Indien: 2. Rundbrief von Paula Regenhardt

Liebe Freunde*innen und Familie,

Lieber Solidaritätskreis,

Ich finde es total verrückt, dass die Hälfte meiner Zeit hier in Indien schon so gut wie vorüber ist. In den letzten Monaten ist unglaublich viel passiert und ich bin sehr dankbar, so viele Erfahrungen hier sammeln zu können. Trotzdem fällt es mir total schwer, meine Gefühle und Erlebnisse treffend zu beschreiben, dennoch bin ich sehr froh euch jetzt wieder an meinem Leben in Indien teilhaben zu lassen.

 

Mein Leben im Friendly Home

Nach nun guten sechs Monaten ist mir das Friendly Home wirklich zum Zuhause geworden.

Womit ich vorher nie gerechnet hätte ist, wie tief ich mich mit den Kindern und meinen „Sisters“ verbunden fühle. Ich habe zu den Kindern eine sehr innige und liebevolle Beziehung, was mir nicht nur an schlechten Tagen sehr viel Kraft spendet. Für mich ist es so normal geworden täglich mit den Kindern rumzualbern und vor allem zu kuscheln. Auch die Beziehungen zu den Hausmüttern, meinen „Sisters“, schätze ich sehr wert, denn mit ihnen kann ich ganz offen über meine Gefühle sprechen und sie helfen mir bei vielen ganz praktischen Dingen.

Mein Alltag im Friendly Home gestaltet sich nach wie vor ziemlich abwechslungsreich, da oft spontan neue Aufgaben hinzukommen. Vormittags verbringe ich meine Zeit im Office des Friendly Home zusammen mit meinen „Sisters“ und nachmittags mit den Kindern bei der Gartenarbeit, den „Games“, also dem gemeinsamen Spielen und Sportmachen, und beim Lernen.

Außerdem gibt es eigentlich so gut wie immer eine Feier oder Veranstaltung zu planen, es wird also nie langweilig und es ist immer etwa los.

So hatte im Oktober der Direktor des Friendly Home, der auch gleichzeitig der Schulleiter der daneben gelegenen Schule ist, Geburtstag, welcher groß gefeiert wurde. Morgens gab es in der Schule ein Programm für seinen Geburtstag. Bei dieser und generell allen Veranstaltungen in der Schule ist meine Aufgabe Fotos von den Vorführungen zu machen. Das finde ich gar nicht schlecht, da ich so diese immer aus erster Reihe betrachten kann.

Abends haben wir dann auch im Friendly Home gefeiert. Die Kinder haben einige Tänze vorgeführt und ein Paar Kinder und ich haben zwei Geburtstagslieder auf Deutsch vorgesungen. Doch mein absolutes Highlight dieses Tages war, als wir nach dem Abendessen laut Musik angemacht haben und alle zusammen draußen getanzt haben. Alle Kinder, egal welches Alter, und auch Ich waren total ausgelassen und haben es genossen zusammen zu tanzen. Für mich war das ein ganz besonderer Moment: Tamil Lieder hörend, Sari-tragend mit den Kindern einfach Spaß zu haben.

Ende Oktober haben wir das „Diwali“ Festival gefeiert. An diesem Festival zündet man überall im Haus Kerzen an und macht abends ein Feuerwerk. Auch wir haben viele Kerzen hier angezündet und  hatten ein kleines Feuerwerk. Und auch an diesem Abend haben wir wieder alle zusammen draußen getanzt.

Am 14. November war der „Children‘s Day“, der natürlich auch gefeiert wurde. Hier ist es üblich, dass am „Children‘s Day“ die Lehrer ein Programm für die Schülerinnen und Schüler organisieren und so war auch ich daran beteiligt. Für mich war das total besonders und aufregend, denn ich durfte zusammen mit den Lehrerinnen einen traditionellen Tanz aufführen. So etwas hätte ich mir vor 6 Monaten noch nicht vorstellen können. Ich bin unglaublich dankbar, dass mich die Menschen hier so  integrieren und ich an allem teilhaben, sehr viel Neues lernen und viel von der Kultur miterleben darf.

Im November war außerdem das Silber Jubiläum der Partnerschule in der Nachbargemeinde Vaniyambadi. Für diese festliche Feier haben ich und eine der Hausmütter einen Tanz mit einigen Mädchen des Friendly Home eingeübt, welchen die Mädchen dann erfolgreich aufgeführt haben.

Einige der älteren Mädchen und ich vor unserer Krippe

Da das Friendly Home sehr christlich geprägt ist, haben wir hier natürlich auch Weihnachten gefeiert. Dazu hatten wir eine Weihnachtsfeier, an welcher wir auch unsere Wichtelgeschenke ausgetauscht haben. Die Kinder hatten extrem viel Spaß am Wichteln. Obwohl sie selbst nicht viel besitzen, haben sie das was sie haben, sich gegenseitig geschenkt, um dem anderen eine Freude zu machen, was mich wirklich sehr gerührt hat.

An Weihnachten selbst waren nur die älteren Mädchen der zehnten bis zwölften Klassen und ich im Friendly Home. Wir haben es uns gemütlich gemacht, uns gegenseitig „Mehndi“ Tattoos gemalt, einige Filme geguckt und natürlich viel Schokolade und Kuchen gegessen.

Silvester habe ich bei meiner Mitfreiwilligen Daphne in Trichy verbracht und zusammen sind wir einige Tage danach zu unserem Zwischenseminar nach Kochi in Kerala gefahren.

Mitte Januar haben wir „Pongal“ gefeiert und die Kinder hatten zu diesem Anlass fünf Tage frei. Wir haben am ersten Tag „Pongal“ selbstgemacht, was vereinfacht gesagt süßer Reis ist, und einige Gruppenspiele gespielt. Außerdem ist es an „Pongal“ Tradition Zuckerrohr zu essen, was wir natürlich auch gemacht haben. Auch wenn mir danach die Zähne etwas geschmerzt haben, denn Zuckerrohr ist doch ziemlich hart, hat es mir wirklich sehr gut geschmeckt.

 

 

Kultur und Co

Indien unterscheidet sich in sehr vielen Dingen von Deutschland, doch in nun sechs Monaten hatte ich sehr viel Zeit mich an viele indische Gegebenheiten zu gewöhnen, sie selbst zu übernehmen und auch lieben zu lernen.

Die indische Kleidung habe ich definitiv lieben gelernt. Ich trage hier täglich die traditionelle Kleidung Chuddida. Diese besteht aus einer Art weiter „Pumphose“, einem T-Shirt, welches meist bis zu den Knien geht und an beiden Seiten bis zur Hüfte „aufgeschnitten“ ist und einem Schal, den man sich über das Dekolleté legt. Der farblichen Gestaltung und Muster der Stoffe sind dabei keine Grenzen gesetzt. Es gibt so unendlich viele und unterschiedliche Stoffe, dass ich das Gefühl habe noch nie einen Stoff zweimal gesehen zu haben. Es bringt mir super viel Spaß mir neue Stoffe auszusuchen, wobei ich deutlich farbenfroher wähle als ich es in Deutschland je tun würde,  und mir danach daraus eine Chuddida schneidern zu lassen.

Am Anfang war ich jeden Tag ganz aus dem Häuschen, dass ich täglich diese für uns  außergewöhnliche Kleidung tragen kann, doch mittlerweile ist es für mich wirklich super normal Chuddida zu tragen und außerdem ist diese im Vergleich zu Jeans und T-Shirt super bequem.

Hier in Indien tragen alle verheirateten Frauen täglich Sari und auch ich zu festlichen Anlässen.

Es dauert ungefähr 20 Minuten bis mir eine der Hausmüttern den Sari umgebunden hat, denn alleine weiß ich rein gar nichts mit den gut sechs Metern Stoff anzufangen, geschweige denn mir den Sari eigenständig anzuziehen. Wenn  ich den Sari dann endlich anhabe, fühle ich mich immer, auch wenn es kitschig klingt,  etwas wie eine Prinzessin.

Generell spielt das äußere Erscheinungsbild unter Frauen eine recht große Rolle.

Alle Frauen sind immer total schick und hübsch gemacht, sobald sie in die Öffentlichkeit gehen. Auch ich habe mir da einiges

Meine „Sisters“ und ich

abgeguckt. So trage ich immer Schmuck, gebe mir größte Mühe meine Haare möglichst ordentlich zu flechten und trage immer einen Sticker, also den „Punkt“ auf der Stirn. Vieles haben mir die Kinder beigebracht und natürlich macht es mir viel Spaß mich auf diese Weise zurecht zu machen… Manchmal jedoch würde ich auch gerne mal total gammlig rumlaufen, ohne dafür einen Kommentar von den Kindern zu bekommen. 😉

Ein wichtiger Teil der indischen Kultur ist außerdem das Essen. Auch wenn es meistens drei Mal am Tag Reis gibt, gibt es eine sehr große Vielfalt an Soßen und Gemüse, welches dazu serviert wird, wobei natürlich niemals Chili fehlen darf. Im Großen und Ganzen schmeckt mir das indische Essen echt gut und ich habe die Schärfe wirklich lieben gelernt, zu meinem Glück vertrage ich alles sehr gut.

Viele Gerichte oder Snacks, die mir zu Anfang nur „in Ordnung“ geschmeckt haben, schmecken mir mittlerweile richtig gut. „Dossa“ ist hier zu meinem Lieblingsessen geworden. Das ist eine Art Pfannkuchen aus gemahlenem Reis und Wasser, welches man zusammen mit Chutney oder Samba morgens oder abends essen kann.

In Indien wird, wie einige bestimmt bereits wissen, mit der rechten Hand gegessen. Das ist für mich schnell total normal geworden. Ich bin immer wieder erstaunt, wie einfacher und „zwangloser“ es ist mit der Hand zu essen und wenn ich mir vorstelle, dass ich in Deutschland Reis mit Messer und Gabel gegessen habe, kommt mir das jetzt schon fast befremdlich vor.

Das Essen für das Friendly Home wird von zwei Köchinnen gekocht, die wir „Aunties“ nennen.

Noch etwas, was ich gelernt habe, dass man andere je nach Alter mit sister oder brother, uncle oder auntie oder grandma oder grandpa anspricht. Die Kinder haben mir erklärt, dass man durch diese Ansprache seinem gegenüber Respekt zeigt.

Außerdem fragt man jemanden, den man trifft nicht „Wie geht’s dir?“, sondern man fragt „saptingla?“. Das ist Tamil und bedeutet übersetzt „Hast du gegessen?“. Mir wurde erklärt, dass wenn man gegessen hat, es dem Körper und Geist gut geht und aus diesem Grund danach gefragt wird.

Alles was ich hier über Indien beschreibe sind nur meine persönlichen und subjektiven Eindrücke, welche natürlich nicht allgemeingültig sind! Außerdem beziehen sich meine Beschreibungen nur auf meinen Bundesstaat Tamil Nadu, denn Indien ist ein unglaublich riesiges und vielfältiges Land.

 

Mein Leben in Indien und Ich

Einige Kinder bei der Gartenarbeit

Es ist total verrückt wenn ich darüber nachdenke, wie viele Sachen für mich mittlerweile super normal sind, die für mich zu Beginn meines Freiwilligendienstes noch ungewohnt waren oder mich verwundert haben.

 

Beispielweise ist es in Indien eigentlich immer laut und es spielt immer irgendwo Musik. Dies hat, um ehrlich zu sein, unmittelbaren Einfluss auf mein Leben hier, denn direkt neben dem Friendly Home und (unglücklicherweise) direkt neben meinem Fenster ertönt stündlich eine Art Klingel.

Vier Mal täglich folgt auf die Klingel auch ein Song. Damit habe ich auch in der Regel überhaupt kein Problem, bis auf die Kleinigkeit, dass der Song unter anderem immer um fünf und sechs Uhr morgens abgespielt wird und dieser dementsprechend laut in meinem Zimmer zu hören ist und mich nicht selten aus meinen Träumen reist. 😉 Mittlerweile sind auch so ziemlich alle meiner Freunde und Familie mit der Klingel bekannt, denn ein Telefonat während dem Klingeln weiterzuführen ist nahezu unmöglich 😉 Im Großen und Ganzen stört mich die Klingel aber natürlich nicht weiter!

Auch gucke ich schon gar nicht mehr hin, wenn ich aus dem Friendly Home rausgehe und eine Kuh oder ein Esel vor dem Tor steht und gemütlich Gras frisst.

Ich musste mich auch daran gewöhnen, meine gesamte Wäsche mit der Hand zu waschen. Da ich in diesem Gebiet etwas faul bin, kommt es immer wieder vor, dass ich nach drei Wochen, dann mal gute zwei Stunden für meinen Berg an Wäsche brauche.

Außerdem werde ich fast täglich bei der Gartenarbeit hier im Friendly Home richtig dreckig. Mag etwas banal klingen, aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich in Deutschland das letzte Mal richtig dreckig von Erde und Matsch war. Hier hingegen ist es total normal und völlig in Ordnung  für mich nach der Arbeit richtig dreckige Füße und Hände zu haben.

Hier auf dem Gelände des Friendly Home laufe ich immer barfuß rum, was ich super angenehm finde. Außerdem sitze ich so viel im Schneidersitz, wie noch nie zuvor. Zum Bespiel beim Essen wird auf dem Boden im Schneidersitz gesessen, aber auch ganz oft im Office, wenn wir Tee trinken oder einfach nur quatschen wird meistens, obwohl ausreichend Stühle vorhanden sind, einfach auf dem Boden gesessen.

Da das Friendly Home direkt neben der Schule liegt und ich selbst drei Mal die Woche in der Schule Deutsch als AG unterrichte, kriege ich ziemlich viel von dem Schulalltag mit. So gibt es jeden Morgen eine Schulversammlung, bei der unter anderem  für die Geburtstagskinder des jeweiligen Tages gesungen wird. Aber nicht nur das ist anders als an deutschen Schulen, so tragen die Kinder jeden Tag Schuluniform und die Schüler*innen laufen in der Schule immer in einer Reihen hintereinander her. Am Ende jedes Schultages wird außerdem die Nationalhymne gesungen.

Dass ich hier schon richtig angekommen und an vieles gewöhnt bin, ist mir besonders aufgefallen, als ich für die Proben des „Children’s Day“ in einem Klassenzimmer mit 15 indischen Frauen in bunten Sari zu traditioneller Musik  traditionelle Tänze eingeübt habe. Die Situation war für mich so normal, bis mir aufgefallen ist, wie besonders der Moment doch eigentlich ist.

Was ich unbedingt noch loswerden möchte ist, wie hilfsbereit die meisten Menschen hier sind. So wurde mir schon oft unterwegs von Menschen, die meist nur Tamil sprachen, gezeigt, welchen Bus ich nehmen muss. Meist wurde sogar mit mir auf den entsprechenden Bus gewartet und dies ohne dass ich nachgefragt habe, die Unterstützung aber sehr nötig hatte und absolut hilfreich war.

Natürlich gibt es auch immer wieder Tiefpunkte, doch ich habe mir einige Sachen angeeignet, die mir gut tun und  die ich sehr genieße.

So ist das Dach zu meinem Rückzugsort geworden,  auf dem ich meine Gedanken gut ordnen kann oder einfach die Seele etwas baumeln lassen kann. Besonders gerne sitze ich dort nach den „Games“ und genieße den Sonnenuntergang.

Außerdem genieße ich es immer sehr Bus zu fahren. Busfahren ist hier eine gänzlich andere Erfahrung. Alle Fenster und Türen sind immer auf und meist wird laut Musik gespielt. Ich finde es total toll mir dabei  einfach die Landschaft und das bunte Treiben auf den Straßen anzuschauen.

Auch liebe ich es mit einer der Hausmütter auf dem Roller mit zu fahren.

Ich bin zudem ein totaler Fan von dem hiesigen Tee, der mit Milch, schwarzem Teepulver und nicht zu wenig Zucker zubereitet wird, und so finde ich die zwei Mal täglichen Teepausen natürlich klasse. Trotzdem gönne ich mir soweit es geht jeden morgen einen schwarzen Kaffe und trinke diesen auf dem Dach, was mir immer sehr gut tut.

Aber nichts muntert mich mehr auf als eine ehrliche und herzliche Umarmung von einem der Kinder oder ein unbeschwertes, lautes Lachen.

Das Friendly Home ist mir in den vergangenen Monaten wirklich zum Zuhause geworden und täglich lerne ich neue Dinge über mich, über die Kinder und über Indien.

Ich bin wirklich sehr dankbar über alle Erfahrung die ich hier mache, über alle Begegnungen und die Menschen im Friendly Home, die für mich zur Familie geworden sind. Besonders rührt mich, wie liebevoll die Kinder miteinander und mir umgehen,  sie unterstützen sich gegenseitig unglaublich doll und achten immer darauf, dass es allen gut geht.

Auch durch das Seminar im Januar wurde mir bewusst, wie sehr ich die Kinder in mein Herz geschlossen habe. Dort konnte ich außerdem nochmal Kraft sammeln und ich bin jetzt super gespannt auf die zweite Hälfte meines Freiwilligendienstes, denn langweilig wird es gewiss nicht!

Ich freue mich auf alles, was ich noch lernen werde, was ich noch erleben darf und auf alles was sonst noch so auf mich zu kommt und passiert.

 

Bis dahin, beste Grüße aus dem Friendly Home in Alangayam, Indien,

 

Paula Regenhardt