Ukraine: 1. Rundbrief von Samira Christmann

Liebe Leser*innen,

mein Name ist Samira Christmann, ich bin 19 Jahre alt, komme aus Münstermaifeld-Metternich und habe dieses Jahr mein Abitur gemacht. Der Malteser Hilfsdienst in Ivano-Frankivsk , in der Ukraine,  ist meine Einsatzstelle. Am 29. Juli 2019 startete ich mein Abenteuer. Seit dem ist schon so einiges passiert von Zügen die fast verpasst wurden, über kiloweise geschältes Gemüse bis hin zum Lernen des kyrillischen Alphabetes. In meinem ersten Rundbrief möchte ich euch gerne von meiner aufregenden Anfangszeit in der Ukraine berichten. Viel Spaß beim Lesen ! 😉

Mein Laptop vor mir aufgeschlagen und die Finger in Bereitstellung zum Schreiben. Aber ich weiß eigentlich gar nicht, wo ich anfangen soll.

Ich beginne nach dem intensiven Orientierungswochenende von SoFiA im Januar auf der Marienburg in Bullay, nachdem für mich fest stand, ich will das unbedingt machen: 13 Monate in ein fremdes Land. Die darauffolgenden Seminare waren Grund für noch mehr Vorfreude und eine super Vorbereitung auf den Friedensdienst. Unser Freiwilligen-Jahrgang ist mehr und mehr zusammengewachsen und auch die Teamer, Gruppenleiter und Mitarbeiter von SoFiA sind uns ans Herz gewachsen. Trotz alle dem wusste ich bis zu eineinhalb Wochen vor meiner Ausreise noch nicht, was es bedeuten würde ein Jahr weg zu gehen. Und ich weiß es bis heute nicht.

Jasmin, meine Mitfreiwillige (wir leben in derselben Stadt, sie hat ihr Projekt bei der Caritas) und ich haben uns auf den Vorbereitungsseminaren kennen gelernt und uns auf Anhieb super verstanden. Circa zwei Wochen vor der Abreise hatten wir dann all unsere nötigen Zug- und Bustickets gebucht und dann konnte das Abenteuer auch quasi schon los gehen.

Aber halt, nicht so schnell. Die Woche davor war noch ziemlich nervenaufreibend.

Als ich dann in der vorletzten Woche die ersten Freunde für 13 Monate verabschiedet habe, wurde mir zum ersten Mal bewusst, was es bedeuten könnte für so eine lange Zeit getrennt von der vertrauten Umgebung zu sein. Dank Gesprächen mit Freunden und Familie konnte ich mich für die letzten Tage dann aber doch darauf besinnen, dass es kein Weltuntergang ist und ich mich auf das neue Abenteuer freuen sollte.

Und dann war es auch schon so weit: Montag, der 29. Juli 2019, an dem es los ging. Wer mich gut genug kennt, kann vermuten, wann ich meinen Koffer und meinen Rucksack gepackt habe. Genau: Montagvormittag. Soweit so gut. Es sollte so aber nicht weiter gehen. Da unser geplanter Zug Verspätung hatte, mussten wir einen früheren nehmen. Wir standen am Bahngleis und dann kam auch schon der Zug eingefahren. Nichts mit entspannter Verabschiedung. Jasmin und ich hatten uns gerade erst flüchtig begrüßt und dann sollten wir unseren Eltern plötzlich zum letzten Mal für eine lange Zeit „Lebewohl“ sagen. Mir stiegen sofort die Tränen in die Augen als ich meine Mama umarmte. Ich hatte mich den ganzen Tag schon schlecht gefühlt. Morgens bekam ich dann noch eine Blasenentzündung. Ich hatte ein komisches Gefühl in meiner Magengegend. Mir war schlecht und ich fühlte mich elendig. Wie sollte ich 13 Monate überleben, ohne Familie, ohne Freunde, die ich schon kenne, ohne meine Muttersprache??? Der Montag war ein schlimmer Tag. Wir hatten jeweils einen großen, schweren Backpackerrucksack auf dem Rücken, je einen kleinen Rucksack in der einen, eine Tasche in der anderen Hand und zwei große schwere Koffer. Ich kann euch jetzt schon verraten, es ist absolut nervig und anstrengend mit so viel unhandlichem Gepäck zu Reisen. Ein letztes Foto, alle umarmt …

Koblenz am Hauptbahnhof

… und dann stiegen wir in den Zug ein. Jasmin und ich konnten zu diesem Zeitpunkt nicht, aber auch so wirklich gar nicht realisieren, dass es jetzt losgehen würde. Ich fing an zu weinen. Meinen Freund Amir konnte ich nicht mehr verabschieden. Aufgrund der kurzfristigen Umplanung unserer Zugverbindungen schaffte er es nicht mehr rechtzeitig zum Bahnhof. Es hat mir das Herz zerrissen.

Trotz allem saßen wir dann im Zug, viel zu vollgepackt, voller Zuversicht, zwischen Lachen und Weinen und hatten keine Ahnung was auf uns zukommen würde. Irgendwann packte Jasmin dann eine Weihnachtsdose mit selbstgebackenen Keksen ihrer Oma aus. Und die probierten wir genüsslich und analysierten ihre Inhaltsstoffe, als hätten wir nie etwas anderes gemacht. Später würden wir die Keksdose mit den köstlichen Gebäckstücken leider in dem Zug von München nach Budapest vergessen.
Wir fuhren so vor uns hin und sprachen viel darüber, dass wir es einfach nicht fassen können, dass es jetzt losgehen sollte. In München angekommen, stiegen wir zwei vollbepackten Freiwillige aus und suchten erstmal den nächsten McDonalds auf. Einer blieb beim Gepäck stehen und der andere besorgte das Essen. Mit der Mahlzeit setzten wir uns an unseren nächsten Bahnsteig und ließen uns das vorerst letzte Fast Food Gericht schmecken.

Am Münchener Hauptbahnhof

Unser nächster Zug traf ein, mit dem wir nun für 16,5 Stunden nach Budapest fahren würden, unser erstes Reiseziel. Dienstagmorgen, so gegen 9 Uhr, erreichten wir den Bahnhof Budapest-Keleti.
Hier verbrachten wir drei wunderschöne Tage.

Parlament in Budapest

Und dann war unser Kurztrip nach Budapest auch schon vorbei.           Nächste Station: Lviv in der Ukraine. Am Donnerstagnachmittag checkten wir in unserem Hostel aus. Wir waren ziemlich spät dran, konnten unseren Zugwagon aber in letzter Minute noch erreichen. Die Schaffnerin für unseren Wagon konnte kein Englisch, wir kein ukrainisch und so waren wir froh, dass wir unsere Kabine mit Ludmila teilten, deren Tochter Viktoria gut Englisch sprach und uns beim Übersetzen half. Von Ludmila lernten wir auch unser erstes ukrainisches Wort: „Дякую“(Djakuju) = Dankeschön. Nachts erreichten wir die ukrainische Grenze. Viktoria hatte uns abends gesagt, dass wir unsere Reisepässe griffbereit halten sollen. Als die Grenzpolizei in unsere Kabine kam, gaben wir alle drei unsere Reisepässe ab und damit verschwand die Polizistin. Jasmin und ich schauten uns perplex an. Die Pässe waren nun weg. Uns erleichterte, dass Ludmila ihren Reisepass auch mit abgegeben hatte und wir nicht allein dastanden. Es war ein mulmiges Gefühl ohne ausweisende Dokumente zu sein, nicht zu wissen was passiert, nichts zu verstehen und nicht einmal fähig zu sein, nachfragen zu können. Eine viertel Stunde muss es gedauert haben und wir bekamen unsere Pässe zurück mit einem Stempel auf unserem vorläufigen Visum. Wir waren erleichtert. Ich konnte wieder einschlafen, bis es am nächsten Morgen wieder aufstehen hieß und wir uns fertig machten für unsere erste Ankunft in Lviv. Kurz vor dem Ausstieg bedankten wir uns bei Viktoria und Ludmila für ihre großzügige Hilfsbereitschaft, ohne sie wäre die Zugfahrt für uns wahrscheinlich der Horror gewesen.

Jasmin beim Beziehen meines Bettes in der Zugkabine

So. Da standen wir zwei nun. Das erste Mal in unserem Leben in der Ukraine. Wir waren überfordert und wussten zuerst nicht, wie wir nun weiter vorgehen sollten. Wir brauchten ukrainische Hrywnja und mussten irgendwie zum Busbahnhof gelangen. Zum Glück konnte uns ein Deutscher beim Finden einer Geldwechselstation helfen, sodass wir uns dann in ein Bistro zum Frühstücken setzen konnten. Anschließend schafften wir es mit einem Taxi zur Busstation. Und nach einer drei stündigen, heißen Busfahrt kamen wir endlich in Ivano-Frankivsk an. Wir waren froh, dass wir es geschafft hatten. Frauke meine Vorfreiwillige und unser zukünftiger Sprachlehrer, Igor, begrüßten uns herzlich am Busbahnhof und dann ging es mit einem Taxi zum ersten Mal zur Mateika (das Haus, in der die Wohnung der deutschen Freiwilligen liegt). Dort angekommen luden wir erst mal alles in der Wohnung ab. Abends feierten wir mit David und Simon (zwei ehemalige Freiwillige), die zu Besuch waren, ihren letzten und unseren ersten Abend. Es war eine schöne Feier und wir lernten dort schon viele Ukrainer kennen.                                                                                                                                                                                                        In der nächsten Woche begleiteten wir Frauke. Sie zeigte uns alle wichtigen Plätze in der Stadt, die Supermärkte, das Rathaus, einige großartige Restaurants, führte uns in die ukrainische Küche ein, … Sie erzählte uns viel, von der Arbeit, über die Stadt, bis hin zum kyrillischen Alphabet.

Auf dem Rathaus in Ivano-Frankivsk mit Frauke

Freitagmorgens ging es dann für uns mit dem Zug wieder nach Lviv für unseren zweiwöchigen Sprachkurs. Das war eine Herausforderung. Diese Buchstaben, die wir nicht kannten, die Laute, die wir nicht gewöhnt waren, … haben mich in die erste Klasse zurückversetzt. Ich musste nun neu schreiben und lesen lernen. Ich war überfordert und es hat lange gedauert, bis ich ein Wort überhaupt aussprechen konnte.
Die zweite Woche Sprachkurs war ziemlich anstrengend. Aber die zwei Wochen in Lviv waren trotzdem wunderschön, die Stadt ist einfach traumhaft. Wir hatten super Wetter und an jeder Ecke gibt es Straßenmusiker. Trotzdem waren wir dann froh, als die letzte Sprachstunde freitagnachmittags beendet war.
Wieder mit dem Zug fuhren wir samstags zurück nach Ivano, wo es für uns am Montag erst so richtig anfangen würde …

Mein Projekt: Malteser Hilfsdienst

Direkt in der ersten Woche nach dem Sprachkurs fand samstags ein Erste-Hilfe-Wettbewerb in Ivano statt. Dabei mussten Kleingruppen verschiedene Stationen in der Stadt meistern. Am Abend wurde die Siegerehrung in einem großen Lagerhaus der Malteser gefeiert.

Die Malteser vor der Pokrowski-Kathedrale

Meine Arbeitswoche hier sieht momentan so aus:
Montags helfen Jasmin und ich von neun bis 13 Uhr in der Armenküche aus. Sie befindet sich neben dem Malteser Büro in der Stadt und bietet Menschen täglich eine warme Mahlzeit. Dort schälen wir Gemüse und spülen das Geschirr. Anschließend erledigen wir immer unseren wöchentlichen Großeinkauf.

Zwiebeln schälen in der Armenküche

Dienstag bis Freitag haben wir mit Igor von der Caritas jeweils von neun bis circa zehn Uhr Sprachunterricht. Anschließend gehe ich von meiner Wohnung aus 15 Minuten zu Fuß in die Stadt zum Malteser Büro. Hier mache ich dann oft kleine Arbeiten, wenn keine großen Projekte anstehen. Wie zum Beispiel Zertifikate abstempeln, Blumen gießen, Spenden sortieren. Mal gehe ich neues Druckerpapier kaufen oder helfe beim Schreiben von Nachrichten, die auf Deutsch verfasst werden müssen.
Mit Jasmin habe ich auch mal ihr Projekt, die Caritas besucht. Dort begleiten wir die behinderten Menschen bei ihrem Tagesprogramm. Manchmal steht die Holzwerkstatt an der Tagesordnung, in der gewerkelt wird. Es wird zusammen gelesen, gemalt und viel gebastelt und genäht. Dann gibt es Tage, an denen wir zusammen spazieren gegangen sind, oder auf dem nahegelegenen Sportplatz Fußball gespielt haben.

Im Gewächshaus der Caritas Werkstatt

Sonntags gehen wir seit einigen Wochen nun auch in den Deutschclub der Stadt. Dort treffen sich Ukrainer, die gerade Deutsch lernen oder weiterhin ihr Deutsch üben und verbessern möchten. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt und es macht immer sehr viel Spaß.
Eines donnerstagmorgens fuhr ich mit den Maltesern zu einem Einsatz bei einem Extremsport-Wettbewerb nach Bukovel in die Karpaten. Dort hatten sie Rettungsdienst und zum Glück gab es keine schwerwiegenden Verletzungen an diesem Tag.

Bukovel in den Karpaten

An einem Wochenende fuhren wir nochmal nach Lviv, um unsere Freundin Eva vom Flughafen abzuholen die uns für zwei Wochen besuchen kam. Die zwei Tage verbrachten wir dort mit leckerem Essen und großartigen Aussichten, wie zum Beispiel auf dem Schlossberg.

Blick auf Lviv vom Schlossberg aus

An einem Samstagvormittag fand eine Aufräumaktion von den Maltesern in Ivano statt. Von zehn bis 12 Uhr durchforsteten wir einen kleinen Hügel, der als Picknick- und Grillplatz genutzt wird, am Stadtrand nach jeglichem Müll.

Jasmin und ich nahmen am 12.10.2019 bei dem Spielefest mit Rollstuhlfahrer*innen von den Maltesern teil. Es gab einen Parcours, durch den sie so schnell wie möglich durchfahren oder geschoben werden mussten. Außerdem wurde Boccia gespielt und es gab ein Hockey-Spielfeld. Teilweise haben wir mitgespielt und es war ziemlich spannend und lustig.

Siegerehrung nach dem Turnier

Freitagnachmittags fand von der Caritas in der Innenstadt eine Aktion gegen Menschenhandel statt. Es wurde gesungen, gebetet und anschließend sind wir mit schwarzen Regenschirmen, Plakaten und Flyern durch die Straßen gezogen. In der Ukraine ist jeder fünfte Mensch davon betroffen.

Walk-For-Freedom

 

Am Sonntag, den 20. Oktober, war es dann soweit und Jasmin konnte ihre eigene Wohnung beziehen. Bis jetzt hatten wir gemeinsam in meiner Wohnung gelebt, seit 12 Wochen verbrachten wir jeden Tag zusammen. Zuerst war es komisch plötzlich alleine zu sein, aber es tat uns beiden auch gut, nach so langer Zeit wieder etwas Privatsphäre zu haben.

Eines freitags sind wir dann mit den Maltesern nach Hoshiv zum Besinnungswochenende gefahren. Über den Tag verteilt haben wir über die Themenfelder Fehler, Angst und Kritik gesprochen, was das ist, wie man damit am besten umgeht, … Wir haben immer zusammen gegessen und abends haben noch einen Film geguckt. Sonntagmorgens sind wir in die Kirche gegangen und mittags dann auch schon wieder nach Hause gefahren.

Besinnungswochenende in Hoshiv

Soviel zu meinen ersten drei Monaten meines Friedensdienstes. In dieser Zeit ist schon so viel passiert, als dass ich es gar nicht in drei Monate packen könnte und es fühlt sich nach so viel mehr Zeit an. Und doch ist alles noch ganz frisch und neu und wir stehen doch noch am Anfang unserer Reise. Generell muss ich sagen, dass alles schon viel besser funktioniert im Vergleich zu den ersten Wochen. Allein was das Thema Umgebung betrifft: am Anfang, als wir mit Frauke unterwegs waren, hatte ich die Befürchtung, dass ich mich hier niemals auskennen würde. Und jetzt sind die Wege zur Arbeit, zum Supermarkt schon so bekannt. Wir kennen die Bushaltestellen, an denen wir aus- und einsteigen, wissen wie Busfahren in der Ukraine funktioniert. Mittlerweile wissen wir auch, dass die Butter in der Gefriertruhe liegt, die wir anfangs erstmal suchen gehen mussten. Und so vieles mehr. Sachen, bei denen ich mich am Anfang so überfordert gefühlt habe und Angst hatte, dass es sich niemals bessert. Auch die Gefühlsschwankungen lassen mehr und mehr nach. Zu Beginn, wenn ich alle paar Tage meine Tiefs hatte, ohne dass es dafür immer einen Anlass gab, habe ich gedacht, das würde sich auch nicht schnell bessern. Wenn einfache Dinge, wie Einkaufen so anstrengend waren, … Nun geht alles besser, ich fühle mich schon mehr Zuhause angekommen, obwohl ich irgendwo weiß, dass ich noch immer am Anfang stehe. Aber das alles würde auch nicht so gut funktionieren, wenn ich hier nicht super tolle Leute kennen würde. Die Malteser sind sehr hilfsbereit, aufmerksam und lustig. Jasmin und ich haben hier schon so tolle Abende mit dieser Malteser-Gemeinschaft erlebt.

Ich bin gespannt, was da alles noch auf mich zukommt. Aber ich glaube ich habe jetzt schon gelernt, allem seine Zeit zu geben, was Zeit braucht.

Ich bedanke mich herzlich fürs Lesen und freue mich Euch im nächsten Rundbrief über die nun anstehende Nikolausaktion zu berichten !

Liebe Grüße aus Ivano-Frankivsk, der Ukraine

Samira 🙂