Frankreich: 2. Rundbrief von Maria Hill

Salut salut !

Unity in Diversity

 – die Einheit in der Vielheit – ein Motto, das ich bisher typischerweise aus Indien kannte. Dass es so weit aber gar nicht zu reisen braucht, habe ich spätestens hier in der französischen “Arche de la Vallée” erlebt. Denn auch an diesem Ort begegnet mir alltäglich das beeindruckende Funktionieren und Zusammenspiel verschiedenster Herkünfte, Motivationen und Aufgaben vielfältigster Menschen, die zusammengemischt eine große Einheit bilden.

Die Menschen mit Behinderung bilden den Kern dieser Gemeinschaft. Ich finde ich wichtig, sich immer wieder aufs Neue bewusst zu machen, dass es ohne sie diese Gemeinschaft gar nicht gäbe. Sie schlagen Brücken zwischen Menschen. Mal auf mehr, mal auf weniger offensichtliche Weise. Mal mehr, mal weniger bewusst. So vielfältig ihre Einschränkungen, so vielfältig ihre Fähigkeiten. Nach knapp einem halben Jahr im Projekt habe ich Menschen mit ganz individuellen Charakteren kennengelernt. Menschen, die allzu oft voreilig über einen Haufen gworfen und als anders abgestempelt werden. Wie oft habe ich, schon vor meiner Ausreise, den Satz gehört  “Arbeit mit Menschen mit Behinderung, ich könnte das nicht, das stelle ich mir anstrengend vor”. Sicher, anstrengende Phasen lassen sich nicht leugnen, doch diese stehen in keinem Verhältnis zu dem, was die

Mäusschenbacken an Karneval

Menschen an Lebensfreude, Dankbarkeit, Leben zurückgeben! Es braucht einige Zeit, bis ein Vertrauensverhältnis entsteht. Ist dieses jedoch einmal geknüpft und wird als gegenseitige Bereicherung gesehen, nicht als einseitige Hilfsbedürftigkeit, dann trifft jede solcher Mutmaßungen auf schmerzende Verständnislosigkeit.

 

In der Werkstatt

Nachdem ich mich in meinen ersten drei Monaten halbtags im Küchen-Atelier “Cana Sucre” echt gut eingelebt habe, hat es mich doch stets nach draußen in die Natur gedrängt. So bin ich nun seit Januar auf meinen Wunsch hin in den “Espaces Verts” und erkunde diese “grüne” Werkstatt. Sehr schnell habe ich meinen “Stammplatz” beim Holzhacken gefunden. Um möglichst viele betreute Menschen gleichzeitig gut zu beschäftigen, laufen alle Prozesse recht kleinschrittig ab. So schlage ich beispielsweise die Axt in den Holzklotz, halte den Axtstiel dann mithilfe einer weniger autonomen Person, damit eine weitere Person mit Hammerschlägen auf die Axt das Holz endgültig spaltet, wir eine Kette bilden und es der letzten Person zum Stapeln geben können. Während einige immer wieder aufs Neue zum Mitanpacken zu bewegen sind – was manchmal gar nicht so einfach ist, sobald sie sich einmal in einer Nein-Trotzphase befinden – sind andere wiederum kaum zu bremsen. Wenn Sylvain drei Stunden in einem endlosen Wortschwall und Gesänge trällernd, den Hammer in der Hand, vergnügt auf das Holz einschlägt, muss ich oft einfach mitsingen und lachen. Insgesamt macht die Bewegung an der frischen Luft sehr Spaß und ich verstehe mich gut mit dem Team der “Espaces Verts”. Es besteht aus neun betreuten Menschen, zwei festen Angestellten (Vincent und Mélanie) und der portugiesischen Freiwilligen Inès. Außerdem haben wir drei Esel, um die wir uns kümmern. Allmählich

In den „Espaces Verts“

nehmen zudem die Pflanz- und Buddelaktivitäten im Garten zu. Ansonsten, bei zu schlechtem Wetter, gibt es im Chalet (Holzhaus) zu tun. Hauptaktivität war bisher die Feueranzünder-Produktion: alte Klopapierrollen in Wachs getunkt mit Sägespänen und geschreddertem Zeitungspaper als Inhalt, optimal für eine lange Verarbeitungskette!

 

Im Wohnheim

Soviel zum neusten Stand, was meine Tätigkeit in den Werkstätten anbelangt. Im Wohnheim hat sich aber fast noch mehr für mich verändert. Nachdem wir vor den Weihnachtsferien die zwei Kolleginnen, die mit mir in “La Chaumière” wohnten, verabschiedet hatten, war es ab Januar an der Zeit, neues Kollegium (Jean, Natacha, Elodie) zu empfangen und sich einzuspielen. Zudem kamen zwei betreute Mitbewohner, die für zwei Monate in einem anderen Foyer umgesiedelt waren, zurück sowie die krankheitsbedingt seit einem Jahr abwesend gewesene Betreute Soline. So waren wir erstmals seit meiner Ankunft im Oktober vollständig mit neun betreuten Bewohnern und neuer Teambesetzung mit Zukunftsaussicht. Gerade als wir begonnen hatten, einen Rhythmus zu entwickeln, neue Bewegungen in Gang zu setzen, sodass die Hoffnung nach Stabilität fast erhört schien, wurde uns ein Strich durch die Rechnung gemacht. Im Laufe weniger Wochen hatte sich Ende Februar Corona in unserer Archegemeinschaft verbreitet. Da es bereits mehrere Krankheitsfälle in anderen Foyers oder Arbeitsbereichen gab und wir in unserem Wohnheim alle Kontaktperson waren, wurden strikte Quarantäne- und Hygienemaßnahmen verhängt. Die betreuten Personen sollten sich möglichst nur in ihrem Zimmer aufhalten, außer für den Gang ins Badezimmer und Spaziergänge an der frischen Luft, die alleine mit einem Assistenten möglich waren. Folglich übernahmen wir Betreuer den “Zimmer-Service” für die Mahlzeiten sowie individuelle Wünsche und versuchten den Quarantäneaufenthalt über die nötigen Desinfektionsaufgaben hinaus so angenehm wie möglich zu gestalten. Neben der sportlichen Herausforderung im Treppenhaus (ich wollte eigentlich noch eine Hochrechnung der täglichen Stufen machen), war vor allem der psychische Aspekt nicht zu unterschätzen, gerade in der ersten Woche, als wir wegen mehrerer Kranken-Ausfälle im Kollegium nicht sehr stark besetzt waren. Insbesondere für die Menschen mit Behinderung ist die seit über einem Jahr durch Corona veränderte Lebenssituation eine überdurchschnittlich große Freiheitseinschränkung. Vor allem in meinem Wohnheim leben recht autonome Personen, die eigentlich weitestgehende Selbstständigkeit gewohnt sind und teils keine Begleitung für Einkäufe, Freundesbesuche und das typische Dorfleben brauchen. Zimmerquarantänen sind daher für einige extrem schwer zu ertragen oder überhaupt zu verstehen. Anfälle von Panik, Wut, Sorgen, Ungewissheit, Angst, Tränen – es war eine sehr intensive, emotionale Phase. Umso schöner waren die kleinen geteilten Momente, die nun öfter zu zweit stattfanden. Gerade bei den Spaziergängen habe ich gesehen wie sich die Laune hob und wie Alain zum Beispiel auf dem Fahrrad beim Hinuntersausen des Hügels alles andere zu vergessen schien.

„Quarantäne-Radtour“ mit Alain

Allmählich entstanden auch gewisse Rituale. So lege ich beispielsweise abends Kühlakkus auf Janicks Fuß oder mache zweimal pro Woche mit Soline Krankengymnastikübungen. Währenddessen lasse ich auf ihren Wunsch zur Motivation bestimmte Musik laufen. Während der Quarantäne machte ich für solche Dinge immer eine Tour von Zimmertür zu Zimmertür bei den Leuten vorbei. Einmal als ich bei Janique “Le coc est mort” abgespielte, wobei sie immer anfängt wie ein Hahn zu krähen, erschienen nach und nach mehrere Köpfe aus den anderen Zimmertüren oder über dem Geländer des Treppenhauses. Neben dem Gekrähe wurde miaut, es entstand eine lebhafte, tierische Kommunikation. Ein Augenblick, der zeigte, dass das Zusammenleben über die physische Distanz hinwegsah!

 

Meine Rolle als Freiwillige

Was ich gut an meiner Rolle als Freiwillige finde, ist, dass es auf der einen Seite klare Regelungen gibt, die mir versichern nur “zusätzlich” zu sein. Ich bin in meinen Arbeitszeiten nie alleine mit einer Behindertengruppe eingesetzt, darf allein mit den Personen keine zu weit entfernten Ausflüge unternehmen oder Arztbesuche begleiten.

Auf der anderen Seite kann ich nach und nach immer mehr Verantwortung übernehmen und mich nach meinen Interessen in bestimmten Bereichen vertiefter einbringen. Typisch ist zum Beispiel die musikalische Abendgestaltung mit Klavier, Gitarre, Akkordeon und Gesang. Manche Betreute singen passioniert zu den ihnen bekannten Melodien, andere genießen das Zuhören, einige zeichnen währenddessen.

Wenn mir einmal meine Rolle unklar erscheint, ist es mir immer wichtig, mich mit meinen Vorgesetzten nochmal abzustimmen. Auch der Austausch mit anderen Freiwilligen ist immer sehr aufschlussreich.

 

Freiwilligenseminar in Lyon

Anfang Februar habe ich an einem Seminar teilgenommen, das im letzten Moment tatsächlich in Präsenz über zwei Tage in Lyon stattfinden konnte. Hier kamen Freiwillige (Service Civique) verschiedener Archen aus der Region zusammen, so aus Lyon selbst, aus Dijon, Grenoble, Chambery, Doll und eben Hauterives. Inhaltlich wurde uns sehr viel Input zum Thema Begegnung gegeben, zunächst unsere Begegnung als Freiwillige untereinander, aber eben auch die Begegnung, die uns vereint: mit den Menschen mit Behinderung. Was ich hier besonders spannend fand, war die Frage, in Hinblick auf welches Ziel wir die Betreuten in der Arche begleiten. Im Grunde ist die Antwort logisch und zunächst einmal einfach. Wir wollen die Menschen insofern begleiten, dass sie in ihrer Autonomie bestärkt werden, also Aufgaben mit ihnen statt für sie machen. Wie schnell passiert es jedoch, dass im Arbeitsalltag mal eine Aufgabe kurzerhand selbst übernommen wird, weil es doch schneller geht…

Als wir Fähigkeiten sammelten, welche uns verstärkt bei den Menschen mit Behinderung ins Auge springen und die eine Veränderung in uns auslösen, fiel uns in großer Übereinstimmung miteinander einiges ein. So musste ich direkt an den Sinn für Gastfreundschaft denken. Sobald ein Besucher ins Wohnheim kommt, springen Dorian und Janique auf, bieten Kaffee an und empfangen die Gäste herzlich. Insgesamt herrscht eine große Hilfsbereitschaft, Solidarität untereinander und viele unserer betreuten Personen verfügen über eine unglaubliche Sensibilität für das Wohlergehen anderer. Wenn es einem Mitbewohner mal nicht so gut geht, ist großes Mitgefühl sichtbar, es wird sofort ein Taschentuch gereicht, mit liebevollen Worten, egal wer. “Wir kümmern uns umeinander” ist die Devise. Ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist das Teilen lustiger Momente, der Sinn für Humor, eine verrückte Freude und Gleichgültigkeit darüber, was andere von einem denken könnten.

Ein Betreuter, Pascal, steht für mich sinnbildlich für die Fähigkeit, das Wesentliche im Auge zu haben. Aufgrund seiner eingeschränkten Aufnahmefähigkeit, konzentriert er sich auf das Wichtigste, was dazu führt, dass er mich oft an Dinge erinnert, die zu erledigen sind. Noch bevor ich vergessen kann, die Temperaturen zu nehmen, an die Wäsche zu denken, das Auto umzuparken, was auch immer, kommt er angelaufen und macht mich wild darauf aufmerksam. Mein zweites Gedächtnis quasi… Dies sind nur einige von zahlreichen Beispielen, die mir über die Monate immer stärker und differenzierter auffallen.

 

Halbzeit

Überrascht musste ich vor ein paar Tagen feststellen, dass nun schon die Hälfte meiner Zeit im Projekt vorbei ist! Denn das Zwischenseminar mit SoFiA stand vor der Tür.  Zwar findet dieses über Zoom statt, doch für Johannes und mich war es möglich in einem leerstehenden Foyer der Arche in Boulogne-sur-Mer bei unserer Mitfreiwilligen Anna für die sechs Seminartage plus das Wochenende zwischendrin aufgenommen zu werden. Daher sitze ich an diesem Sonntagnachmittag mit Blick auf die Nordsee am Fenster und freue mich einmal mehr darüber, diese Chance zu haben, mit SoFiA einen Freiwilligendienst machen zu können, gerade in diesen Zeiten der Pandemie. Gemeinsam haben wir bisher das letzte halbe Jahr revuepassieren lassen und dabei unsere Erfahrungen ausgetauscht, sodass bestimmte Momente erstaunlich nahe wieder hochkamen. Insgesamt bin ich sehr glücklich, seit meiner Ankunft erstmals mehr als vier Tage außerhalb meines Projektes zu verbringen, um eine gewisse Unterbrechung und Neuorientierung aus der Distanz zu bekommen. Gleichzeitig fiel es mir unglaublich schwer, mich von den Menschen in meinem Wohnheim zu verabschieden, weil ich eine Bindung gespürt habe, die sich gerade in den letzten Wochen der Ausgangssperre noch einmal intensiviert hat. Zu jedem einzelnen Mitbewohner.

Daher freue ich mich auch schon, nach dem Zwischenseminar gestärkt und mit neuem Elan in mein Projekt wiedereinzusteigen. Von Gründonnerstag bis Ostersonntag nehme ich an einer Pilgerung an der Galaure teil, die wir innerhalb der Arche-Gemeinschaft

blühender Aprikosenbaum in Hauterives Ende Februar

organisieren, worauf ich schon sehr gespannt bin. Darüber hinaus freue ich mich auf die Wiedereröffnung der Werkstätten, um in den “Espaces Verts” den aufkommenden Frühling zu empfangen, der momentan alles aufblühen lässt!

Davon werde ich euch dann in meinem nächsten Rundbrief berichten!

Bis dahin wünsche ich euch eine guten “Endspurt” in der Fastenzeit, schöne, frühlingshafte Ostertage und weiterhin alles Gute!

Bis bald, à bientôt!

Maria

 

langes Wochenende bei einem Kollegen in den Alpen