Brasilien: 1. Rundbrief von Nico Berens-Knauf

Liebe Leser(innen), Freunde und Familie,

unglaublich aber seit ungefähr 3 Monaten wohne ich nun schon hier in Brasilien. Die Zeit verging einerseits gefühlt sehr schnell, da man gar nicht die Zeit hat alles zu realisieren, weil man von neuen Dingen und Erfahrungen so überrumpelt wird und andererseits kommt einem der Aufenthalt schon sehr lang vor, da man schon auf so viel Erlebtes zurückblicken kann.

Anreise

Eigentlich war mein Anreisedatum schon Anfang August, da aber mein Visum aus unerfindlichen Gründen die normale Wartezeit deutlich überschritt, musste ich meine Ausreise um einen Monat verschieben, in dem ich aber dann noch viel Zeit hatte zu realisieren, was ich hier überhaupt mache und natürlich mich von meiner Familie und meinen Freunden gebührend zu verabschieden.

Angereist bin ich mit dem früheren Entwicklungshelfer Bernd Kuhl, der viele Jahre im Nordosten, in Batalha und Parnaiba in der Diozöse gearbeitet hat, in meinem Projekt sehr bekannt ist und seinen Urlaub in Pedro II verbracht hat. Dank ihm hatte ich eine wirklich unbeschwerte Anreise. Er spricht fließend portugiesisch und kennt sich sehr gut im Nordosten aus. Als wir nach ca. elf Stunden Flug in Fortaleza angekommen waren, war es mit ihm also ein leichtes ein Taxi vom Flughafen zum Busbahnhof zu besorgen und anschließend den Omnibus nach Piripiri zu nehmen. Ob ich das alles alleine geschafft hätte wage ich zu bezweifeln, vor allem weil meine Portugiesisch-Sprachkenntnisse mit „Hallo“ und „Danke“ noch sehr begrenzt waren und die Einheimischen nur sehr wenig bis gar kein Englisch sprechen. In Piripiri angekommen, warteten Bernd und ich 2 Stunden bis uns Maria Platen, eine deutsche Frau die etwa seit 40 Jahren in Pedro II wohnt und auch mein Projekt „Mandacaru“ mitgegründet hat, abholte und danach in jene Stadt fuhr, in der ich mein nächstes Jahr verbringen werde, Pedro II.

Bei Maria werde ich auch die erste Zeit wohnen. Mit ihr lebt noch die ca. sechzigjährige Lucia, die in Mandacaru als Kindergärtnerin arbeitet. Maria hat ein großes Haus mit vielen Zimmern und einem großen Garten. Nebenan wohnt noch Marias Adoptivtochter mit ihrem Mann und 2 Kindern bei denen ich mich auch relativ viel aufhalte.

 

Projekt

Mein Projekt „Centro de Formaçao Mandacaru“ ist in die Ökoschule „Thomas a Kempis“, den Kindergarten „Asa Branca“, CEBI (Bibelkreis), die Agricultura Familiar (Landarbeiterfamilien) und Zisternenbau unterteilt. Das Projekt ist sehr umfangreich und es gibt viele Bereiche, in denen mir ein Einblick gewährt wird. Mandacaru ist als Verein strukturiert und als Fundament der Arbeit gilt „Hilfe zur Selbsthilfe“. Die Finanzierung erfolgt durch einen großen Teil durch Spendengelder aus Deutschland.

 

Agricultura Familiar

 In den ersten Wochen habe ich viel Zeit im Umland, im sogenannten „interior“ von Pedro II verbracht. Dort leben die Familien hauptsächlich noch von der Landwirtschaft. Der Nordosten Brasiliens liegt in der semiariden Klimazone. Die Bewirtschaftung der Flächen ist also nur durch Bewässerung möglich. Für mich, als Sohn eines Landwirts, ist es sehr interessant die Unterschiede der Pflanzen und deren Bewirtschaftung im Kontrast zu Deutschland zu sehen. Wir besuchen dort Familien, die Mandacaru unterstützt, um nachzusehen, ob die Projekte funktionieren und wenn nicht, gegebenenfalls die Ursachen zu erkennen und dagegen vorzugehen. Die Familien sind äußerst freundlich und hilfsbereit, auch wenn ich noch so gut wie nichts verstehe von dem was sie sagen. Wir werden oft zum Essen eingeladen und ich durfte sogar schon mit einem Bauern Zuckerrohrsaft („caldo de cana“) pressen und Cashew- Kastanie („caju“) brennen.

Bernd und ein Agriculturlehrer der Ökoschule beim Bekundschaften eines Nutzgartens eines Kleinbauers

 

Kindergärten „Asa Branca“

 Nach den ersten Wochen werde ich dann langsam in andere Bereiche mit eingegliedert. Die Aufgaben sind dabei oft sehr unterschiedlich. Am Anfang bin ich noch viel mit in die Kindergärten „Asa Branca“ gegangen, die im ärmeren Viertel „San Francisco“ liegen. Die Kinder lernen dort die ersten Zahlen und Buchstaben, aber auch die Augen-Finger-Koordination und das logische Denken wird durch z.B. Puzzle oder Schneidaufgaben trainiert. Die Kinder sind sehr temperamentvoll und haben viel Energie, die sie in den Spielpausen rauslassen können. Dabei ist es oft sehr schwierig sie im Zaum zu halten. Vor allem auch durch die Sprachbarriere gestaltet sich dies oft schwierig. Die Kinder reden sehr schnell und undeutlich, sodass meine ohnehin noch sehr begrenzten Sprachkenntnisse manchmal ziemlich überfordert sind. Besonders in Situationen, in denen ich schnell reagieren muss, ist es noch oft sehr schwierig die Fremdsprache zu gebrauchen.

 

Ökoschule „Thomas a Kempis“

 Ein weiterer Teil meiner bisherigen Unternehmungen ist die Ökoschule „Thomas a Kempis“. Die Ökoschule hat das Ziel den etwa 150 Schülern neben den handelsüblichen Fächern wie z.B. Portugiesisch und Mathe auch Wissen über den ökologischen Landbau und die Viehzucht zu vermitteln. Dazu bewirtschaften die Landwirtschaftslehrer mit den Schülern Gärten und ziehen Schweine, Bienen, Hühner und Ziegen auf. Die Lehrer und Schüler nehmen mich sehr gut auf und es macht mir großen Spaß dort meine Zeit zu verbringen. Meine Aufgaben sind dabei sehr vielseitig und ziehen sich von der Bewirtschaftung der Gärten, „caju“ sammeln im „interior“, Impfungen der Tiere bis hin zur Herstellung von recycelter Pappe. In den Pausen spiele ich meist mit den Schülern Fußball, Tischtennis oder Brettspiele. In der Ökoschule herrscht ein angenehmes, fast familiäres Arbeitsklima. Es werden viele Späße gemacht und man nimmt sich dort selbst nicht zu ernst.

Ein Lehrer und ein Schüler der Ökoschule beim Anlegen einer „horta sombreada“, einem Nutzgarten mit Beschattungs- und Bewässerungssystem

 

Sprachunterricht

 Zusätzlich hatte ich die ersten zwei Monate noch 4 Stunden pro Woche Portugiesisch Unterricht. Dadurch, dass man die Sprache quasi den ganzen Tag gebraucht, macht man auch sehr viel schneller Fortschritte, als man es beispielsweise in der Schule machen würde. Nach 3 Monaten verstehe ich sicherlich noch nicht jedes Wort und ich muss mir noch sehr oft aus den Brocken, die ich verstehe vieles zusammenbasteln, aber im Kontext verstehe ich schon viel und kann auch schon mittlerweile richtige Konversationen führen.

 

Pedro II

Pedro II ist eine Kleinstadt mit ca. 40 000 Einwohnern und liegt im wirtschaftschwächeren Nordosten Brasiliens, im Bundesstaat PiauÍ. Viele dieser Einwohner leben im Umkreis von Pedro II im sogenannten Landesinneren („interior“) in kleinen Dörfern, den „commundidades“.

Persönliche Eindrücke

 In der Stadt selber fällt einem sofort der viele Verkehr und der dauernd anhaltende Lärm auf. Die Stadt ist gefühlt einfach niemals still, was für einen Jungen vom Dorf, wie ich es bin, anfangs noch sehr gewöhnungsbedürftig ist. Generell sind die Straßen hier in Pedro II sehr belebt, denn das Leben findet hier viel mehr auf der Straße statt. In jede Gasse, in die man schaut kann man etwas Anderes beobachten.

Um euch davon einen näheren Eindruck zu geben, werde ich nun meinen Weg zum Fitnessstudio, den ich mehrmals die Woche zu Fuß zurücklege, erläutern.

Ich gehe also aus dem Haus rechts um die nächste Ecke in Richtung der nahegelegenen Kirche. Prompt höre ich die Gesänge der Capoeiraschule, die in dieser Straße liegt. Je näher ich der Kirche komme, desto mehr überstimmt die über die Lautsprecher laufende Kirchenmusik die Gesänge der Schule. Vor der Kirche erstreckt sich die sogenannte „praça“. Ein Park mit Bänken, Bäumen und vielen Blumen, den ich passieren muss. Dort sieht man am Abend viele Pärchen, die dort gemeinsam etwas Zeit verbringen, Kinder, die Fußball spielen und Menschen, die am Rande eines Kaffees miteinander quatschen.

Praça Domingos Mourão Filho

Hinter dem Park gehe ich durch eine kleine Gasse und bin in der Barszene von Pedro II angelangt. An dieser Straße reihen sich die Bars regelrecht hintereinander auf. Dort ertönt laute Musik aus den Lautsprechern der Bars oder, typisch für das Brasilien, wie ich bisher kenne, die großen Boxen auf den Ladeflächen der Autos.

Hinter dieser Straße biege ich links ab und bin an der Hauptstraße, an der „avenida“ angelangt. Auch am Abend gibt es noch viel Verkehr auf den Straßen. Der Unterschied zu Deutschland ist, dass der Großteil der Bevölkerung sich mit Motorrädern fortbewegt. Nicht selten ist, dass das Motorrad auch gleich das Familienmobil ist, denn oft befindet sich auf einem einzigen Motorrad Vater, Mutter und Kinder. Es wird viel gehupt und für mich scheint es, dass teilweise mehr nach Gefühl gefahren wird, als nach Regeln. Auffällig sind noch die vielen streunenden Hunde und der viele Müll an der Straßenseite. Aber nicht nur die Augen und die Ohren werden hier von Reizen überflutet. Auch mit der Nase kann man viele Sinneseindrücke wahrnehmen. Man riecht das Abwasser, den Bauschutt, die Abgase, aber auch den Geruch der vielen Bäckereien oder des Grillfleischs, welches in einem Grill, der einfach auf einem Bürgersteig aufgebaut wurde, zum Verkauf steht. Habe ich diese lange Straße mit vielen Geschäften auf beiden Seiten hinter mir gelassen und die Brücke überquert, biege ich rechts ab und bin nun schon im „bairro“ (Viertel) San Francisco. Von dort an sind es nur noch gut hundert Meter bis zu meinem Ziel, in denen ich an vielen Familien, die vor ihren Wohnhäusern mit ihren Plastikstühlen sitzen, Konversationen führen oder einfach das Geschehen auf der Straße beobachten, vorbeigehe. Kurz darauf bin ich schon am Fitnessstudio angelangt.

 

Wasserknappheit in der Stadt

 Ein ganz wichtiger Aspekt, um einen Eindruck von der Gegend und von der Stadt Pedro II zu bekommen ist die Wasserknappheit, die hier herrscht. Wie oben schon beschrieben liegt der Nordosten Brasiliens in der semiariden Klimazone von Brasilien. Das heißt, dass es hier quasi nur in der Regenzeit vom Januar bis zum April regnet. Es gab aber auch schon Jahre, wo es sogar in der Regenzeit nur wenig bis gar nicht geregnet hat, sodass sich der Stausee der Stadt und die Zisternen der Kleinbauern nicht ausreichend füllen konnten. Man hat dieses Jahr schon in Deutschland erlebt, wie groß die Ernteausfälle nach nur einem Sommer ohne Regen sein können. Jetzt muss man sich das mal fünf Jahre hintereinander vorstellen auch im Bezug darauf, dass der Großteil der Bevölkerung noch von der Landwirtschaft lebt und sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist.

Gegen Ende des letzten Jahres gab es z.B. ganze Stadtteile ohne fließendes Wasser in den Haushalten und auch für mich gab es schon Tage an denen ich mich möglichst sparsam mit Eimer und Bürste geduscht habe. Dabei wird einem bewusst wie unglaublich wichtig und wertvoll Wasser für unser Leben und unseren Alltag ist und, dass jeder einzelne ein Gespür dafür entwickeln sollte.

 

Politische Situation

 Ein ganz wichtiger Aspekt zur Situation im Land waren die Präsidentschaftswahlen im Oktober, denn in einer Stichwahl zwischen Jair Bolsonaro, der der Partido Social Liberal angehört und Fernando Haddad dem Kandidaten der Partido Trabalhadores (Arbeiterpartei) konnte sich Jair Bolsonaro mit 55,1 % der Stimmen durchsetzen.

Bolsonaro vertritt gesellschaftspolitisch rechtkonservative Positionen und erlangte vor allem durch frauenfeindliche, schwulenfeindliche und rassistischen Äußerungen Aufmerksamkeit. Dem zu Folge gab es viele Protestaktionen innerhalb des Landes. Mit dem #ELENAO (er nicht) versuchten Frauen, Schwule und Gegner Bolsonaros ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen und auf seine radikalen Ansichten aufmerksam zu machen. Mein persönliches Umfeld ist sehr enttäuscht und traurig über die Ergebnisse der Wahlen und deutlich auf der Seite der Arbeiterpartei, mit der sich laut ihnen unter der Führung vom ehemaligen Präsidenten Lula besonders im ärmeren Nordosten in den letzten Jahren vieles zum Positiven entwickelt hat. In meiner Stadt Pedro II hatte die Arbeiterpartei auch mit ca. 60% die Mehrheit der Stimmen.

Ich wurde nun schon einige Male gefragt, wie die Situation hier im Land nach den Wahlen denn sei. Außer ein paar Böller, die den Tag danach irgendwo in der Stadthochgegangen sind, konnte ich aber am Stadtbild noch keine Veränderungen feststellen, was sich aber bei der Amtsübernahme im Januar vielleicht noch ändern wird, wovon ich dann in meinem nächsten Rundbrief von berichten werde.

Demonstration „Ele não“ gegen den Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro

 

Mein Leben hier

Ich persönlich blicke hier auf eine intensive, aber für mich sicherlich nicht ganz einfache Zeit zurück. Soweit geht es mir hier aber eigentlich ganz gut, mein Projekt gefällt mir, es lastet mich aus und ich werde gut mit eingebunden. Die Menschen begegnen mir mit Offenheit und Hilfsbereitschaft und in meiner Freizeit gehe ich oft, wie schon oben beschrieben ins Fitnessstudio oder spiele mit den Lehrern und Schülern einmal in der Woche in der Kunstrasenarena Fußball. Einen großen Freundeskreis konnte ich mir bisher leider noch nicht aufbauen, da ich aber die Sprache nun immer besser beherrsche, kommen auch so langsam die sozialen Kontakte außerhalb des Projekts, was natürlich für mein persönliches Wohlbefinden sehr wichtig ist.

Außerhalb von meinem Projekt durfte ich schon zweimal nach Parnaiba reisen, um mich bei der Policia Federal zu registrieren. Dadurch konnte ich meinen Mitfreiwilligen Florian Böhmer besuchen, und sein Projekt bzw. seine Umgebung kennenlernen. Es war auch mal ganz interessant die ersten Erfahrungen und Eindrücke, die man so gemacht und erfahren hat und die sowohl manchmal ähnlich, als auch völlig verschieden sind, untereinander auszutauschen. Glücklicherweise liegt Parnaiba direkt am Meer und hat auch generell naturräumlich ordentlich was zu bieten. Ich konnte mir dort also ein paar schöne Tage machen und nachdem ich das erste Mal bei Florian und dessen Gastfamilie unterkam, blieb ich das zweite Mal ein Wochenende bei Ricardo, einem Brasilianer, der auch schon einen Freiwilligendienst in Deutschland geleistet hat und den ich bei meinem ersten Aufenthalt kennen gelernt habe und dessen Familie. Dies war das erste Mal, dass ich wirklich allein unter Brasilianern war und daher auch eine besondere Erfahrung für mich.

Die Sanddünen von Parnaiba im Sonnenuntergang

Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass ich hier definitiv kein Entwicklungshelfer o.Ä. bin, wie einige meiner Mitmenschen es interpretiert haben, nachdem sie erfuhren, dass ich ein Jahr im Ausland ein soziales Projekt begleite. Ich verbringe ein Jahr hier in Brasilien um Erfahrungen zu sammeln und um von den Einheimischen und von der Kultur etwas zu lernen. Zudem ist Brasilien ein Land von kontinentaler Größe und ich habe bisher nur einen ganz kleinen Teil davon kennenglernt und es gibt noch so viele Dinge, die ich nicht verstehe. Meine Eindrücke sind individuell und dürfen daher nicht verallgemeinert werden.

In meinem nächsten Rundbrief werde ich euch gerne mehr erzählen. Bei Fragen o.Ä. könnt ihr mir gerne eine E-Mail schreiben.

 

Bis dann und viele Grüße

Nico Berens-Knauf

Ricardo, Florian und ich beim Fischen in einer Lagune in Parnaiba
Morro do Gritador (Pedro II)