Frankreich: 2. Rundbrief von Nelly Söling

Vom Friseursein, Sockenanziehen und meinem Alltag

Es gibt ein paar Dinge, von denen ich nicht erwartet hätte sie in Frankreich zu lernen. Dazu gehört  das alltägliche Zigarettenstopfen für Jean-Luc, der eine Zigarette pro Stunde raucht;

Marie-Claire und ich mitsamt meinem ersten Luftballonhund-Versuch
Jason und Sarah beim Haareschneiden

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dazu gehört das Luftballontierchen machen, was schwieriger ist, als es aussieht und dazu gehört auch das Haarschneiden von Jason und zwar nicht, wie ich das schon vorher ein paar mal bei meinen Brüdern und Eltern gemacht habe mit Rasierer und Haarschneideschere, sondern mit der Küchenschere.

In den letzten Monaten habe ich aber generell viel gelernt, was ich mir während der ganzen Vorbereitung nicht vorgestellt habe zu lernen. 

Mein Arbeitstag beginnt normalerweise um acht Uhr damit, dass ich sämtliche Türen aufschließe. Thierry, einer der Bewohner, hat zu dem Zeitpunkt schon das Brot fürs Frühstück geholt. Um acht ist es meistens noch ruhig. Jason, Anthony und Thierry sind immer die ersten. Sie haben zwar eine geistige Behinderung, aber die hindert sie nicht daran sich um sich selbst zu kümmern. 

Laut wird es, sobald Patrick dazustößt. Patrick ist vor allem morgens besonders anstrengend, weil er nicht aufhört zu reden. Er hat immer die selben drei Probleme und ich muss sagen, es gibt angenehmeres als morgens auf Französisch über den Tod und warum wir alle sterben zu diskutieren. 

Nachdem ich gegessen habe, gibt es drei Bewohner, denen man beim aufstehen helfen muss. Je nach Tag wird dann entschieden, wer vom Team welchem Bewohner hilft. 

Das Team besteht momentan aus Florence, die „Responsable“, also die Chefin der Gruppe; Cheyenne und Maxim, beides Angestellte und Coralie, einer französischen Freiwilligen, die einen Monat nach mir ankam, und mir. 

Meistens sind wir zu zweit oder dritt. Einer bleibt am Frühstückstisch und kümmert sich um alles was dort gemacht werden muss, die Anderen kümmern sich um Marie-Claire, Laura und Jean-Luc,  die Hilfe beim aufstehen brauchen und um Patrick, der nach dem Frühstück Hilfe beim Zähneputzen, Duschen und umziehen braucht. 

Als ich in Deutschland losgefahren bin, hätte ich mir das alles überhaupt nicht vorstellen können. Einem erwachsenen Menschen die Zähne zu putzen oder beim duschen zu helfen? Das klingt erstmal beängstigend. 

Die sehr eindrucksvoll geflochtenen Haare von Marie-Claire 😉

Das Schwierige daran jemanden zu duschen ist, dass man immer geduldig sein muss. Vor allem Patrick muss man oft dreimal sagen, dass er nicht das Wasser zu heiß drehen soll und Laura hat oft Trotzanfälle wie ein Kleinkind beim Duschen. 

Aber das wirklich mit Abstand am Schwierigsten ist etwas, das ich nicht erwartet hätte. Ich hätte erwartet, dass das Schwierigste das Haare einshampoonieren ist, oder das Haarföhnen oder das Haareflechten. Und zugegebenermaßen ist Haareflechten nicht das einfachste, aber das mit Abstand schwierigste ist das Sockenanziehen. Wer hätte noch vor einem Jahr gedacht, dass das Sockenanziehen so ein großes Problem werden würde… Schon verrückt.

Boulette

Wie dem auch sei, nach dem ganzen Theater sind im Wohnzimmer immer schon die Leute, die das CAJ machen zu finden. Patricia samt Boulette, ihrem Hund; Hélène und Marie-Aileen. An manchen Tagen ist  schon jemand früher da und hilft bei den Accompangements. Ich glaube es steckt ein System dahinter, wer das wann macht, aber so richtig verstanden habe ich das nicht.

Ansonsten sind zu dieser Zeit auch noch Thierry, Nihad, Estelle, Françoise, Marie-Emanuelle und Anthony zu finden, alles externe Menschen mit Behinderung, die tagsüber mit zum CAJ und abends wieder zu ihren Familien nach Hause gehen. 

Während die gesamte CAJ-Truppe eine Versammlung im Wohnzimmer abhält, beginnt für mich der Haushaltsteil meiner Arbeit. An der Tür zum Arbeitszimmer hängt ein Plan mit all den Sachen, die an diesem Tag erledigt werden müssen, wie beispielsweise Glas wegbringen, sämtliche Böden der Gruppe zu wischen oder die Kühlschränke zu sortieren und zu putzen. 

Während die CAJ-Truppe in die Ateliers umzieht oder in der Küche anfängt zu kochen oder zu backen, bin ich dann bis zwölf Uhr damit beschäftigt die Gruppe in Ordnung zu halten. 

Von 12-15 Uhr ist dann meine Mittagspause, in der ich erstmal damit beschäftigt bin mir etwas zu Essen zu besorgen, denn die Mittagsverpflegung für die Bewohner schließt mich nicht mit ein. In der Küche ist meistens erstmal das große Chaos, weil das Essen der Bewohner, das von Extern geliefert wird, aufgewärmt wird und die Mitarbeiter sich selbst etwas kochen. Am Anfang bin ich deswegen meistens in die Stadt gefahren und habe am Ufer der Sorgue gegessen, seitdem Coralie da ist, kochen wir aber meistens etwas zusammen oder wärmen uns Reste auf und setzten uns dann draußen auf die Terrasse um zu essen und hoffen, dass sich Estelle nicht dazu setzt, weil sie ununterbrochen redet und das auf Dauer anstrengend ist. Vor allem, wenn man eigentlich gerade Pause hat.

Um 15 Uhr geht es dann ans Wäschefalten und neu anstellen. Wenn die Aufgabe des Morgens noch nicht fertig ist, dann erledigen wir den Rest, aber in 99,9% der Fälle geht es für mich nach dem Wäschefalten zum CAJ.

Auf dem Weg zu den Ateliers, in denen das CAJ stattfindet, komme ich an „La Source“ vorbei, der Gruppe, in der ähnlich wie bei uns, Menschen mit Behinderung wohnen, die vom Aufstehen bis zum Schlafengehen Hilfe brauchen. 

Neben „La Source“ ist das „SAVS“ (Service d‘Accompagnement à la Vie Sociale). Was genau dort gemacht wird weiß ich ehrlich gesagt nicht, aber vom Namen her zu schließen ist das ein Büro, in dem den Menschen geholfen wird, die so selbstständig sind, dass sie einen Job und eine Wohnung extern der Arche haben.

Gegenüber ist das „ESAT“ (Etablissement et Service d‘Aide par le travail). Das ist der Ort, in dem die Menschen arbeiten, die nicht so stark behindert sind wie die meisten Menschen auf meiner Gruppe. Das ESAT ist in fünf verschiedene Arbeitsstellen unterteilt. 

„Espace vert“ ist eine Landschaftsgärtnerei; es gibt eine Paletten- und Hostienherstellung, Menschen, die putzen und es gibt eine Kantine, in der unter anderem auch das Mittagessen meiner Gruppe hergestellt wird. 

Bei den Ateliers angekommen schaue ich meistens einmal kurz in jeden Raum, um zu sehen wer was macht und wo ich mich am liebsten dazugesellen möchte. Hier sind nicht nur die Leute aus meiner Gruppe, sondern auch die aus „La Source“ und auch noch mehr Betreuer, als die, die morgens und mittags bei meiner Gruppe sind. Am Anfang war Joris noch da, der aber gehen musste, weil er sich nicht impfen lassen wollte. 

16:30 Uhr gehts dann von den Ateliers wieder zurück auf die Gruppe um da die vierte heilige französische Malzeit, das „Goûter“ zu essen. 

Thierry an der Gitarre, Sarah und Jean-Luc aka Johnny Hallyday am Mikrofon

Um 17 Uhr ist dann Zeit für alle Externen zu gehen und wir bleiben im Wohnzimmer und machen Musik, spielen Tischkicker  oder schauen Fernseher. 

Nihad und Jason am kochen

Gegen 18 Uhr ist dann für mich Zeit mit dem Kochen anzufangen, meistens mit Coralie zusammen, manchmal mit Hilfe eines Bewohners, aber eher selten.

Beim Accompangement von Jean-Luc abends

Gegen 19 Uhr wird gegessen und danach werden die Bewohner, die Hilfe brauchen ins Bett gebracht. Danach muss die Küche aufgeräumt und gewischt und das Bad, das unten für alle zugänglich ist geputzt werden und dann endet mein Arbeitstag normalerweise irgendwann zwischen 21-22Uhr. 

Danach gibt es oft „Soirées“ mit den Mitarbeitern meiner Gruppe und „La Source“ bei denen wir Filme schauen oder Stadt, Land, Fluss spielen oder auch mal in den Club gehen, aber ich verabschiede mich meistens relativ früh, weil ich müde bin und weiß, dass in meinem Zimmer noch Vokabeln auf mich warten; aber wann immer ich mal Heimweh habe oder mich schlecht fühle ist das ein toller Weg abends nicht alleine zu sein. 

Im nächsten Rundbrief geht es dann, wie schon im ersten angekündigt um die vielen Reisen und Ausflüge, die ich schon machen konnte. Bleibt gesund,

Nelly