Liebe Freunde, Familie und Unterstützer,
viel, sehr viel Zeit ist seit dem letzten Rundbrief vergangen und mein Freiwilligendienst tritt schon fast das letzte Viertel an. Für mich war die letzten Monate der Regierungswechsel und die damit einhergehenden politischen Veränderungen besonders prägnant, da in meinem Projekt auch sehr viel über Politik gesprochen und diskutiert wird.
Die erste Zeit unter dem Präsidenten Jair Bolsonaro
In den Nachrichten wird jeden Tag etwas über ihn berichtet. Mal lässt er sich zu einer gewagten Aussage hinreißen, ändert plötzlich seine Meinung oder es gibt wieder einen neuen Gesetzesentwurf der für Furore sorgt.
Die Politik Bolsonaros konzentriert sich in der ersten Zeit vor allem darauf die Wirtschaft zu stärken und zu stabilisieren, sowie die Haushaltskosten des Staates drastisch zu senken, um einen Finanzkollaps des schwächelnden Staates zu verhindern.
Einer seiner Ansatzpunkte die Wirtschaft anzukurbeln ist, die Umweltgesetzgebung zu flexibilisieren, um dadurch mehr Freiraum für Investitionen ausländischer Firmen in beispielsweise der Amazonasregion zu schaffen. Gesetzesvorschlag war beispielsweise das Umwelt- mit dem Agrarministerium zu fusionieren. Eine Reform, die in meinem Umfeld, aber scheinbar auch landesweit und in der Opposition mit großem Unmut entgegengenommen wurde, da man in dem Vorschlag eine enorme Entmachtung des Umweltministeriums sah. Gezwungenermaßen wurde die Reform darauf umstrukturiert. Die Regierung lässt die beiden Ministerien nun nicht mehr fusionieren, sondern überträgt in Form einer Verwaltungsreform dem Agrarministerium nun viele wichtige Kompetenzen des Umweltministeriums. So ist beispielsweise zukünftig der Brasilianische Forstdienst nicht mehr dem Umweltministerium, sondern dem Agrarministerium untergestellt. Dadurch besitzt das Agrarministerium die Entscheidungskraft in z.B. Verwaltung und Vergabe öffentlicher Wälder. Eine ermeintlich kleinere, aber nicht weniger wirksame Reform, die aber durch den Aufruhr zu Anfang quasi nicht mehr zur Kenntnis genommen wurde.
Bolsonaros größte Baustelle die Staatsausgaben zu senken ist die Modifizierung des Rentensystems. Um den Staatshaushalt zu entlasten, will die Regierung die Rente nicht mehr an den Inflationsausgleich koppeln. Außerdem soll das Renteneintrittsalter für Männer auf 65 und für Frauen 62 Jahre angehoben werden. Der Anspruch auf eine volle Rente soll nur noch nach 40 Jahren Beitragszahlung gewährt werden und bei weniger Jahren sind drastische Abzüge geplant. Dabei sei angemerkt, dass etwas mehr als die Hälfte der Menschen im erwerbsfähigen Alter NICHT in die Rentenkasse einzahlen. Sei es aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Beschäftigung im informellen Sektor. Diese Leute hätten also auch im hohen Alter keinerlei Anspruch darauf sich zu pensionieren.
Darüber hinaus wurde verkündet, dass die Regierung um Steuern zu sparen das Budget des Bildungssektors um 30 % kürzen wird. Besonders treffen soll die Reform die Geisteswissenschaften wie Soziologie und Philosophie. Bolsonaro begründete man solle sich auf Bereiche konzentrieren, die dem Steuerzahler unmittelbare Erträge bringen, wie beispielsweise Medizin. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL), Guilherme Boulos, äußerte sich in der Wochenzeitschrift „Carta Capital“ äußerst kritisch bezüglich der geplanten Kürzungen, insbesondere in den Fakultäten Philosophie und Soziologie. “Es handelt sich um eine unbestreitbare Abneigung gegen kritisches Denken. Bildung, die auf das Leben vorbereitet und Bürgerrechte fördert, wird nicht geschätzt.”, so Boulos. Einen Eindruck, den ich auch bei einer Reise nach Belem hatte, nachdem eine völlig gewaltfreie, aber regierungskritische Demonstration von der „Policia Militar“ blockiert wurde. Die bundesweiten Protestaktionen gegen die Bildungsreform, an der auch die Ökoschule und andere Schulen von Pedro II teilnahmen kommentierte der Präsident nur so: „Das sind eh alles nur Idioten, die nicht mal die chemische Formel von Wasser kennen.“ Was man über eine solche Aussage denken soll, überlasse ich mal jedem selbst.
Fakt ist- in Sachen Wirtschaft und Haushaltskosten muss in Brasilien etwas getan werden. Stellt sich nur die Frage, ob das wirklich auf Kosten der Natur, der Bildung oder der ärmeren Bevölkerungsschichten geschehen muss…
Das neue Schuljahr in der Ökoschule
Das neue Schuljahr startete mit einem Schock – im Staat Piaui wurden zum neuen Schuljahr unerwarteter Weise plötzlich die Schülertransporte aus den „interiores“ nicht mehr vom Staat bezahlt. Was folgte war ein Streik der Fahrer. So mussten unter anderem auch die Schüler aus der Ökoschule, die aus teilst sehr ärmlichen Verhaltnissen stammen, die Transporte zur Schule zunächst aus der eigenen Tasche bezahlen. Später steuerte Mandacaru mithilfe von Spendengelder zumindest die Hälfte bei, sodass jetzt tatsächlich allen Schülern der Ökoschule der tägliche Transport zur Schule möglich ist. Dies ist aber wie man hört nicht in allen Schulen der Fall. Im „interior“ gibt es sogar ganze Schulen, die dieses Schuljahr bis jetzt geschlossen blieben.
Wieso? Weshalb? Das weiß niemand. Von der Regierung aus kam dazu bis heute noch keine Erklärung. Fakt ist- das erste Semester ist schon fast vorbei und immernoch ist keine Lösung in Sicht. Was einem bleibt, ist da nur die Hoffnung, dass es nach den einmonatigen Sommerferien positive Neuigkeiten gibt…
Nichts desto trotz ging der Alltag in der Ökoschule weiter. Nach dem Zwischenseminar und im neuen Schuljahr habe ich jede „area“ begleitet, um anschließend einen Bericht darüber zu erfassen, was die Schüler in den praktischen Agrikulturstunden machen, wie die Ökoschule die Erzeugnisse verwertet und was überhaupt das Ziel dahinter ist. Die Berichte werden vor allem dazu dienen, Besucher, die das Konzept und das Gelände der Ökoschule kennen lernen möchten einen kleinen ersten Input zu geben, bevor sie herumgeführt werden.
Ansonsten waren wir die letzten Monate viel mit den ca. 16 Bienenvölkern im „interior“ und den Vieren in der Ökoschule beschäftigt. Dank der sehr üppigen Regenzeit, in der es von Dezember bis Juni ca. 1500 mm regnete, florierte die Natur stark und die Bienen konnten somit besonders viel Honig produzieren. Zur Honigernte fuhr man dann mit ca. 4-5 Schülern ins „interior“ und verbrachte den Tag dort. Dies war eine Arbeit die mir und auch offensichtlich den Schülern besonders viel Spaß gemacht hat. Ich denke dort konnten wir viel über die Bienenzucht, aber auch generell über die Wichtigkeit der Bienen im Ökosystem, lernen.
Schüler und Lehrer bei der Honigernte
Umzug nach „Boa Esperanca“
Noch ein weiteres Mal wechselte ich meine Gastfamilie. Diesmal verschlug es mich aber etwas weiter weg in das Viertel „Boa Esperança“, welches etwas tiefer in der Stadt liegt. Dort wohne ich nun mit Francinete, die im Vorstand von Mandacaru ist, ihrer Mutter und ihren 3 Kindern in einem Haus. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass dieses Viertel anders ist. Die Häuser sind hier nicht mehr durch hohe Mauern eingezäunt wie im Zentrum. Überall hängen Klamotten auf den an der Straße montierten Wäscheleinen und es wirkt alles kunterbunt. Aus allen Ecken hört man irgendwelche Geräusche. Vom Schweinegrunzen bis zur lauten Musikanlage ist alles dabei. Das Leben findet hier viel mehr auf der Straße statt. In der Zeit der Zwischenmahlzeit klopft es regelmäßig an der Fenster: „Bora mirindar!“, was so viel heißt wie: „Lass uns essen“. Da hat die Nachbarin schon ein Stück Kuchen mit einem Kaffee vorbereitet auf einen Plastikstuhl gestellt. Am Abend sitzen überall die Familien vor dem Haus und führen Konversationen. Jeder kennt hier irgendwie jeden und man fühlt sich einfach wohl!
„Ist gar kein Ding, aber sag ihm du sollst eigentlich was anderes machen.“
Ein Satz, der so mit einem breiten Lachen von einem Mitarbeiter von Mandacaru ausgesprochen wurde. Zuvor hatte er mir eine Aufgabe gegeben, die ich aber nicht erledigen konnte, da mich ein anderer Mitarbeiter zu einem Ausflug ins „interior“ eingeladen hatte. Aber wieso erzähle ich davon? Hört sich doch alles eigentlich ganz normal an. Es steckt aber mehr dahinter. Was mir der Brasilianer nämlich dort „durch die Blume“ sagen möchte ist, dass er in Wirklichkeit sehr wohl ein Problem damit hat. Es scheint ein anderes Modell der Kommunikation zu sein, als man es aus Deutschland kennt. Wir kommunizieren sehr viel direkter. Hier wird nach meiner Auffassung versucht dem gegenüber oft eher indirekt zu vermitteln, wenn man anderer Meinung ist oder mit dem Verhalten des Gegenübers nicht ganz einverstanden ist. Manchmal wird sogar wie ich finde etwas um den heißen Brei herumgeredet, oder gar das Problem, das man hat, verschwiegen. Das kann in einer Hinsicht sanfter, schöner und angenehmer sein, andererseits löst es bei mir aber auch oft das innere Gefühl aus, den Konflikt nicht gelöst bzw. sich nicht ganz ausgesprochen zu haben.
Kulturunterschiede, mit denen ich hier lebe und die mit Sicherheit so ihre Vor- und Nachteile haben. In solchen Momenten ist meine eigene Prägung sehr stark spürbar und ich merke oft, dass ich halt eben doch bezüglich mancher Dinge anders ticke, auch wenn hier und da Menschen schonmal sagen wie brasilianisch ich doch schon geworden sei. Das ist denke ich aber auch nicht weiter schlimm, denn es ist auch schonmal gut seiner eigenen Linie treu zu bleiben und sich nicht an alles anzupassen. Wichtig ist nur der anderen Kultur immer mit Achtsamkeit zu begegnen und den anderen Standpunkt, die andere Art, das andere Verhalten zu versuchen zu verstehen und zu respektieren.
Wie ich finde ein gutes Schlusswort, um diesen Rundbrief abzurunden. In meinem nächsten und letzten Brief werde ich dann noch von meiner letzten Zeit erzählen und versuchen eine kleine Bilanz aus meinem Freiwilligen Dienst zu ziehen.
Wenn ihr noch Fragen, Anmerkungen oder Anregungen habt, könnt ihr mir gerne eine E-Mail schreiben.
Mit freundlichen Grüßen
Nico Berens-Knauf