Frankreich: 1. Rundbrief von Rafael Kuhn

Liebe Freunde, Liebe Familie, Lieber Solidaritätskreis,

ich bin inzwischen schon knapp vier Monate in Frankreich, doch die Abreise am Bahnhof fühlt sich noch garnicht so lange her an und dennoch habe ich gleichzeitig das Gefühl schon viel länger als vier Monate hier zu sein. Ich habe mich hier inzwischen gut eingelebt, viel Französisch gelernt und trotz Corona viele Kontakte knüpfen können.

Ausflug mit dem Foyer nach Avignon.

Die meiste Zeit verbringe ich direkt in meinem Projekt, der Arche le Moulin de l‘Auro in L’Isle-sur-la-Sorgue. Die Arche hier bildet sich aus den „Foyers“ , dem CAJ (centre activité de jour), dem ESAT (etablissement et service d‘aide par el travail) und dem SAVS (service d‘accompagnement à la vie sociale).

Die „Foyers“ sind die Häuser, in denen die Menschen mit Handicap zusammen mit den Assistenten wohnen. Ich arbeite im Foyer „l’eau vive“, das zusammen mit dem Foyer „la source“ auf dem Hauptgelände der Arche ist. Die weiteren Foyers „les fontaines“, „lou camin“ und „la ruche“ sind in einem anderen Teil von L‘Isle-sur-la-Sorgue oder in anderen Orten in der Umgebung von L‘Isle. 

Katzendusche für eine Foto-Challenge zwischen den Foyers

Das CAJ setzt sich aus verschieden Werkstätten zusammen, die für die Bewohner viele verschiedene Aktivitäten während des Tages anbieten. Das ESAT ist eine Einrichtung, die Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap bietet oder auch bei der Jobsuche außerhalb hilft und die Menschen mit Handicap während der Arbeit unterstützt. Das SAVS kenne ich selber noch nicht, aber übersetzt bedeutet es so viel wie „Service der Begleitung beim Sozialleben“.

Mein Arbeitstag beginnt meistens um acht Uhr mit dem Frühstück, Baguette mit Butter und Marmelade. Nach meinem kurzen Frühstück stehen für mich die „Accompagnements“ an. Dabei wecke ich den mir zugeteilten Bewohner auf und assestiere bei der täglichen Hygiene, also duschen, Zähne putzen, rasieren, etc.. Um 9:30 Uhr kommen die Angestellten des CAJ. Während die Bewohner verschiedene Aktivitäten in den Ateliers machen, putze ich mit den weiteren Assistenten das Foyer oder erledige andere Haushaltsaufgaben.  Von 12 Uhr bis 15 Uhr habe ich Mittagspause, in der ich mich ausruhe, etwas esse und einfach frei habe. Am Nachmittag geht es ähnlich weiter wie am Vormittag mit Haushaltsaufgaben, aber es gibt auch Besprechungen und Seminare mit den anderen Freiwilligen und der „Mannschaft“ des Foyers. Wenn es am Vormittag oder Nachmittag vorkommt das es nichts zu erledigen gibt, verbringe ich meine Zeit mit dem CAJ. 

Geburtstag von Jean-Luc

Um etwa 17 Uhr endet das CAJ und die Bewohner kommen zurück ins Foyer, wo jeder das machen kann worauf er Lust hat. Mal wird wii gespielt, manchmal wird auch einfach nur entspannt. Der Tag endet nach dem Abendessen, das zusammen von den Bewohnern und Assistenten zubereitet wird. Bei den „Accompagnements“ des Abends hat man in Ruhe die Möglichkeit, Zeit mit einem der Bewohner zu verbringen und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen während man sie zu Bett bringt. Anschließend wird nochmal ein wenig geputzt und wegen Corona desinfiziert.

Neben den Alltäglichen Aufgaben gibt es auch eine Reihe anderer Sachen die ich hier mache. So begleite ich die Bewohner zu Terminen, beim Einkaufen oder auch bei Ausflügen ins Kino. 

Kinobesuch mit Jean-Luc und Mathias

Das für mich Schönste ist aber die Zeit, die das ganze Foyer zusammen verbringt. Das sind zum Beispiel Ausflüge am Wochenende zum Mont Ventoux, nach Gordes oder Ménèrbes. Aber besonders die Geburtstage und andere Feste zeigen wie viel Lebensfreude in den Bewohnern des Foyers und der Arche steckt.

Meine Aktivitäten während meiner Freizeit waren stark eingeschränkt, denn von Anfang November bis Mitte Dezember gab es strikte Ausgangsbeschränkungen. Man durfte das Haus nur noch aus wichtigen Gründen verlassen oder für eine Stunde am Tag nicht weiter als einen Kilometer vom Haus entfernt. Zwar gibt es für Menschen mit Handicap und deren Begleiter andere Regeln, wodurch Ausflüge mit dem Foyer weiter möglich waren, aber dennoch verbrachte ich den größten Teil meiner Freizeit im Foyer. Die Zeit des “Confinement” (der Ausgangsbeschränkungen) war nicht ganz einfach, da das Foyer viel Zeit nur unter sich verbracht hat und wenig Kontakt nach Außen hatte und somit schneller Konflikte entstehen. Für mich war es schwer mich während meiner freien Tage zu erholen, da die Wände im Foyer sehr dünn sind und man somit das Schnarchen des Nachbarn oder das Stühlerücken um 5 Uhr morgens hören kann.

Die Region um L‘Isle-sur-la-Sorgue ist sehr ländlich geprägt mit vielen Bauernhöfen und Gewächshäusern. Die Stadt mit rund 20.000 Einwohnern hat eine wirklich schöne Altstadt mit vielen Kanälen und engen Gassen. Sobald man aus der Stadt rauskommt sieht man die Berge des Luberon und in der Ferne den Mont Ventoux, den höchsten Berg in der Region.

Jean-Luc aka Johnny Hallyday bringt Stimmung ins Foyer.

Durch Corona ist natürlich nicht nur meine Freizeit eingeschränkt, auch das „normale“ Leben im Foyer und der Arche hat sich verändert. Für mich gibt es zwar keine Veränderung, da ich während Corona hier angefangen habe, aber für die Bewohner ist die Situation teilweise belastend, weil viele normalerweise große Feste im kleinen Rahmen gefeiert werden und weil die Bewohner ihre Familien seltener oder garnicht sehen können. Außerdem entfallen gemeinsame Feste und Aktivitäten der gesamten Arche, da die Foyers untereinander so wenig Kontakt haben sollen wie möglich. Die gesamte Situation verändert meinen Freiwilligendienst zwar, schränkt ihn aber nicht ein, denn ich erlebe trotzdem viele tolle große und kleine Momente hier! So gab es in der Adventszeit jeden Donnerstag einen kleinen Weihnachtsmarkt für die gesamte Communauté. Es gab Glühwein, heiße Schokolade und Süßes. Es wurde zusammen gesungen und getanzt. Jeder war gut gelaunt und glücklich und schien für einen Moment alles drumherum vergessen zu haben.

Ausflug ins „Grüne“

Die ersten zwei bis drei Wochen hier im Projekt waren für mich nicht ganz einfach. Ich bin mit so gut wie keinen französisch Kenntnissen hier angekommen, wodurch die Kommunikation schwer war und ich oft nicht wusste was ich machen kann. Zudem ist es mir besonders schwer gefallen eine Beziehung zu den Bewohnern aufzubauen, da die Kommunikation durch das Handicap nochmal erschwert wurde. Mit der Zeit wurde es besser und ich bin selbst mehr auf die Menschen zugegangen, was bisher nicht wirklich meine Art war. Inzwischen habe ich hier einen kleinen Freundeskreis und auch gute Beziehungen zu den Bewohnern.

Vor meinem Freiwilligendienst hatte ich so gut wie keinen Kontakt mit Menschen mit Handicap. Hier in der Arche habe ich dann sehr schnell gelernt, dass die Handicaps sehr vielfältig sind und sich verschieden stark auf das Leben der Menschen auswirken. So gibt es die Behinderungen wie Trisomie-21, was, denke ich, den meisten Leuten beim Begriff Handicap in den Sinn kommt, da es meistens äußerlich sichtbar ist. Aber ich habe hier auch sehr, sehr, sehr viele Menschen getroffen die ein Handicap haben, was einem im ersten Moment überhaupt nicht auffällt, oder man vielleicht sagt: „Der/die ist aber komisch!“ . Bevor ich hier zur Arche gekommen bin, habe ich bei dem Begriff „geistige Behinderung“ immer an Menschen gedacht die eine Behinderung haben die äußerlich sichtbar ist und bei den, ich nenne sie mal „einfachsten“, Alltagsaufgaben, wie putzen, Hilfe brauchen. Aber ich habe hier dann immer mehr Menschen mit Handicap kennengelernt, die sehr autonom sind. So arbeiten beim ESAT viele die eine eigenen Wohnung haben, aber beispielsweise keinen „normalen“ Job kriegen könnten, da sie aufgrund ihres Handicaps nicht bei dem, häufig sehr hohem, Tempo und Anforderung mithalten könnten, aber beim ESAT die ausreichende Begleitung während der Arbeit bekommen, die sie benötigen. 

Weihnachtsfeier mit traditioneller Mandarinenschalen-Schlacht am Ende

Neben dem Foyer „La Ruche“ gibt es inzwischen eine Reihe von Ein-Zimmerapartments für Menschen aus den Foyers, die den Wunsch nach mehr Autonomie haben. Natürlich werden die Personen vorher „vorbereitet“ und bei dem Weg zur Autonomie begleitet, bis sie irgendwann eventuell sogar in eine eigene Wohnung ziehen und nahezu vollständig autonom leben können. 

Im März werde ich anfangen weitere Erfahrungen beim ESAT zu sammeln, da ich regelmäßig halbtags dort arbeiten werde. Ich hoffe ich kann euch dann in meinem nächsten Rundbrief von meinen Erfahrungen vom ESAT berichten!

Bis dahin: À bientôt und bis bald!

Rafael