Von 57 Stunden im Zug, vermeintlichen Bärensichtungen, Spontanität und den Vorzügen als Frankreichfreiwillige ein Zwischenseminar in Rumänien zu haben.
Mittlerweile kann ich Sighisoara schreiben ohne dreimal nachzuschauen ob ich es auch wirklich richtig geschrieben habe. Als ich die Einladungsmail zum Zwischenseminar bekam wusste ich noch nicht mal wie man das überhaupt ausspricht, geschweige denn wo auf der Erde sich denn Sighisoara befindet.
Stellt sich heraus, es liegt in Rumänien, etwa 2.000km von Isle-sur-la-sorgue und damit 32 Stunden mit dem Zug entfernt. Davon war ich am Anfang ganz und gar nicht begeistert und habe es erst einmal verdrängt. Vielleicht kann ich ja doch einfach einen Flieger von Marseille aus nehmen oder es ist doch am Ende online, wie so viele der Vorbereitungsseminare..
Am 03.03. ging es dann mit dem Zug los. Pünktlich um 7:31Uhr fuhr mein Zug in Isle-sur-la-sorgue ab und nicht viel später sammelte ich Myriam (SoFiA Freiwillige in Hautrives) in Lyon und Vivi (SoFiA Freiwillige die in der Ukraine war) in Würzburg ein.
Wer hätte gedacht, dass sich 15 einhalb Stunden so kurz anfühlen können, wenn man sich mit zwei Freundinnen trifft, die man seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hat.
Gegen 23Uhr hatten wir den ersten Teil unserer Reise geschafft, standen am Bahnhof in Wien und mussten nur noch auf Linnéa (SoFiA Freiwillige in Ambleteuse) warten, deren Zug Verspätung hatte. Vom Bahnhof aus ging es dann auf Schlüsseljagd unseres Apartments, das wir uns für eine Nacht buchen mussten, weil sämtliche Hostelrezeptionen nur bis 23Uhr offen haben.
Die Kälte war ich nicht gewohnt. Aus Südfrankreich bin ich mittlerweile 16°C und Sonne gewöhnt, in Wien hat es (auch wenn es nicht liegen geblieben ist) geschneit und ohne Mütze und Handschuhe wurde mir bewusst, wie naiv ich meinen Koffer gepackt hatte.
Noch ein bisschen verkatert von der langen Zugfahrt und einer kurzen Nacht zogen wir dann zu viert durch Wien und fanden plötzlich die lange Anfahrt gar nicht mehr so schlimm. Eher wie ein Abenteuer, eine wertvolle Erfahrung, von der ich auf jeden Fall Spontanität und Reiselust mitnehmen kann.
Diese Euphorie hielt genau so lange an, bis wir im Zug nach Sighisoara saßen. Gebucht hatte ich den Nachtzug mit vier Schlafliegen um 19:42 Uhr, tatsächlich gab es unser Abteil nicht und wir saßen um halb zehn in einem Sitzabteil in einem alten Zug, bei dem man lieber nicht auf die Toilette gehen möchte und machten uns zuerst auf den Weg nach Budapest, wo wir Judith und Lena, die beiden SoFiA Freiwilligen aus Kaunas treffen würden.
Es gab keine Zugdurchsagen und als wir fragen wollten was mit unserm Abteil passiert ist, wurden wir nur mit sehr schlechtem Englisch zurückgewiesen und uns wurde gesagt, dass wir irgendwo unser Abteil einsammeln würden.
Kurz vor Budapest klopfte es an unsere Tür und eine nette Frau mit starkem rumänischen Akzent fragte uns warum wir denn so leise seien, wir müssten doch jetzt den Zug wechseln. Also packten wir gestresst unsere Sachen zusammen, sprangen aus dem Zug, der danach wieder zurück nach Wien fuhr und standen verwirrt am Bahnsteig, bis die nette Frau von nebenan (die extra am Bahnsteig auf uns gewartet hatte!) „kommt Kinder, ich bin jetzt wie eure Mama, folgt mir“ rief und wir ihr, wie eine kleine Entenfamilie blindlings hinterher liefen und tatsächlich am richtigen Wagon Lena und Judith trafen und dann einsteigen konnten.
Bis heute machen wir noch Witze über unsere „Mama“ und freuen uns darüber, wie nett sie war und wie sehr wir ohne ihre Hilfe verloren gewesen wären.
Der Nachtzug war super gemütlich. Klein aber fein, wie man so schön sagt.
Nach zwei sehr aggressiven Passkontrollen um vier und fünf Uhr morgens, (die Myri, wie auch immer, verschlafen hat) kamen wir endlich am Bahnhof in Sighisoara an.
Wir entdeckten die rumänische Währung, den Leu und machten uns auf den Weg zum Seminarhaus.
Das Seminar war wirklich ein gutes Seminar. Die Vorbereitungsseminare fand ich meistens ziemlich langweilig und eher anstrengend als hilfreich, deswegen war ich schon in der Erwartung angereist, dass das Seminar wieder lang und uninteressant werden würde und wurde wirklich angenehm positiv überrascht. Auch, wenn kurzzeitig von vier Teamer:innen drei in Quarantäne waren und ich nur die Hälfte der Teilnehmenden vorher kannte habe ich die Entscheidung das Seminar in Rumänien statt online zu machen in keiner Sekunde bereut.
Nicht mal, als wir auf einer Wanderung frische Bärenspuren fanden und einen verdächtigen braunen Punkt in weiter Entfernung sichteten…
Am letzten Tag des Seminars hatten wir immer noch kein Ticket für die Rückfahrt gebucht, weil wir (mit wir sind übrigens Myri, Linnéa, Vivi und ich gemeint) spontan bleiben und mit eventuell neuen Bekannten zusammen noch eine Woche Urlaub machen wollten.
Und so kam es, dass wir zusammen mit Teresa und Sarah (SoFiA Freiwillige in Rumänien), Felix (ICE Freiwilliger in Rumänien) und Clara (ICE Freiwillige in Moldau) im Zug nach Brasov saßen und schlaftrunken den Plan ausheckten, sich am nächsten Morgen spontan einen Ohrring stechen zu lassen.
Nach einer vierstündigen Zugfahrt, einer Busfahrt und einem ewigen Fußmarsch durch den zehn Zentimeter hohen Schnee in Brasov kamen wir an unserem Apartment an und trafen auf drei Mitbewohnerinnen von Teresa.
Das, was ich wirklich besonders an den Leuten schätze, die ich im Freiwilligendienst kennengelernt habe, ist, dass sie selten leere Worte verlieren. Wenn sich etwas vorgenommen wird, dann wird das auch gemacht und so zogen wir am nächsten Morgen los und ließen uns Ohrringe stechen.
Die nächste Zugfahrt wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Von Brasov bis nach Budapest sind es normalerweise 12 einhalb Stunden mit dem Nachtzug. Als wir nicht online buchen konnten und am Schalter nur noch Sitzplätze bekamen hätte es mir eigentlich schon klar sein müssen. Als wir aber endlich auf unseren Plätzen saßen wurde mir aber erst so wirklich bewusst worauf wir uns damit eingelassen hatten.
Der Zug war brechend voll mit ukrainischen Flüchtlingen samt kleinen Kinder und Haustieren (zu meinem Glück (und dem meiner Katzenallergie) saß neben uns eine Familie mit Katze) und wir saßen zu viert an einem Tisch mit so viel Beinplatz, wie man es in einem ICE
gewohnt ist (ergo keinem). Während Vivi begeistert bei den ukrainisch sprechenden Nachbarn auf die paar Worte, die sie nach fünf Monaten FSJ in der Ukraine versteht lauschte, fand ich mehr oder weniger meinen Frieden mit der ganzen Situation und freute mich auf Budapest und darauf Lena und Judith dort wieder zutreffen.
Mitten in der Nacht gab es wieder Grenzkontrollen. Dieses Mal nicht ganz so harsch (zumindest uns gegenüber nachdem wir unseren deutschen Ausweis vorzeigten), dafür wurden in unserem Abteil fünf Leute wegen einem nicht gültigem Visum aus dem Zug begleitet.
Die ganze Zugfahrt über schrie irgendwo ein Kind, es gab Eltern, die ihrem Kind (um ein Uhr morgens!) auf voller Lautstärke ein Handyspiel anmachten, Linnéa hatte eine kurze Kreislaufschwäche, (wahrscheinlich wegen dem neuen Ohrloch, dem wenigen Schlaf und dem vielen Stress) aber ganz egal wie schlimm es war, irgendwie hatten wir alle fast die ganze Zeit ein Lächeln im Gesicht. Was für ein tolles Abendteuer, was für eine Once in a lifetime Zugfahrt.
Völlig übermüdet und verkrampft kamen wir dann in Budapest an. Bei der Buchung unseres Hostels gab es irgendein Problem und wir wurden wieder weggeschickt mit den Worten „Wenn es bis 14 Uhr immer noch nicht klappt, dann müssen Sie neu buchen“.
Dafür fanden wir Lena und Judith und erkundeten Budapest.
Budapest ist wirklich wunderschön. Auch wenn ich die Währung etwas verwirrend fand ( 1€ entsprach etwa 382 Forint als wir da waren, das ändert sich aber ständig) war Budapest eine der schönsten Städte, die wir auf unsere Reise gesehen haben. Zum Mittagessen kam eine Freundin von Lena und Judith dazu, die in Budapest studiert und zeigte uns ein bisschen die Stadt und ein laotisches Restaurant, weil sie selbst aus Laos kommt.
Am Folgetag trennten sich all unsere Wege. Judith und Lena fuhren nach Kaunas weiter, Myri und Vivi blieben noch einen halben Tag in Budapest um dann nachmittags nach Frankreich und Würzburg weiterzufahren und Linnéa und ich setzten uns zusammen in den Zug, ich bis nach Frankfurt zu meiner Familie, sie bis nach Koblenz zu ihrer.
Heute ist Samstag, der 19.03. und ich sitze im Zug auf der Zielgeraden nach Avignon und Isle-sur-la-sorgue und obwohl diese Fahrt nur neun Stunden dauert, kommt sie mir viel länger vor, als sämtliche Zugfahrten zuvor (ausgenommen die von Brasov nach Budapest). Irgendwie verfliegt die Zeit, wenn man sich viel zu erzählen hat und ein Abendteuer vor einem liegt viel schneller, als wenn man alleine in einem überfüllten Zug sitzt und weiß, dass man morgen um acht wieder arbeiten gehen muss.
Wie man das in der Schule immer so schön sagt:
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mir auf der Reise wirklich viel bewusst wurde:
Wie nah der Krieg ist und dass man Züge früh buchen sollte, weil sie super voll sind;
wie einfach es ist freundlich zu anderen zu sein und wie man sich über die Freundlichkeit anderer freut (vor allem, wenn man eine neue „Mama“ findet);
wie lecker und underrated rumänisches Essen ist und,
wie gut es tut sich mit anderen auszutauschen und einen Perspektivwechsel zu kriegen.
Bis zum nächsten Mal und bleibt gesund,
Nelly