Litauen: 1. Rundbrief von Judith Nick

 Kaunas – das Abenteuer ist jetzt

Kauno pilis

Labas, labas, liebe Rundbrief-Leser*innen! 

Hier kommt endlich das lang ersehnte Lebenszeichen von mir, hat ja auch lange genug gedauert! Es ist so viel passiert in den letzten Wochen und Monaten, dass ich gar nicht richtig weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht einfach vorne, das ist immer eine gute Idee. „Ein Schritt nach dem anderen“ würde mein Vater jetzt sagen. 

Vor meiner Ausreise hat mir eine andere Freiwillige den Rat „weniger denken, mehr machen“ gegeben. Mal den Kopf ausschalten, aufhören, über alles unnötig viel nachzudenken und einfach im Moment leben. Seitdem ich hier bin, versuche ich mich danach zu richten und bisher klappt es ganz gut, würde ich mal behaupten. (Ich komme zum Beispiel grade vom Klettern! Ja, Klettern! Und ich lebe noch!!) 

1. Ankunft – tue immer das, wovor du ein kleines bisschen Angst hast.

Ich auf der Fähre

Für die Anreise nach Litauen habe ich mich für die ganz lange Variante entschieden – acht Stunden Autofahrt nach Kiel, einen Tag lang Abschied nehmen von meinen Eltern, dann 18 Stunden mit der Fähre nach Klaipėda und von Klaipėda schließlich noch zweieinhalb Stunden mit dem Bus nach Kaunas. Eine wahre Odyssee, aber auch genug Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, in ein neues Land zu ziehen.

Noch nicht mal auf litauischem Boden, sondern schon auf der Fähre erwartete mich der erste „Kulturschock“: Frühstück. In Litauen isst  man herzhafte, warme Speise gerne schon am Morgen – für mich als Naschkatze am Frühstückstisch unvorstellbar. Überlebt habe ich das Frühstück natürlich trotzdem, auch wenn ich im Schock leider die Pfannkuchen übersehen habe… 

Kurz nach meiner Ankunft in Klaipėda bin ich auch schon meinen ersten Satz auf Litauisch losgeworden, nämlich „Ar jūs kalbate angliškai?“, was so viel heißt wie „Sprechen Sie Englisch?“. Da war ich ja schon sehr stolz auf mich. 

In Kaunas angekommen wurde ich zunächst von einer sehr netten Dozentin des Kolping-Kollegs abgeholt, die mich in das Hotel gebracht hat, in dem ich die ersten drei Wochen gewohnt habe. Als ich ihr eröffnete, dass ich 13 Monate in Kaunas leben werde, hat sie mich erst mehr für verrückt erklärt. Vielleicht bin ich das ja auch ein bisschen. 

Weil ich erst am späten Abend angekommen bin, habe ich Kaunas und meine Einsatzstelle erst am nächsten Tag kennenlernen können. Ich hatte einen sehr freundlichen und entspannten Touristenführer, Marius, mein Vorgänger, der mir nach einer Tour durch die Schule erst einmal die „wichtigsten“ Sehenswürdigkeiten von Kaunas gezeigt hat (darunter ein Denkmal, das ich bis heute nicht verstehe). Durch ihn habe ich auch direkt am ersten Tag super sympathische andere Menschen kennengelernt, mit denen ich mich auf Anhieb gut verstanden habe. 

Weil zu dem Zeitpunkt meiner Anreise noch Sommerferien waren, hatte ich in den ersten drei Wochen genug Zeit, mich an meine neue Heimatstadt und ihre netten Bewohner zu gewöhnen. Ich war eigentlich jeden Tag mit Marius unterwegs, der mir alle Geheimtipps, wie zum Beispiel die besten Bars, Restaurants und einen Baggersee, gezeigt hat. Dadurch hat er mir das Einleben sehr erleichtert, vor allem auch weil ich ihn immer fragen konnte, wenn ich mit meinem Litauisch mal wieder am Ende war. 

Marius & ich mit Gerda & Familie

An meinem ersten Wochenende habe ich zusammen mit Marius eine litauische Familie außerhalb von Kaunas in einem kleinen Dorf besucht. Gerda, die vorheriges Jahr im Kolping-Kindergarten gearbeitet hat, hatte uns eingeladen. Das Wochenende war einfach fantastisch. Erstens wurde ich unglaublich herzlich aufgenommen, obwohl ich wenig bis gar nichts verstanden habe, denn die Hauptsprache war Litauisch. Zweitens durfte ich mehrere wahnsinnig leckere litauische Gerichte probieren, darunter unter anderem Šaltibarščiai (kalte Rote-Beete-Suppe, einer meiner Favoriten). Drittens ist Gerdas Garten ein wahres Paradies. Vor allem nach der ersten Woche in der neuen Heimat hat es gut getan, einfach mal entspannen zu können, Dobble zu spielen, dabei neue Wörter zu lernen oder nur im Gras zu liegen. 

Nach der ersten Woche kam Lena, meine Mitfreiwillige von SoFiA, in Kaunas an. Wir haben uns tatsächlich erst in Kaunas richtig kennengelernt, weil wir uns wegen der Online-Seminare noch nie vorher richtig getroffen haben. Irgendwie verrückt, vor allem weil wir jetzt zusammen leben. Es ist auf jeden Fall schön, noch eine Mitstreiterin zu haben, mit der man sich über die Arbeit und sonst auch alles austauschen kann. 

Am Dienstag ging es dann auch schon los mit Arbeiten, wenn auch noch nicht so ganz richtig, da es aufgrund der Sommerferien relativ wenig zu tun gab. Daher bestand unsere Arbeit vor allem aus Laminieren, Papiervögel aufhängen (ist deutlich schwieriger, als es klingt) und Deutsch-Unterricht vorbereiten. Insgesamt waren die ersten Arbeitstage sehr  entspannt. 

Auf einem Team-Tag auf dem litauischen Land konnte ich direkt mal den Stand meiner Litauisch-Kenntnisse überprüfen, als Lena und ich zehn Stunden lang pädagogischer Fachsprache zuhören konnten. 

Lena, Marius & ich beim Fotoshooting

Am Abend dieses Tages ist auch etwas Lustiges passiert: Marius, Lena und ich haben uns mit ein paar Bekannten von Marius zum Frisbee-Spielen getroffen. So weit, so gut. Nicht gut war, dass ich am Ende ein blaues Auge hatte, weil mir jemand aus Versehen eine Frisbee an den Kopf geworfen hat. Noch schlechter war, dass am nächsten Tag sowohl Fototermin als auch Elternabend war. Ups! 

Kurz vor Schulbeginn mussten wir uns leider von Marius verabschieden, was sehr schade war, weil wir uns alle sehr gut verstanden haben. Jetzt waren Lena und ich auf uns alleine gestellt. Unsere „Selbstständigkeit“ steigerte sich dann auch noch dadurch, dass wir Ende August endlich in unsere Wohnung einziehen konnten. Zum ersten Mal alleine wohnen, wie aufregend! Natürlich standen wir bereits am ersten Abend vor dem ersten Problem: was kochen ohne Töpfe, Pfannen und Wasserkocher? Zum Glück sind wir irgendwann auf Ofengemüse gekommen, was sehr lecker war, bis wir gemerkt haben, dass unsere Beilage, Mozzarella im Sonderangebot, leider seit 9 Tagen (!!) abgelaufen war. Danach hatten wir beide ein leichtes Mozzarella-Trauma, das ich bisher auch nicht überwunden habe. (Danach sind uns auch noch diverse Unfälle passiert, aber es wäre jetzt zu viel, alles zu erzählen.)  

Unser Haus

Ansonsten ist unsere Wohnung aber super, wir haben sogar ein Wohnzimmer und ich habe einen Rolladen (sehr wichtig bei kurzen Nächten!). Wir wohnen direkt neben zwei schönen Parks und sehr zentral (es sind nur fünf Minuten bis zur Innenstadt und 15 Minuten zu Fuß zur wichtigsten Bar!). 

2. rugsėjo pirma – Einstieg in den Arbeitsalltag  

Das Spielzimmer: Hier verbringe ich meine Arbeitszeit

Am ersten September fängt in Litauen traditionell immer das neue Schuljahr an. Anders als in Deutschland wird dieser Tag in Litauen groß gefeiert: Alle Lehrer*innen bekommen von den Kindern Blumen geschenkt und für Eltern und Schüler wird eine symbolische erste Schulstunde abgehalten, mit der das neue Schuljahr eingeläutet wird. Ich durfte bei der Stunde für die älteren Schüler dabei sein, die meiner Meinung nach sehr schön gestaltet war. Wir haben über Länder gesprochen, in die wir am liebsten reisen würden und es gab ein Rätsel für die Schüler über die Charaktereigenschaften ihrer Mitschüler. Am Ende der Stunde hat die Schulleiterin jedem Schüler ein erfolgreiches Schuljahr gewünscht und jedem ein kleines Geschenk gemacht. 

An den folgenden Tagen fand wenig Unterricht statt, sondern die Kinder durften fast den ganzen Tag im Spielzimmer verbringen, um sich an die neue Umgebung und ihre Mitschüler zu gewöhnen. Auch wenn ich zunächst erst einmal leicht überfordert mit der neuen Situation war, war dies doch eine gute Möglichkeit, die Kinder kennenzulernen. Nach einigen Wochen hatte ich dann auch mehr oder weniger zu allen Kindern einen Zugang gefunden. 

Deutsch-Unterricht kann auch so aussehen!

Der normale Schulalltag ging erst in der nächsten Woche richtig los und damit auch mein normaler Alltag. In der Schule habe ich sehr unterschiedliche Aufgaben, was mir gut gefällt, weil ich dadurch viel Abwechslung habe. So mache ich zum Beispiel zwei Mal pro Woche zusammen mit Lena den Deutsch-Unterricht für die älteren Schüler. Außerdem sind wir beide für einen Deutsch-Klub verantwortlich, in dem wir den Schülern die deutsche Kultur näher bringen sollen (dabei haben wir uns allerdings erst einmal gefragt: Was IST deutsche Kultur?) Ansonsten fungieren wir als professionelle Spaziergangbegleitung, Essensservierer und Spielkameradinnen. Manchmal gehen wir auch abends nach draußen, was für mich vor allem Sport bedeutet, weil ich jedes Mal Fangen spielen muss und ich immer zum Fangen verdonnert werde (einer der Vorteile ist, dass ich mittlerweile fast in Topform bin, ganz ohne Training!). 

In den ersten Wochen war es schwierig für mich, mich an den Rhythmus zu gewöhnen, da ich jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten anfange zu arbeiten und man für manche Aufgaben wie zum Beispiel den Deutsch-Klub relativ viel vorbereiten muss. Mittlerweile habe ich mich aber an meinen Arbeitsalltag gewöhnt und kann mir die Zeit gut einteilen.

Insgesamt fühle ich mich in der Schule sehr wohl. Die Arbeit macht mir unglaublich viel Spaß, meine Kolleg*innen sind super freundlich und offen und sprechen fast alle Englisch. Meine Litauisch-Kenntnisse sind allerdings mittlerweile zum Glück so weit fortgeschritten, dass ich fast alle auch auf Litauisch verstehe. Besonders schön ist es zu merken, dass man die Gespräche der Kinder immer besser versteht. Am Esstisch werden meistens nämlich sehr spannende Unterhaltungen geführt, wobei am Ende wirklich interessante Fragen im Raum stehen, wie zum Beispiel: „Warum haben Zahlen einen Anfang, aber kein Ende?“ Leider kann ich bisher meist noch keine geistreichere Antwort als „wow“ auf die Fragen und Erzählungen der Kinder geben. Aber immerhin!  

Voller Körpereinsatz am Deutschland-Tag

Im Oktober wurde in Litauen die deutsch-litauische Freundschaft gefeiert und zu diesem Anlass wurde in unserer Schule ein Deutschland-Tag veranstaltet, an dem wir den ganzen Tag lang  „typisch deutsche“ Dinge gemacht haben. Zum Beispiel haben wir Pfannkuchen gegessen, Laternen gebastelt und  Wikingerschach gespielt. Besonders gut gefallen hat mir, dass wir auch eigene Ideen einbringen konnten und uns relativ viel Verantwortung übertragen wurde. 

Ich freue mich auf jeden Fall sehr, in dieser Einsatzstelle zu arbeiten!

 

3. Ungewollte Pause – at loose ends 

Marius hat mir den Tipp gegeben, in der Anfangszeit zu nichts Nein zu sagen, wozu ich eingeladen werde, um möglichst viele neue Menschen kennenzulernen. Also habe ich das durchgezogen, habe zu nichts nein gesagt und versucht, möglichst viele neue Dinge zu tun. Zum Beispiel habe ich im September angefangen, Karate zu machen und bin durch eine Verkettung von Zufällen auf einen Tanzkurs gestoßen, der unglaublich viel Spaß macht. Gleichzeitig habe ich versucht, mich an die neue Arbeit in der Schule zu gewöhnen, meine Litauisch-Kenntnisse durch Selbst-Studium zu verbessern und abends in Bars neue Menschen zu treffen beziehungsweise neue Bekanntschaften aufrechtzuerhalten. Das war natürlich alles sehr viel auf einmal und so war es auch kein Wunder, dass es irgendwann ein bisschen zu viel war. 

Irgendwo auf dem litauischen Land

An einem Wochenende bin ich mit einem Freund und einigen Litauer*innen in den Labanoras Regionalpark im Nordosten Litauens gefahren, um dort zwei Tage wandern zu gehen. Insgesamt war es eigentlich ein schöner Ausflug: wir haben viele Süßigkeiten genascht, Pfifferlinge gesammelt und am Abend über’m Feuer gekocht (Pilze sammeln ist in Litauen Volkssport,  es gibt dafür sogar ein eigenes Verb: „grybauti“). Unpraktisch war, dass die Höchsttemperatur bei acht Grad Celsius lag und das Wetter meist regnerisch war, wir allerdings draußen geschlafen haben. Meine sieben Schichten Klamotten haben da leider auch nicht mehr viel gebracht. Das Resultat der Tour war, dass ich drei Wochen krank war und ich weder meine Hobbys weiterführen noch irgendwelche Leute treffen konnte. Stattdessen konnte ich nur zur Arbeit gehen und danach hundemüde ins Bett fallen, was auf Dauer ziemlich langweilig und öde war. Im Endeffekt bedeutete das Ganze auch, dass ich nach den drei Wochen wieder damit anfangen musste, alle Möglichkeiten zu nutzen, um neue Leute zu treffen und Verbindungen zu knüpfen. Mittlerweile habe ich meinen Rhythmus aber wiedergefunden und genieße das Leben hier wieder in vollen Zügen.

4. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip

Das Leben in Kaunas ist ganz anders als das, das ich aus Deutschland kenne, viel extremer in gewisser Weise. Es gibt so viele Möglichkeiten, Dinge (mit anderen Leuten) zu tun, dass ich oft in Entscheidungsnot gerate, was ich denn nun am liebsten tun möchte. So kann es sein, dass man an einem Wochenende zu drei verschiedenen Dingen eingeladen wird (zum Beispiel an Halloween mit einem Schulkind um die Häuser zu ziehen, auf eine Houseparty und auf einen Wandertrip irgendwo in den polnischen Bergen), man aber leider schon ganz andere Pläne hat. Und dann kann es auch sein, dass man am nächsten Samstag um zehn Uhr abends in seinem Bett liegt und nicht weiß, was man mit sich anfangen soll. Es gibt irgendwie immer nur diese zwei Extreme und nichts dazwischen. Meistens ist es aber so, dass es mehr Angebote als Zeit gibt. Um alles zu schaffen, was ich hier gerne machen würde, bräuchte die Woche eigentlich ein paar Tage mehr… Kaunas ist einfach nur krass! 

5. Heimatgefühle 

Allerheiligen in Warschau

In den Herbstferien Ende Oktober sind Lena und ich zusammen mit ein paar anderen Freiwilligen aus Kaunas nach Warschau gefahren. Insgesamt war das ein cooler Urlaub und es war richtig interessant, auch mal einen Einblick in ein anderes Land zu erhalten (wenn auch nur auf Touristenbasis). Wir haben dort tatsächlich auch am 1. November nationalen Feiertag miterleben können, denn Allerheiligen wird sowohl in Polen, als auch in Litauen viel größer gefeiert als in Deutschland. Es ist Tradition, dass sich die ganze Familie auf dem Friedhof trifft und für die gestorbenen Angehörigen Lichter aufstellt. Es war unglaublich schön, das miterleben zu können. 

Am besten war aber, dass ich am Ende des Trips festgestellt habe, dass mir Kaunas schon sehr an’s Herz gewachsen ist, weil ich mich richtig gefreut habe, wieder hierhin zurückzukehren. Kaunas ist so eine grüne, aufgeräumte, weltoffene und authentische Stadt. Es ist einfach wunderbar hier.

Ich kann nicht glauben, dass ich jetzt einfach schon seit drei Monaten hier lebe. Die Zeit ist so unglaublich schnell vorbeigegangen! Ich melde mich in drei Monaten wieder und habe hoffentlich wieder einiges zu berichten. 🙂

Viskas, iki! 

Judith

Kaunas im Herbst
Lena & ich in Warschau