Frankreich: 4.Rundbrief von Maria Hill

Pilgerung nach Lourdes

– Von unserem Leben bleibt nur, was wir geteilt haben. – Dieser Spruch sprang mir in der Pilgerstätte Lourdes ins Auge und löste sogleich viele Bilder in mir aus. – Teilen. –  Im Rückblick auf meinen Freiwilligendienst war dies einer der Schlüsselbegriffe, die mir bei SoFiA und in der Arche zunächst als sehr präsente Worte auffielen und sich nach und nach mit Leben füllten. Mit geteilten Erinnerungen, Wissenstransfer, geschenkter Zeit, gegenseitigem Anvertrauen, Gemeinschaft…. dem Fokus auf dem Wert des menschlichen Miteinanders.

Durch Zufall hatte ich im Mai als ich meine übrigen Urlaubstage festlegen sollte von der Pilgerung der Diözese Valence nach Lourdes in der letzten Juliwoche mitbekommen. Spontan dachte ich mir “das wäre doch was für mich” und hatte Glück, dass die Anmeldefrist genau bis zum gleichen Tag ging. Im Zuge dieser Pilgerfahrt bot sich mir die Möglichkeit meine bisherigen Erfahrungen zu reflektieren, zu festigen und auszuweiten. Im Anschluss startete ich dann in einen Monat Endspurt, (mit der im letzten Rundbrief genannten “Sommerferienstimmung”) den ich somit sehr bewusst und gestärkt ausleben konnte.

Zunächst, muss ich zugeben, hatte ich “Startschwierigkeiten” in Lourdes meinen Platz zu finden, ist es ja vor allem eine Stätte, zu der (schwer)kranke Menschen pilgern, um neue Hoffnung zu finden oder aber für gesunde Menschen, die als “infirmière” (Krankenschwester) eine solche Person in dieser intensiven Zeit begleiten. Glücklicherweise nahm Ludo, einer der Menschen mit Behinderungen aus unserer Arche, auf seinen Wunsch hin teil, und ich verbrachte den Aufenthalt mit ihm und der jungen Betreuerin Sandrine gemeinsam. Es war eine echt spannende Erfahrung für uns beide, mit Ludo zu reisen. Denn so anstrengend seine Trotzphasen auch sein können, so lustig ist es, seine Fähigkeit zur Interaktion mit wirklich jedem, ob Priester, Kellner, Passant,… und die Reaktionen, die er auslöst, mit Humor zu verfolgen. Um es kurz zu erklären: Ludo ist in seinem Sprachgebrauch recht eingeschränkt und wiederholt oftmals bestimmte Wörter wie “Traktor”, “Bus” “Jesus” immer wieder (nicht wahllos!) oder gibt laute Geräusche von sich. Dies wirkt auf fremde Menschen zunächst häufig ein wenig abschreckend. Doch bei unseren Mitreisenden aus der Pilgergruppe beispielsweise war es zu schön zu sehen, wie sie sich Tag für Tag mehr auf den Wortaustausch und das kreischende Lachen mit Ludo einließen. Am Ende haben sich mehrere aus der Reisegruppe aus unserem Hotel sogar bedankt, da Ludo auch in ihnen etwas bewirkt und während des Aufenthaltes für eine ausgelassene Stimmung mit Unterhaltung gesorgt hat. (Es lohnt sich solch eine Begegnung selbst zu erleben. Denn ich kann sie gar nicht in dem Maße durch Erzählen herüberbringen.)

Feriencamp in Dole mit meiner Nachfreiwilligen

Eine Flussfahrt, die ist lustig…

Als ich aus Lourdes nach Hauterives zurückkam, war ich schon ganz gespannt, meine Nachfreiwillige Myriam zu empfangen, bzw. von ihr empfangen zu werden. Sie war nämlich am Tag zuvor in der Arche eingetroffen. Bei SoFiA ist es gebräuchlich, dass sich der Aufenthalt um einen Monat überlappt, um sich richtig kennenzulernen und den Nachfreiwilligen das Einleben ein wenig zu erleichtern. Daher hatte ich in der Arche nachgefragt, ob Myriam ebenfalls am Feriencamp teilnehmen könne, an dem ich mich als Assistentin angemeldet hatte. Dies war möglich und so brachen wir am nächsten Tag mit drei Freiwilligen, zwei Angestellten und sieben Betreuten für gut zwei Wochen nach Dole auf. Seit Anfang November hatte ich mit Myriam schon regelmäßig telefonisch Kontakt gehabt und mir kam es daher vor als würden wir uns eigentlich schon länger kennen. Mit Michel, Jean, mehreren Betreuten aus meinem Wohnheim oder aus den “Espaces Verts” und Joël P., der das Camp leitete, fand ich mich in einer Reisegruppe mit einem Großteil der Personen, mit denen ich auch im Jahr eng zu tun hatte und mit denen ich mich entsprechend wohl fühlte.  Auch die Organisation schätzte ich sehr. Wir verzichteten auf vorgegeben Arbeitszeiten, sodass wir zwar keine festen Pausen hatten und ziemlich den ganzen Tag im Einsatz waren, dadurch aber viel angenehmer und unkomplizierter Aktivitäten mit den Leuten unternehmen konnten, Tagesausflüge organisieren und aus dem Foyer-Alltagstrott ausbrechen konnten. Wir hatten ein Gebäude einer Arche, die über die Sommerferien komplett geschlossen war (sozusagen wie ein Selbstversorgerhaus) als Unterkunft, etwas oberhalb von Dole. Diese Stadt liegt nicht weit von Dijon an den Ausläufern des Jura-Gebirges, in der Region, die bekannt ist für ihren Käse “Comté”. Mit diesem deckten wir uns reichlich für unsere Picknicke ein, die wir nahe den wunderschönen Wasserfällen, Grotten, Seen der Region in der Natur genossen.

 

Kirchenmusik in der Gemeinde

Wieder in Hauterives angekommen, rückte der Abschied immer näher in den Blickpunkt. Auf die Woche nach meiner Rückkehr aus dem Feriencamp hatte ich meinen Resturlaub gelegt, sodass ich mir mehrere Tage nehmen konnte, in Ruhe vorzubereiten, von wem ich mich wie verabschieden wollte. Ich schaute fast täglich im anderen Wohnheim zu Besuch vorbei. Außerdem verabschiedeten wir Michel, dessen Freiwilligendienst nun ebenfalls endete.

Was ich bisher in noch keinem Rundbrief erwähnt hatte ist, dass ich mich seit Allerheiligen in der Kirchenmusikerszene ausprobiere.  In Hauterives und den meisten Nachbardörfern gibt es nämlich keine Orgel. Im Oktober bei meinen ersten Messbesuchen im Rahmen der Begleitung meiner Mitbewohner fiel mir auf, dass jeden Sonntag eine buntzusammengemischte Musikergruppe den Gottesdienst begleitete. Als ich fragte, ob ich mitspielen könne, wurde ich mit offenen Armen in der Musikantengruppe empfangen und gleich für den darauffolgenden Sonntag eingesetzt. Unerwartet stießen kurz vor Messbeginn drei Brüder mit Violine, Gitarre und zweitem Piano dazu, ein glücklicher Zufall. Nach zeitweisen corona-bedingten Unterbrechungen fand ich immer mehr einen festen Platz als Pianistin in der Gemeinde. Meistens bekam ich einige Tage vorher die Partitionen zugeschickt. Es kam aber auch schon vor, dass ich am Vortag gebeten wurde eine Messe mitzusammenzustellen oder dass ich eine Minute vor einer Messe kurzfristig für einen Organisten einspringen sollte, bis dieser verspätet eintraf und mich ablöste.

Besonders freute ich mich immer, wenn es eine “Jugendmesse” in Nachbarortschaften gab, oder bei feierlichen Anlässen wie Ostern oder Kindtaufen mit dabei zu sein. In der gut gefüllten Hauteriver Kirche bot sich oftmals nach der Messe die Gelegenheit zu einem netten Plausch in der Gemeinde, in der mir im Laufe der Zeit immer mehr Gesichter bekannt waren.

So freute ich mich, am vorletzten Augustsonntag überraschend eine wunderbare Gelegenheit gehabt zu haben, zwischen “Sommerpause” und Abreise noch ein letztes Mal spontan für jemanden einzuspringen. Es handelte sich um eine Freilichtmesse vor der Kirche in Saint Germain, verbunden mit geselligem Beisammensein im Anschluss, eine Art

Dorffest.

Messe in St. Germain

Bei sehr schönem Wetter und guter Stimmung konnte ich mich so von einer großen Anzahl der Gemeindemitglieder, die alle zusammengekommen waren, verabschieden. Dabei wurde ich von einem Ehepaar, das nebenan wohnte, zum Mittagessen mit dem Pastor eingeladen. Lange bleiben konnte ich zwar nicht, da ich pünktlich zur Wiedereröffnung des Wohnheimes am frühen Nachmittag wieder in “La Chaumière” für Organisatorisches und Fahrtransporte eingesetzt war, doch es war total nett. Daraufhin folgte eine letzte Woche im Foyer, wobei ich zwischendurch in einem anderen Foyer aushalf, das wegen Renovierungsarbeiten auf einem Camping verweilte… Optimal um mit dem Rennrad hin und her zu pendeln!

 

Abschied mit spontanen Besuchen

Überraschend rief mich freitags mein Mitfreiwilliger Johannes an, ob er noch zu Besuch vorbeikommen könne. Erfreut holte ich ihn am nächsten Tag mit Myriam vom Bahnhof ab und wir verbrachten einen sehr schönen Tag mit meiner „Gastfamilie“ mit den drei Kindern an einem Badesee. Gerade an diesem Wochenende war zudem die Jahreskirmes in Hauterives. So spazierten wir abends über die beleuchteten Rummelstände des Dorfes und wurden Zeugen eines unerwartet schönen Feuerwerkes. Wir deuteten es kurzerhand als Abschiedsfeuerwerk für Johannes und mich und als Willkommensfeuerwerk für Myriam.

Als Johannes montagsmorgens abgefahren war, begann es für mich nun langsam „ernst“ zu werden. Es war mein letzter Tag meines Freiwilligendienstes in der Arche. Am nächsten Morgen würde ich früh abfahren. Den ganzen Tag hatte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Verbunden mit einem Spaziergang schaute ich nochmal bei den „Ateliers“ vorbei und sagte „Au Revoir“. Abends fand zum Abschied eine „grosse toeuf“ (dicke Party) in „La Chaumière“ statt, zwei Gäste von außerhalb durften dazukommen. Also lud ich Jaques und Chantal ein, deren Herzlichkeit und Engagement in der Arche unermüdlich sind. Ohne dass ich Bescheid wusste kam auch meine ehemalige Kollegin Marion und später schaute Joel Peguet kurz vorbei. Es waren emotionale Abschiede.

Am nächsten Morgen begleitete mich Myriam nach Valence zum Bahnhof, wo ich mit dem TGV heimwärts fuhr…

 

Angekommen

Nun habe ich seit längerem wieder in  Deutschland Fuß gefasst, denke immer seltener, aber gerne an meinen Freiwilligendienst zurück und beobachte, wie sich mein Blickwinkel auf ihn verschiebt – wie ich ihn nun besser einordnen kann als direkt nach meiner Rückkehr. Mir fällt auf, wie wichtig solch ein Perspektivwechsel ist, gerade in unserer sehr leistungsorientierten Gesellschaft. Dinge, die mir nun selbstverständlich erscheinen, prallen um mich herum auf Verständnislosigkeit. Mir fällt auf, wie viele Menschen sich gegebenen Umständen unterordnen, ohne sich ihrer Eigenverantwortung für die Gestaltung ihres Lebens wirklich bewusst zu sein. Wir haben so eine große Macht, etwas zu verändern, wenn wir wollen, auch, wenn es nicht der bequemste Weg ist. Natürlich ist Routine energiesparender, natürlich gibt es immer wieder Enttäuschungen oder äußere Einflüsse, die wir nicht verändern können. Doch unsere Perspektive, unseren Umgang mit allem, haben wir in der Hand.

Gerade dann, wenn wir denken keine Zeit zu haben, ist es am wichtigsten, uns die Zeit zu nehmen, innezuhalten. Meine Erkenntnisse dieses einen Jahres werden mich mein Leben lang prägen.

Was ich zusammenfassend festhalte: Die Arche ist ein wunderbarer Spielplatz des Lebens. Um grundlegende menschliche Erlebnisse aller Art zu durchleben, Extreme menschlichen Seins, kontradiktorische Gefühle, Fragen über Fragen, Begegnungen, unerwartete Konfrontationen,  unbekannte Emotionen….

Das interne Leben in einem Foyer der Arche mit einer hohen Arbeitswoche für einen längeren Zeitraum birgt unglaublich viel Potenzial, darunter die Erfahrung, an die eigenen Grenzen geführt zu werden. Doch genau dazu bietet solch ein Jahr die optimale Gelegenheit. In diesem sicheren Rahmen meine Grenzen kennenlernen zu dürfen, hat bei mir dazu geführt, nun einen besonderen Wert darauf zu legen, sorgsam mit ihnen umzugehen.

 

Besuch der Arche mit meinen Eltern

Über die Ostertage besuchte ich mit meinen Eltern die Arche. Wir nahmen an der Samstags-Pilgerung sowie an der großen Osterfeier teil. Dies bot eine optimale Gelegenheit für mich, viele aus meinem Freiwilligendienst wiederzusehen und gleichzeitig meinen Eltern die Arche vorzustellen und somit mein Freiwilligenjahr näherzubringen. Was ihnen gleich auffiel ist, dass gerade viele der Betreuten sehr offen sind, auf einen zugehen, sich vorstellen und interagieren und dass es nicht zuletzt in Zusammenhang zu bringen ist, dass sie kein Handy haben. Wahrscheinlich fällt es den meisten von uns im Alltag gar nicht mehr auf, wie oft das Handy Aufgaben übernimmt, die das direkte Zwischenmenschliche ersetzten. Sei es beim Recherchieren/ Antworten suchen, Wege finden, Wartezeiten überbrücken, dem Bedürfnis, sich zu unterhalten…

 

Wär das nicht was für dich?

Bevor ich diesen letzten Rundbrief beende, möchte ich noch einmal zu einem Freiwilligendienst oder einer ähnlichen Auslandserfahrung ermutigen. Der Perspektivwechsel durch das Leben in einem anderen Land bietet Erfahrungen und Horizonterweiterung wie es ohne Distanz und Kulturschock nicht möglich ist. Durch das Lösen vom Gewohnten entsteht neuer Raum, der sich mit Überraschungen füllen kann, sowohl mit beglückenden als auch zunächst befremdenden. Es kann heftige Reibung entstehen… mit dem Potenzial zu entflammen. Das Schöne ist, dass der Freiwilligendienst nicht mit der Heimkehr endet, sondern im Erinnern, Rückblicken, Erzählen weiterlebt, reift und Schlüsselmomente und Freundschaften fürs Leben wachsen. In einem sich aufbauenden Netzwerk verbunden durch geteilte Erfahrungen, geteilte Interessen, webt sich das soziale Jahr als Teil in unsere persönlichen Geschichte mit ein, die  „sacrée histoire“ eines jeden, wie man in der Arche sagen würde… Letztendlich hat und behält es den Wert, den wir ihm zuschreiben!

 

Danke!

Ein riesiges Dankeschön an alle, die mir diesen Freiwilligendienst ermöglicht haben. An meine Familie und Freunde für die Unterstützung aus der Ferne. Danke an das SoFiA-Team für die Begleitung, die man sich nicht besser wünschen kann. An alle Unterstützer des Vereins. Danke an alle Menschen, die ich kennenlernen durfte, für alles, was ihr mir mit auf den Weg gegeben habt.

verwunschener Torbogen, Hauterives

A bientôt!

Maria