Bolivien: 1. Rundbrief von Eva-Lotte Müller

Liebe Familie und liebe Freunde zu Hause & in der ganzen Welt,

ich freue mich euch endlich meinen ersten Rundbrief senden zu können und euch die letzten 5 Monate ein bisschen mitempfinden zu lassen. Es scheint mir unmöglich all das Erlebte in Worte zu fassen und dieses Land in einen Brief einzufangen, aber ich hoffe ihr könnt euch ein möglichst buntes Bild machen.. ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

August:

Ich erinnere mich noch wie ich in der Nacht vor dem Abflug wirklich kaum geschlafen habe und furchtbar aufgeregt war wegen allem was da auf mich zu kommt. Nach den Abschiedstränen am Flughafen war ich unglaublich dankbar, dass ich die anderen Bolivien Freiwilligen um mich herum hatte, die mich abgelenkt haben, wodurch sich langsam die Vorfreude einstellen konnte. Wir sind dann also in unserer kleinen Reisegruppe in Luxemburg ins Flugzeug gestiegen und nach einer langen Reise über Madrid und Santa Cruz dann am 05.08.2019 in „La Paz“ angekommen.

La Paz“ hat mir wirklich den Atem geraubt. Schwer zu glauben wie so eine Millionenstadt in so einer Umgebung entstehen kann. Auf einer Höhe von bis zu 4000m an die Berghänge geschmiegt, reihen sich die Häuser dicht aneinander. Nachdem wir von Isabel, unserer Freiwilligenkoordinatorin, vom Flughafen in „El Alto“ abgeholt wurden, sind wir zu einem Aussichtspunkt gefahren, und der Blick in die Ferne hat mich wirklich beeindruckt.

Die ersten drei Tage haben wir mit allen Hermandad-Freiwilligen ein Willkommensseminar gehabt, worüber ich im Nachhinein sehr froh bin, denn es war irgendwie ein sanftes Ankommen, mit Menschen, die mir in so kurzer Zeit sehr an Herz gewachsen sind, in der so neuen und unbekannten Umgebung. In dieser Zeit haben wir auch die Hermandad Verantwortlichen, der Partnerorganisation von SoFiA in Bolivien, kennen gelernt. Mit der Höhenkrankheit hatte ich auch ein wenig zu kämpfen, vor allem beim Treppen gehen hab ich mich wie eine 80-jährige gefühlt und kam immer mit Schnappatmung an.

„La Paz“

Nach den Tagen in „La Paz“ musste ich noch eine 13-stündige Busfahrt hinter mich bringen, um in meiner neuen Heimatstadt anzukommen. Tarija ist eine der südlichste Städte in Bolivien und ist mit 300.000 Einwohner eher gemütlich und ruhig, wobei ich als Landei doch erstmal gestaunt habe. Ich lebe hier wirklich gerne. Ich fühle mich hier sicher und auch das Klima ist auf einer Höhe von 1800m total angenehm. Die „Chapacos“, wie die Leute hier aus Tarija genannt werden, sollen die ruhigsten und freundlichsten aus ganz Bolivien sein. Wobei das eigentlich jede Region in Bolivien von sich behauptet

meine Gastfamilie

Am Morgen kam ich dann bei meiner Gastfamilie an und es war ein bisschen wie ein Ankommen in der Realität. Niemand in meiner Gastfamilie konnte Englisch oder Deutsch und ich hatte es vorher auch nicht so für Nötig gehalten mir wenigstens ein bisschen Spanisch anzueignen, deswegen war die Kommunikation am Anfang ausschließlich Zeichensprache. Jedenfalls bin ich sehr dankbar in dieser Familie gelandet zu sein. Diese Menschen haben mich so unglaublich herzlich aufgenommen und geben mir bis heute mit einer Selbstverständlichkeit das Gefühl dort eine Heimat zu haben.

Meine Gastoma und ihre Kinder ergeben zusammen eine ziemliche Großfamilie und es gab kaum einen Tag wo niemand zu Besuch kam. Wir machten Ausflüge aufs Land und meine Oma hat mir ein paar bolivianische Rezept beigebracht. Was mich in dieser Zeit ein wenig belastet hat, war das niemand gleichaltrig in dieser Familie war und es deshalb schwer war mit den wenigen Spanischkenntnissen Leute kennenzulernen.

auf dem Weg zum Markt
Leichtathletikteam

Im ersten Monat hatte ich meinen Sprachkurs im Einzelunterricht mit meiner herzensguten Lehrerin Pamela, die die 3 Stunden täglich so schön wie möglich gestaltet hat. In der ersten paar Monaten habe ich jede kleine Errungenschaft gefeiert. Als ich das erste mal Minibus gefahren bin und in der richtigen Straße ausgestiegen bin, habe ich mir echt ein Loch in den Bauch gefreut. Im August bin ich auch in den Leichtathletikverein eingetreten und dort habe ich eine sehr liebe Gruppe kennengelernt, die mich mit offenen Armen aufgenommen hat.

Mein prägendstes Erlebnis war, als ich eine 60km Wanderung gemacht habe nach „Chaguaya“. Man kann das beschreiben wie eine Pilgerwanderung zu Ehren von einer Heiligen die vor allem junge Bolivianer einmal im Jahr machen. Noch nie hatte ich solche Schmerzen in meinen Füßen, für mich wohl eher eine einmalige Erfahrung.

 

September:

die Kinder & ich

Der September war für mich kein einfacher Monat, denn zum Einen stand für mich mein erster Umzug an und ich bin in meine zweite Gastfamilie gezogen, es waren auch herzensgute Menschen, aber in der Zeit in der ich bei ihnen gewohnt habe, musste die Familie einige Krisen bewältigen. Sie haben definitiv ihr Bestes gegeben, aber in dieser Zeit habe ich mich hin und wieder allein gefühlt. Im September fing dann auch meine Arbeit in meinem ersten Projekt, einem privaten Bildungszentrum für 3-11jährige, an. Dort habe ich den Morgen mit den Kleinen und einer Miterzieherin verbracht und wir haben zusammen geübt ordentlich zu malen, die Zähne richtig zu putzen und die Vokale zu sprechen. Im Grunde werden die Kleinen dort hingeschickt um auf die Grundschule vorbereitet zu werden.

Mein zweites Projekt ist eine Herberge für Migranten. Dort finden sie einen sicheren und trockenen Ort zum Schlafen, an dem es ein kostenloses Abendessen und Frühstück gibt. Jeden Abend kommt eine andere Gruppe von bolivianischen Freiwilligen, die sich um das Essen kümmern. Meine Hauptaufgaben sind die Registrierung der Migranten, die Hilfe beim Kochen und das generelle Sauberhalten des Hauses. Ich wurde hier wirklich sehr behutsam an die Verantwortung heran geführt. Hier habe ich viele junge Leute kennengelernt, die mittlerweile auch zu Freunden geworden sind. Generell herrscht eine sehr familiäre Atmosphäre.

die „Chunchos“

Jeden Monat wird in Tarija ein Heiliger gefeiert und im September ist es „San Roque“, der dafür heilig gesprochen wurde, sich um Leprakranke zu kümmern. In diesem Sinne finden den ganzen Monat Prozessionen der „Chunchos“ statt. Männer in extrem bunten Trachten tanzen durch die Straßen und spielen dabei ein traditionelles Instrument, auch das hat mich sehr beeindruckt.

die Taufe

Mein prägendster Moment im September war die Taufe meiner kleinen Gastschwester. Es war eine sehr innige Atmosphäre und es ist irgendwie ein schöner Gedanke der kleinen Sofia ein Jahr beim Aufwachsen zusehen zu dürfen.

 

Oktober:

Mariel

Im Oktober bin ich zum zweiten Mal umgezogen in das Migrantenheim. Dort bin ich in mein eigenes Zimmer gezogen, was dann auch mein permanentes zu Hause für die nächsten 11 Monate ist. Es ist total schön endlich das Gefühl zu haben richtig angekommen zu sein und diese Kombination aus Freiheit des alleine Wohnens zu haben, aber andererseits auch die Geborgenheit meiner Gastfamilie zu genießen. An diesem Punkt kam auch ein wunderbarer Mensch in mein Leben: meine Mitbewohnerin Mariel. Sie ist mir wirklich sehr ans Herz gewachsen und war auch eine der ersten Personen, mit denen ich lange und wertvolle Gespräche auf Spanisch führen konnte.

Campensino

Es haben sich auch unsere eigenen kleinen Rituale entwickelt. Zum Beispiel fahren wir einmal die Woche zum „Campesino“, ein riesengroßer Markt wo es das frischeste und günstigste Obst und Gemüse gibt. Generell werden in Bolivien eigentlich fast alle Einkäufe auf dem Markt erledigt. So ein Markt ist für mich wirklich ein wunderschönes Geschehen. Sehr bunt und lebendig. Am Besten gefallen mir die kleinen Gespräche mit den Marktfrauen über Gott und die Welt.

Im Kindergarten habe ich mich immer mehr eingewöhnt und obwohl die Arbeit manchmal anstrengend ist, wird alles wett gemacht durch einen „besito“ oder einen „abrazo“, also die Schmuseeinheiten mit den Kleinen. Ich habe ihren Charakter sehr genau kennengelernt und jeden einzelnen mit seinen Eigenheiten ins Herz geschlossen.

erste Reise nach „Santa Cruz“

Im Oktober habe ich auch meine erste Reise nach „Santa Cruz“ gemacht um mit Freunden auf ein Festival zu gehen und die Freiwilligen dort zu besuchen. Es war wie ein erneutes Verlassen der neu eingerichteten Komfortzone, denn es war meine erste Reise alleine. Dieses Treffen hat mir auf jeden Fall nochmal viel Kraft gegeben. „Santa Cruz“ ist eine wunderschön grüne Stadt und auch eine der größten in Südamerika. Somit ist sie aber auch unheimlich schnelllebig und hektisch. Da sie im Tiefland liegt steigen die Temperaturen dort regelmäßig über 30°.

Eine sehr schwierige Phase im Oktober kam aber auch durch den „Paro“, der Streik der durch die Konflikte nach den Wahlen hervorgerufen wurde. Es ist für mich als Ausländerin sehr schwierig dazu eine Aussage zu treffen, denn dazu fühle ich mich nicht in der Lage und auch nicht ausreichend informiert. Zusammengefasst wurde dem langzeitigen Präsidenten Evo Morales vorgeworfen, das Ergebnis der Wahlen manipuliert zu haben und dadurch sind im ohnehin schon sehr gespaltenen Land starke Proteste und Konflikte ausgebrochen. Hier in Tarija sind die Menschen in der Mehrzahl sehr kritisch gestimmt gegen Evo Morales und dessen Anhänger sind in der Unterzahl, weshalb die Auseinandersetzungen sich wirklich in Grenzen gehalten haben. Ich habe konkret nur die Straßenblockaden mitbekommen, also die komplette Lahmlegung des gesamten Verkehrs im Zentrum der Stadt. Somit konnte ich nur zu Fuß überall hinkommen und im Kindergarten waren wir stark unterbesetzt, was mich teilweise echt an meine Grenzen gebracht hat. Ich habe versucht in dieser Situation viel Nachzufragen, um die verschiedenen Sichtweisen kennenzulernen und die Probleme und Sorgen nachzuempfinden. Vor allem die Angst meiner Liebsten um ihr Land und die Sorge nach Hause zu müssen hat mich in dieser Zeit belastet.

Eine Tradition die mich im Oktober sehr beeindruckt hat war der „Día de los muertos“. Es ist vergleichbar mit Allerheiligen/Allerseelen in Deutschland. Hier in Bolivien werden die Toten geehrt durch das Decken eines Tisches mit den Lieblingsdingen des Verstorbenen und einem Besuch auf dem Friedhof. Allerdings ist die Stimmung viel fröhlicher: es wird gelacht und die Erinnerung an die Toten mehr gefeiert als in Deutschland.

November:

Kochen im Migrantenheim

Im November hat sich die politische Situation beruhigt und in meinen beiden Projekten ist wieder mehr der Alltag eingekehrt. Vor allem im Migrantenheim habe ich langsam immer mehr Verantwortung übernommen. Ich kriege hier immer wieder viele Schicksale und Geschichten mit und das prägt mich wirklich sehr. Ich habe hier gelernt, dass man manchmal auch mit einfach nur zuhören etwas Gutes tun kann.

Mein Spanisch hat sich in einem eher langsamen Prozess entwickelt, aber manchmal habe ich Momente, in denen ich ganz bewusst merke wie viel ich schon gelernt habe. Ich lebe die ganze Zeit nur mit Bolivianern zusammen und die meisten sind wirklich sehr geduldig und verständnisvoll wenn ich Fehler mache oder mir Worte fehlen. Mittlerweile kann ich fließende Unterhaltungen führen und weil ich am Anfang gar nicht in der Lage war zu kommunizieren, ist es jetzt umso schöner mich mitteilen zu können. Nur abends hab ich meistens nur noch Matsch im Kopf und im Migrantenheim kommen auch viele Spanische Dialekte aus Venezuela und Argentinien zusammen, die auch nicht immer einfach zu verstehen sind.

Mittagstisch

Im November habe ich angefangen ein weiteres Projekt zu besuchen: einen Mittagstisch in einem der ärmeren Außenbezirke der Stadt. Dort wird für bis zu 50 Personen gekocht. Ich habe selten so viel Dankbarkeit und Neugier meiner Kultur gegenüber erfahren und die Arbeit dort macht mich wirklich sehr sehr glücklich. Was ich dort vor allem gelernt habe: Unmengen an Kartoffel schälen.

Dezember:

Promoción

In den letzten beiden Arbeitswochen hat sich in beiden Projekten eine sehr stressige Phase abgespielt. Im Kindergarten wurden die Präsentationen für das Ende des Jahres vorbereitet, wo die Kinder zeigen sollten was sie gelernt haben: vorgeführt wurden einstudierte Lieder, Tänze und ein Theater. Meine Chefin war sehr ambitioniert was diese Präsentation anging, deswegen herrschte viel Druck für die Kindern. Diese Einstellung fand ich schwierig zu akzeptieren, weil ein größerer Fokus darauf lag die Eltern zu beeindrucken, als dass die Kinder sich wohl fühlten.

Im Migrantenheim war ich für die Weihnachtsdekoration zuständig und war ständig am basteln. Umso erleichterter war ich dann als endlich alles fertig war, die Präsentation gut gelaufen ist und das Haus dekoriert war. Vor Weihnachten habe ich mir dann auch von meiner deutschen Oma ihr berühmtes Lebkuchenrezept geben lassen und es stellte sich heraus, dass Bolivianer verrückt danach sind, sodass ich schon dreimal gebacken habe.

Vor Weihnachten hatte ich wirklich ein bisschen Angst, einfach weil es so eine typische Zeit ist die man einfach mit der Familie verbringt. Ich hatte tatsächlich auch ziemliches Heimweh, so ziemlich das erste Mal in der ganzen Zeit, doch meine Gastfamilie hat mich wirklich sehr gut aufgefangen. Am Weihnachtsabend schmückten wir zusammen den Baum, gingen in die Weihnachtsmesse und haben uns genauso wie in Deutschland den Bauch vollgeschlagen.

Am Weihnachtsabend bleibt man hier bis Mitternacht wach und feiert dann richtig in den 25. rein. Was mir ein bisschen skurril vorkommt, ist die unglaublich bunte und grelle Dekoration und die enormen Krippen, die hier fast das Highlight vom ganzen Fest sind. Alles in allem war es wirklich keine einfache Zeit ohne meine Familie zu sein, aber trotzdem war es schön dieses Fest mit meiner Gastfamilie zu verbringen und teilzuhaben an ihren eigenen Traditionen

Gastgeschwister
meine Gastoma

 

Und sonst?

Was ich in meinen ersten Monaten hier gelernt habe:

  •  ich werde wahrscheinlich bis zum Ende des Jahres nicht lernen wann man pünktlich ist und wann man wie viel zu spät kommt
  •  Gutes Tun macht glücklich
  • Bolivianer haben wirklich wahnsinnig viel Rhythmusgefühl
  • 12h Busfahrt gehen schneller rum als man denkt, Distanzen bekommen in einem so großen Land eine ganz andere Bedeutung
  • nicht jeder Hund kann hier gestreichelt werden

Ich habe noch ein paar Themen die mich hier regelmäßig beschäftigen, die aber einfach zu groß für so einen Rundbrief wären, sind:

  •  sexuelle Belästigung/ Machismo/ die Rolle der Frau
  •  Ernährung und der schlechte Umgang der eigenen Gesundheit
  •  Umweltschutz
  •  Kontrast zwischen Land und Stadt

Während ich diesen Rundbrief tippe haben gerade die Sommerferien angefangen, denn in Bolivien ist von Dezember bis Februar Sommer, und meine Projekte sind geschlossen. Ich habe eine sehr aufregende Zeit vor mir, in der ich mehr von Bolivien kennenlerne werde, weil ich einige Reiseziele besuchen werde, doch davon mehr im nächsten Rundbrief…

Vielen Dank für eurer Interesse und eure Unterstützung! Bei Unklarheiten und Nachfragen immer her damit!

Ganz liebe Grüße aus Bolivien!

Eva