiner Familie zu feiern, eine Geste, die ich unglaublich schätze. Wir hatten ein besinnliches Beisammensein am Heiligabend, und die restlichen Weihnachtsfeiertage verbrachte ich mit meinem Mitbewohner, der anders als unsere anderen WG-Mitglieder nicht nach Hause zu seiner Familie fuhr. Über meinen Geburtstag und Silvester bekam ich Besuch aus Deutschland: Meine Geschwister lebten für eine Woche mit in unserer Wohnung und so starteten wir gemeinsam ins Jahr 2019 – in dem sicher noch viel vor mir liegt. 🙂

 

Hoffentlich konnte ich euch einen kleinen Einblick in meine ersten Monate in Rumänien geben. Bei Fragen könnt ihr mich immer anschreiben!

Ganz liebe Grüße und bis bald,

Eure Rahel