Reverse: Rundbrief von Gabriela Arcienega aus Bolivien

Ein Freiwilligendienst von 180°

„Die Welt ist für diejenigen, die aus jedem Moment das beste Abenteuer ihres Lebens machen. – unbekannter Autor –

Und wenn wir von Veränderungen, Herausforderungen und neuen Erfahrungen sprechen, dann erwähnen wir ohne Zweifel das Jahr 2020, ein verrücktes Jahr und auch ein Jahr von vielen Anpassungen.

Was für große Abenteuer die Entscheidung für einen Freiwilligendienst im Ausland mit sich brachte!

Die Gruppe der bolivianischen Reverse-Freiwilligen 2020-2021

Ich erinnere mich sehr gut an den ersten Tag, an dem wir auf dem Frankfurter Flughafen gelandet sind — er war so groß und unübersichtlich, dass wir es gerade so geschafft haben, uns an den Schildern zu orientieren, aber ohne wirklich viel zu verstehen. Als wir den Flughafen verlassen haben, konnte ich nicht glauben, wie kalt es war. Ich denke, dass wir bei 7 Grad oder weniger waren, und glaubt mir, für jemanden wie mich, die normalerweise Temperaturen über 20 Grad gewohnt ist, hat es sich angefühlt wie am Nordpol. Das waren die ersten Veränderungen, die ich in diesem neuen Land wahrgenommen habe.

Die Tage vergingen und Deutschland überraschte mich weiter, mit seiner Architektur (ich bin Fan der Porta Nigra), mit seiner Lebensweise, an die wir uns langsam gewöhnt haben; mit der Vielfalt an Süßigkeiten, die man finden konnte und was mich sehr glücklich machte ?. Und plötzlich findet man sich mit ein paar Tagen voller Schnee wieder. Auf dem Weg zu meiner Dienststelle war es WUNDERSCHÖN, weil ich noch nie vorher so viel Schnee gesehen hatte. Natürlich war es auch kalt, aber die Möglichkeit, Schneebälle zu machen, erfüllte mich mit großer Freude.

Es war sehr schön, wie unser Leben und unsere Routine sich langsam neu gestaltet haben. Ich begann bei einer Dienststelle von der CARITAS, in der die soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen, durch einfache Arbeiten wie Verpacken und Etikettieren, unterstützt wird. Ich habe dort so viele Dinge gelernt, wie zum Beispiel etwas über die Kommunikation in Gebärdensprache, oder auch Wörter in Dialekt, aber auch über die Liebe an sich, die jeden Tag mit einer Umarmung, einem Lächeln oder einfach dem Streicheln der Hand ausgedrückt wurde, oder sogar mit einer Einladung zu jemandem nach Hause. Es gab Menschen, die meine Zeit dort besonders geprägt haben:

Sarah: unsere Kommunikation fand täglich in Gebärdensprache statt und sie zeigte mir jeden Tag ihr neues Outfit (das übrigens immer sehr schick war). Beim Mittagessen habe ich ihr immer geholfen, damit sie ein bisschen schneller essen konnte.

Daniel, Fu, Sonjia: meine treuen Freund*innen in den Gesangsgruppen, mit denen ich viel Deutsch gelernt habe (vor allem Karnevalslieder wie „Leev Marie“).

Edward: jeden Tag hat er die aufrichtigsten Umarmungen gegeben.

Mayen

Als sich plötzlich eine neue Möglichkeit ergab, die Dienststelle zu wechseln, konnte ich in einem Jugendzentrum, dem Mergener Hof in Trier, arbeiten. Es hat super viel Spaß gemacht, jeden Tag die Möglichkeit zu haben, mit den Leuten, die ich getroffen habe, eine neue Welt zu betreten. Neue Spiele zu lernen, zu singen, zu tanzen, etwas über mein geliebtes Land Bolivien zu erzählen.

Ich habe viele junge Menschen mit einem sehr interessanten Leben getroffen und es war sehr schön, sie mit meiner eigenen Erfahrung und Kultur zu unterstützen. Außerdem hatte ich die Möglichkeit, in einer Grundschule mitzuarbeiten, wo ich viele Kinder kennenlernen, meine Sprachkenntnisse durch verschiedene Spiele verbessern und kreative Ideen einbringen konnte, wie z.B. Armbänder zu machen, zu zeichnen, Karten zu basteln oder den Platz zum Laufen und Spielen im zentralen Hof der Schule zu nutzen.

Mergener Hof, Trier

Bis dahin lief alles gut, auch wenn nicht alles einfach war, aber ich bin jeden Tag in dem Glauben aufgestanden, dass es ein guter Tag werden würde, bis unser Freund, das Coronavirus, auftauchte, das uns dazu zwang, große Anpassungen vorzunehmen und natürlich auch die Prioritäten neu zu ordnen; wir mussten bei null anfangen, wir mussten uns an neue Regeln und Einschränkungen anpassen und vor allem verstehen, dass soziale Distanzierung Gesundheit bedeutete; das Tragen einer Maske wurde Teil des täglichen Outfits und wir hatten immer ein kleines Alkoholgel dabei, um uns zu desinfizieren, wenn es nötig war.

Es war auch eine schwierige und verrückte Zeit. Es gab Stimmungsschwankungen und ich hatte Sehnsucht nach Familie und Freund*innen in der Ferne. Aber inmitten der grauen Tage, manchmal mit Momenten der Einsamkeit, gab es auch Wiedersehen und neue Freundschaften und wir versuchten, die schwierigen Zeiten mit den guten Momenten auszugleichen, denn das Abenteuer musste weitergehen und die Stagnation hat uns nicht viel geholfen. Spazieren gehen, ein Buch lesen oder eine leckere Tasse Kaffee trinken half immer, die Situation zu verbessern.

Man sagt, dass Veränderungen gut sind, und ich glaube, dass ich heute bestätigen kann, dass diese Herausforderungen, die wir durchlebt haben, uns geholfen haben, reifer zu werden — ruhig zu sein, wenn es nötig ist und zu helfen, wann immer es möglich ist. Das Leben gibt uns unendliche Möglichkeiten und jede*r trifft seine eigenen Entscheidungen. Die Zeit in Deutschland hat mich wahnsinnig viel gelehrt; Gabriela ist nicht dieselbe und hat jetzt mehr Wissen über verschiedene Realitäten: dieses Land hat mir neue Freund*innen geschenkt, neue Geschmäcker, unvergessliche Reisen und vor allem hat es mich gelehrt, jede Ecke meiner Person kennen zu lernen. Heute kann ich dank der Erfahrungen, die ich gemacht habe, weiterhin 180º-Änderungen vornehmen, in meiner Familie, mit meinen Freund*innen, bei der Arbeit und vor allem immer für das kämpfen, was ich in diesem Leben sein möchte.

Wiedersehen mit Freund*innen der Jugendpastoral, Vicariat San Lorenzo