Bolivien: 3. Rundbrief von Marie Hagenbourger

Bewegende Momente

Queridos,

Mittlerweile bin ich schon wieder seit einiger Zeit zurück in Deutschland, das ging schneller als erhofft. Zeit, um das Erlebte wieder Revue passieren zu lassen. Ich möchte Euch gerne auf eine Reise in meine letzten Monate nach Concepción mitnehmen.

 El Sur: Hilfe, es ist sehr kalt!

Am Abend ein wenig kühler Wind, in der Nacht brauche ich eine dünne Decke. Am nächsten Morgen ist es frisch, aber für mich nicht kalt (wohlgemerkt bei 20 Grad). Ich bin bestens angezogen mit einer langen Hose, Flipflops und einem dünnen Dreiviertel­pullover. Als ich dann aber zu einer Musikprobe vor die Tür gehe, bin ich doch stark überrascht: Die Bolivianer haben Angst, bei diesen Temperaturen zu erfrieren, sodass sie von heute auf morgen nur in dicker Winterjacke, Handschuhen, Schal und Mütze aus dem Haus gehen.

Grund hierfür ist ein Südwind, der kalte Luft mit sich bringt. Durch die Lage auf der Süd­halbkugel entspricht der hiesige Nordwind wohl einem dortigen Südwind. Der polnische padre kann meine Verwunderung aber doch ein wenig nachvollziehen und trägt unter seinem dicken Pullover doch auch die Flipflops. Aber nach 14 Jahren Bolivien hat er sich auch schon etwas mehr an das heißere Klima gewöhnt und reagiert somit auch empfindlicher auf Kälte.

Schuljahresbeginn

Eröffnungsfeier für die Lehrer

Anfang Februar, am ersten Schultag nach den Sommerferien, fahren wir mit dem ganzen Lehrerkollegium in eine kleinere Gemeinde Concepcións. Hier wird mit dem Bürger­meister, Zuständigen für die Schulen, Schulleitern und allen anderen Lehrerinnen und Lehrern das Schuljahr mit einer großen Feier begonnen. Empfangen werden wir erst einmal mit einem ausgiebigen Frühstück. Ca. 300 Lehrer sind gekommen, die alle auf dem Sportplatz Platz nehmen und zahlreichen Reden, Tänzen von Schülergruppen, Gedichten und Musik zuhören. Es wird gegrillt und wir sitzen gemütlich zusammen. Am nächsten Tag beginnt dann auch das Schuljahr für die Schülerinnen und Schüler.

Ich helfe der Sekretärin bei der Registrierung aller Schüler, sortiere die Akten mit den Schülerdokumenten und springe auch mal spontan im sonstigen Schulalltag ein.

Ich begleite Lehrer in den Sport- und Musikunterricht. Lerne in der 1. Klasse den Vokal „A“ kennen und dass Regenbogen, Biene, Ring, Anker, Spinne, Baum, Flugzeug, Wasser, … im Spanischen mit „A“ beginnen.

Bei meinen Unterrichtsbesuchen sind aber auch immer wieder sehr lustige Situationen aufgekommen, an denen ich Euch natürlich auch gerne teilhaben lassen möchte:
6. Klasse Biologie: Eine kleine Wissensstandsabfrage aus dem vorherigen Schuljahr:
Welche Funktion hat das Gehirn? – Das Gehirn ist wie ein Mikrochip, der unsere Erinnerungen und Erlebnisse speichert.
Welche Funktion hat das Herz? – Die Funktion des Herzens ist die Liebe.

Reflektionstag zur Fastenzeit mit dem Lehrerkollegium

An Aschermittwoch steht ein Kollegiumsausflug an. Gemeinsames Frühstück, Dynamikspiele, Gottesdienst, viel Musik und Reflektionsaufgaben zur Fastenzeit. Für den Teamgeist der Lehrer veranstalten wir ein Völkerballspiel zwischen den Lehrern.

Da ich im Voraus den Ablauf mitgeplant habe, erfahre ich auch früh, dass eine „Taufe“ geplant wird. Im letzten Jahr sei das Treffen wortwörtlich ins Wasser gefallen und ab­gesagt worden. Bei Lehrertagen ist es wohl so üblich, dass die „Neuen“ durch das Kollegium begrüßt werden. Es haben sich ein paar angesammelt, die bisher davon verschont geblieben sind.

Es werden die größten und dicksten Lehrer auserkoren, um die Täuflinge festzuhalten, dass auch ja niemand abhauen kann. Denn die Taufe wird mit Farbe, Eiern, Mehl etc. durchgeführt. Jeder wird durch eine „Gesichtsmassage“ mit Ruß begrüßt.

Taufe durch das Lehrerkollegium

Danach wird getauft: Ein Spruch, der zur jeweiligen Person passt und sich reimt. Vielen wird mit Salzwasser ein Kreuz auf den Kopf gegossen, nachdem jeweils ein kräftiger Schluck getrunken wurde.  Die verschiedenen Gruppen der Reflektionsarbeit dürfen sich nun noch eine kleine „Strafe“ für uns überlegen, die wir machen müssen. Es muss getanzt werden, mit dem Bauchnabel der Name in die Luft geschrieben werden oder ähnliches, dass die alten Hasen etwas zum Lachen haben.

Ich bekomme eine Taufe mit Cola, werde danach mit Mehl bestäubt (das Ei auf dem Kopf blieb mir zum Glück erspart). Auf den Spruch: „Te bautizo con agua de ají para que te quedes aquí.” – Ich taufe dich mit Pfefferwasser, damit du hierbleibst (frei übersetzt).

Projektarbeit?!

Mitte März bekomme ich eine E-Mail mit der Aufforderung des BMZs (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), den Freiwilligendienst baldmöglichst abzubrechen und nach Deutschland zurückkehren. Nun hat also auch mich die Corona-Situation fest im Griff. Da Bolivien zu diesem Zeitpunkt (offiziell) gerade einmal 10 Infizierte zählt, trifft der Aufruf nicht nur bei mir (zunächst) auf Unverständnis. „Was? Deutschland hat 6 000 Infizierte, da bist du hier doch viel sicherer.“ Die Schulen werden geschlossen, die Musikschule läuft aber noch in kleinerer Besetzung weiter. Da Bolivien die Grenzen sehr schnell schließt, scheint es doch ziemlich sicher, dass wir noch ein bis zwei Wochen in Bolivien bleiben müssten, bevor es eine Flugverbindung gäbe.
2 Tage später hat meine Mentorin bei den Busfirmen herausgefunden, dass der letzte Bus an diesem Tag um 16 Uhr und der nächste erst wieder sonntags in der Nacht fahren würde. Entschluss: Ich solle sonntags fahren. Auf dem Weg zu mir bekommt sie aber schon wieder neue Infos: Der allerletzte Bus in die Stadt, bevor die Verbindung eingestellt wird, fährt (heute) um 15 Uhr. Für mich bricht eine Welt zusammen, die ich mir in den letzten Monaten aufgebaut habe.

Ich muss also in 2 Stunden Concepción verlassen. Der Leiter des Vikariat und dessen Schüler bringen mich zum Busbahnhof. Das Gepäck schnell auf die Ladefläche des Pickups legen. Sie sind wohl direkt vom Arbeiten gekommen. Sicher fahren sie mich gerne, aber ob ich noch einen Besen hätte, da die Ladefläche eben noch voll mit Erde sei.

Trotz der kurzen Zeit sind noch ein paar Freunde und Lehrer gekommen, um mich noch einmal in den Arm zu nehmen. Adiós Concepción, hasta pronto!

In Santa Cruz ist es für mich in der Gastfamilie sicher auch eine vertraute Umgebung. Aber ich habe das Gefühl auf der Durchreise zu sein. Trotz allem zeigt Bolivien sich in meinen letzten Tagen nochmal von der „schönsten“ Seite und beschert uns Temperaturen von mindestens 30 Grad nachts.

Ich bin noch anderthalb Wochen in Santa Cruz zu Gast, bis das Auswärtige Amt durch das Rückholprogramm der Bundesregierung ein Flugzeug für den 27.03. schicken kann.
Von einem auf den anderen Tag sind Lebensmittel erheblich teurer oder nicht mehr zu bekommen. Fleisch oder Hühnchen gibt es kaum, Brot backen wir selbst.
Die Infiziertenzahl steigt (zunächst) nur sehr langsam. Aber doch schon sehr früh werden Ausgangsverbote ausgesprochen, die später auch mit sehr harten Strafen ver­bunden werden. Zunächst bleiben die Arbeitsstellen weiter bestehen, dann wird die tägliche Arbeitszeit verkürzt, später ganz gestrichen. Öffentlicher und privater (Auto-) Verkehr werden verboten. In der letzten Woche dürfen Erwachsene nur noch einmal pro Woche mit Mundschutz vormittags zum Einkaufen aus dem Haus gehen – abhängig von der letzten Ziffer des Personalausweises.

„Ankommen“ in Deutschland

Es wirkt wie ein ferner Traum. Aber langsam nehmen meine durch den Sand rötlich gefärbten Fußsohlen wieder normale Farbe an. Ich muss also doch zurück in Deutschland sein. Die Gedanken sortieren, alles Revue passieren lassen, viel erzählen, Bilder anschauen, nach Bolivien schreiben. Mich erreichen liebe Nachrichten und Vermisstenaufrufe aus Bolivien. Das macht das Ankommen natürlich nicht einfacher, gibt einem aber ein sehr schönes Gefühl, in so kurzer Zeit bei so vielen Bolivianern einen Platz in deren Herzen und Erinnerung gefunden zu haben – vielleicht eines der schönsten „Ergebnisse“ eines Freiwilligendienstes.

Sicher ist die aktuelle Situation für niemanden einfach und stellt uns alle vor Herausforderungen. Auch ist ein Eingewöhnen in ein einst vertrautes Deutschland schwierig, da doch alles so anders ist. Aber langsam fühle ich mich auch wieder von meiner „deutschen Denkweise“ eingeholt: Ich ertappe mich dabei, wie ich meinen Tag plane, was alles gemacht werden muss. Hilfe! Ich plane Termine, erstelle mir eine To-do-Liste, werfe auch wieder einen Blick auf den Kalender, lasse nicht einfach alles so auf mich zukommen. Herzlich willkommen zurück in Deutschland.

Gedanken zum Freiwilligendienst

Sicher habe ich eine Menge hilfreicher und spannender Dinge gelernt, die ich nicht missen möchte. Auch wenn die Zeit in Concepción kürzer als planmäßig ausfiel, darf ich neben all dem Bedauern, Unverständnis, Stress und Co. sehr dankbar sein, dass ich wunderbare, aufreibende, prägende, nervenkitzelnde 8 Monate in Bolivien verbringen durfte. Eine Erfahrung, die mich sehr an meine Grenzen gebracht und auch das ein oder andere negative Erlebnis herbeigeführt hat, aber auch – wenn nicht sogar viel viel mehr – wunderbare Freund­schaften, Erfahrungen und Musik mit sich brachte. Die bolivianische Großzügigkeit hat mich immer wieder überwältigt. Häufig hörte ich Sätze wie: „Mi casa es también tu casa“ (mein Haus ist auch dein Haus). Wie oft wurde mit mir geteilt – von Essen bis hin zu wertvoller Lebenszeit!
Ich werde das Geschrei aus der Turnhalle als „Wecker“ morgens um 7 Uhr vermissen sowie die zahlreichen Umarmungen der Schüler, die auch quer über die plaza laufen, um mich zu begrüßen. Ich habe eine 2. Familie gefunden, die mich mit offenen Armen erwartet.
„Mitleben, mitarbeiten und mitgestalten.“ Wenn man tief in ein fremdes Umfeld ein­taucht, lernt man soziale Grenzen und Barrieren kennen, die Menschen voneinander trennen. Ich durfte „in den Schuhen Anderer“ laufen und deren Leben, Kultur und Alltag kennenlernen. Gemeinsam haben wir voneinander gelernt, aber mir wurde auch sehr viel mehr „geschenkt“, als ich meinerseits je geben konnte. Ich verspüre unglaubliche Dank­barkeit den Bolivianern gegenüber für deren Offenheit und Selbstverständlichkeit, eine Fremde in ihr Leben aufzunehmen und sie wie „ihre Tochter“ zu behandeln. Die Erfahrungen, die ich in Concepción machen durfte, hinterlassen Spuren.

Mit einem Bolivianer machte ich mich auch auf die Suche nach exotischen Früchten, deren Existenz ich bisher nicht wahrnahm. Heute verbinde ich mit Chirimoya, Acerola, Achachayru, Motoyoé, Guayaba, Ocoró, Piton, Ambaiba und Taruma zwar weiterhin kleine Zungenbrecher, aber ich habe köstliche Früchte und neue Orte in Concepción und Umgebung kennengelernt.

Ich bin aber auch wieder froh, dass man in Deutschland nicht immer auf der Hut sein muss vor einer Horde Ameisen, die durch das Zimmer laufen oder die Essensvorräte plündern.

Sicher ist, dass man von Bolivien nicht nur ein 100% positives Bild zeichnen kann. Bolivien zählt zu den Entwicklungsländern. Und hat sicher auch noch die ein oder anderen Probleme mit Müllversorgung, Sicher­heit, Naturschutz, Lebensstandards, politischen Ver­hältnissen, Korruption. Immerhin wird schon ziemlich offen über Themen wie Gewaltverbrechen, Missbrauch, Drogenkonsum, etc. gesprochen und es werden Ansätze zur Bekämpfung ausgearbeitet.

Wenn ich auch in nur so einer kurzen Zeit sicher nicht vieles von Bolivien gesehen oder verstanden habe, Bolivien ist ein sehr vielseitiges Land, das durch die sehr soziale und hilfsbereite Gesellschaft einen „Besucher“ oder temporären Mitbolivianer verzaubert und fasziniert.

Marie