Bolivien: 2. Rundbrief von Silas Meyer

Hallo Ihr Lieben!

Ich melde mich also auch noch einmal. Weitere acht Monate gereift und gefühlte 500 Busstunden später. Gefühlte? Weit weg davon bin ich wahrscheinlich nicht. Der Plan, sich mindestens alle zwei Monate bei euch zu melden, hat nicht so gut geklappt. Die Zeit ist gerast und mit Erschrecken stelle ich fest, dass ich in zwei Monaten schon die Rückreise antreten muss.

Jetzt könntet ihr annehmen, es sei ein gutes Zeichen, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. In meinem Fall war aber einfach der Laptop kaputt. Nachdem dieser Anfang Februar einen Wasserschaden erlitt, folgte eine Odyssee von Reparaturbesuchen. Leider ohne Happy End, der Laptop blieb kaputt. So fiel es mir schwer, euch auf dem Laufenden zu halten. Besser spät als nie folgt jetzt also ein kleiner Rückblick meiner Reisezeit zwischen Dezember und Februar, in welcher auch die Feiertage Weihnachten und Neujahr stattfanden. In der darauffolgenden E-Mail möchte ich mich dann der Zwischenzeit bis zum Heute widmen. Der Entwicklung meiner Arbeit im Projekt, Besuchen und Weiterem.

Gringos auf Reisen

Doch fangen wir bei der letzten Info an, die ihr von mir hattet. Auszeit! Ferien! Immer her damit. Nach einer wechselhaften Anfangszeit in meiner Arbeitsstelle und einem doch sehr fremden Landleben in Azurduy freute ich mich riesig auf die anstehenden Wochen. Schon am ersten Tag der freien Zeit traf ich mich mit Raphael und Anton, zwei Mitfreiwilligen, die beide ihre ganz eigenen Geschichten und Erfahrungen der ersten vier Monate mit im Gepäck hatten. Unser Plan, im Amazonasbecken Boliviens den Nationalpark Madidi zu besichtigen, fiel dank Anbruch der Regenzeit wortwörtlich ins Wasser. So planten wir unsere Route über Potosi, der ehemals reichsten Stadt der Welt, nach Cochabamba und dem nahegelegenen Nationalpark Torotoro.

kurz vor der Mienenbesichtigung

Schon Mitte Dezember, aber Weihnachtsstimmung? Ein Fremdwort für mich bei angenehmen 25 Grad Außentemperatur in Sucre. Das änderte sich in Potosi, welches auf über 4000 Metern liegt. Nachts wirds also frisch! Gleichzeitig wurde die „plaza“ (Stadtplatz) sehr aufwendig mit Lichterketten geschmückt und als Kinderattraktion fuhr eine Pferdekutsche inklusive Weihnachtsmann im Kreis um das Stadtviertel. Neben warmer Milch mit Schnaps wurde in den Bars heisser Wein angeboten.Ich bemerkte bei der Ankunft, wie sich in mir und meinen Mitstreitern ein vertrautes Gefühl breitmachte. Ja! Das ist Weihnachten. Doch Weihnachten sollte noch eine Woche auf sich warten. Nach einer Tour durch die Silbermienen des „Cerro Rico“ (reicher Berg) Potosis, wo heute noch unter widrigsten Bedingungen Silber abgebaut wird, fuhren wir mit dem Nachtbus nach Cochabamba. Und Cochabamba flashte mich total. Das erste Mal in Bolivien hatte ich das Gefühl einen Kulturschock zu erleben, nur anders herum als erwartet. Um das zu erklären, muss gesagt werden, dass Cochabamba von der Architektur und der Atmosphäre her, einen sehr modernen Eindruck macht. In breiten Alleen stehen riesige Einkaufsmalls, Bankgebäude internationaler Unternnehmen und Geschäfte bekannter Marken. Die Parks sind mit Wlan ausgestattet und als ich einen Burger King entdeckte, fiel ich aus allen Wolken. Passend zu meinem ersten Eindruck nutzten wir den Tag zum Paintballspielen und dem Besuch in einem Freibad. Meine wenigen Beobachtungen spiegelten natürlich nicht die Realität ganz Cochabambas, eine Stadt, die an die Millionenmarke der Einwohner kratzt, wieder. Das wurde mir auch bei späteren Besuchen klar. Allerdings war dieses erste Bild so konträr zu meinem kleinen Azurduy oder dem ruhigen, bekannten Sucre, dass es mich zum Nachdenken anregte. Ich fragte mich, welche Realität wohl mehr Bolivien abbildet. Die Antwort ist, das beides gleichwertig zu Bolivien gehört. Sei es das Ursprüngliche des Campos (ländliche Gebiete) oder der technische Fortschritt der Grossstädte, beides zählt zu diesem Land. Die Gegensätze geografisch von Hoch- und Tiefland oder eben die Erscheinungsform der Städte im Vergleich zum Campo sind immer wieder faszinierend. Das letzte Kapitel des Trips bildete schließlich das riesige Naturschutzgebiet Torotoro, fünf Stunden entfernt von Cochabamba. Neben den berühmten Dinosaurierspuren, bietet der Nationalpark tolle Wandermöglichkeiten in einem Canyon, wunderschöne Wasserfälle und eine Tropfsteinhöhle. Was mir allerdings in Erinnerung bleiben wird, ist der verzweifelte Versuch, über eine Anwohnerin an Geld zu kommen. Weil die Bank des kleinen Touristenortes im Umbau war, standen wir drei am zweiten Tag ohne Geld da und mussten uns durchfragen, bis wir vor einer Tür standen mit einem angenagelten Paypal-Pappschild. Nach langer Diskussion in gebrochenem Spanisch und mehreren Fehlversuchen über kuriose Internetseiten Geld zu überweisen, hatten wir es Stunden später endlich geschafft der guten Dame den gewünschten Betrag mit dicker Provision auf ihr nie zuvor genutztes Geldkonto in Spanien zu transferieren. Am nächsten Tag konnten wir dann tatsächlich Hotel, Tour und Rückfahrt bezahlen.

 

Weihnachten und Neujahr

Der Heiligabend läuft in Bolivien etwas anders ab. Meine Gastfamilie, bei der ich den ersten Monat verbrachte, lud mich zum Haus der Großmutter ein. Unter dem reichlich mit Lametta beschmückten Weihnachtsbaum standen statt Geschenken, Kisten, beschriftet mit den Wünschen der Kinder. Neben materiellen standen auch imaterielle Wünsche wie „saludad“ (Gesundheit) oder „union“ (Zusammenhalt) auf den Boxen, was mich sehr berührte. Auf die Bescherung mussten die Kids bis zum nächsten Morgen warten. Umso besser, denn so blieb mehr Zeit zum Picana essen. Die traditionelle pikante Suppe mit Gemüse, Maiskolben, Kartoffeln sowie Hühnchen- Rind- und Schweinefleisch, welche inganz Bolivien das Weihnachtsgericht ist. Das wichtigste an Weihnachten ist allerdings das Tanzen. Mit der ganzen Familie tanzt man im Kreis einen Schritt den man mit Hoppsalauf mit Geschwindigkeitswechseln beschreiben könnte. Wer sich es zutraut macht im Kreis einen „rondeo“ (Purzelbaum) unter Applaus der anderen. … Jetzt ratet mal wie oft ich mich über den Boden gewelzt habe, nur um über meine eingeschränkten Tanzküste hinwegzutäuschen. Um 24 Uhr wurde schließlich angestoßen und das erste Mal allen Frohe Weihnachten gewünscht. Vom Familienältesten bis zu mir hatte jeder die Möglichkeit ein paar nette Worte und Wünsche fürs nächste Jahr zu äußern und schließlich gingen die Feierlichkeiten zu Ende.

Weihnachtsstimmung!

Einige Tage später stand Besuch vor der Haustür, denn die anderen Freiwilligen unserer zwölfköpfigen Truppe aus Trier und Hildesheim kamen aus ganz Bolivien angereist, um gemeinsam Silvester zu feiern. Nach einem kleinen Stadtrundgang setzten wir uns zusammen ins Wohnzimmer. Es wurde sich ausgetauscht, viel gelacht und Vorbereitungen für die Silvesternacht getroffen. Besonders an „Año Nuevo“ (Neujahr) in Sucre ist, dass am frühen Morgen des ersten Januars Blaskapellen durch die Stadt ziehen und bekannte bolivianische Lieder spielen. Die Partyleichen stolpern infolgedessen aus den Discotheken und schließen sich dem Schauspiel an. Vor demSchlafen gehen, frühstückten wir noch gemeinsam in der Markthalle „Api con Pastel“, ein sehr typisches Maisspeisengetränk mit käsebefüllter Teigware.

Zwischenseminar und ab nach Peru

Anfang Januar nach den Neujahrfestlichkeiten stand das Zwischenseminar auf dem Programm. Hierbei handelt es sich um eine verpflichtende Veranstaltung für weltwärts-Freiwillige zur Hälfte des Freiwilligendienstes, welche Raum für Austausch bietet und dem Besprechen von Problemen. In einem Ort in der Nähe von Cochabamba waren wir zwölf Freiwillige für acht Tage in einem Seminarhaus untergebracht. Neben interkulturellen Themen vermittelt von unterschiedlichen Referenten, ging es vor allem, um ein Innehalten und Reflektieren in einem gewohnten Umfeld. Wie bereits angesprochen verliefen meine ersten Monate in meinem Projekt nicht optimal. Gründe dafür gibt es mehrere, was mich aber am stärksten beschäftigte war die Tatsache, dass ich vor Ort in Azurduy keinen Ansprechspartner für Rückfragen hatte. Die Fundacion Treveris ist nun mal in den letzten Jahren zu einer Stiftung geworden, die Entwicklungen auf dem Land Boliviens vorantreibt, hierbei allerdings von Sucre aus operiert und keine Mitarbeiter vor Ort in den Kommunen stellt. Durch Gespräche im Zwischenseminar habe ich diese strukturellen Verhältnisse besser verstanden und konnte mich mehr auf die Vorteile fokussieren. In der Praxis bedeutet das, dass ich wenig Begleitung in meinen Aktivitäten erfahre, gleichzeitig die Eigenverantwortung nutzen kann, selbst zu entscheiden, wie meine Arbeit aussieht. Der neue Blick hat für mich viele Dinge vereinfacht, als ich Mitte Februar zurück nach Azurduy aufbrach, aber dazu mehr in der nächsten Rundmail.

kleiner Ausflug (fehlend: Señor Böhler)

Zum Ende der gemeinsamen Woche kam die Frage auf, wie die restliche Zeit Ferien genutzt werden sollte. Zufällig suchten Lina und Magdalena, zwei Mitfreiwillige aus Cochabamba, nach Leuten, die sie nach Peru begleiten, um dort in Cusco eine Freundin abzuholen. Etwas überstürzt sagten Raphael und Ich zu. Fünf Minuten später bemerke ich, dass mein Reisepass im 350 Kilometer entfernten Sucre liegt. Weil die Distanzen hier eben etwas größer sind, war es für mich keine Frage den kleinen Umweg zu fahren. Und so reiste ich am Tag darauf mit dem Nachtbus nach Sucre, die Folgenacht nach La Paz und mit den anderen dreien schließlich über eine Grenzstadt am Titikakasee nach Cusco. So befand ich mich plötzlich einmal mehr in einer Stadt über die ich nichts wusste. Den Namen hatte ich sicher schon einmal gehört, trotzdem überraschte es mich, auf wirklich jedem Plakat eins der bekanntesten Reiseziele der Welt, die Inkastadt Machu Picchu, zu sehen. Es lag nahe den Ort zu besuchen. Nach etwas Recherche wurde uns klar, dass wir nicht die einzigen mit dieser Idee waren. Cusco an sich ist schon super touristisch, aber der Rummel, um die Inkastätte sprengt alle Register. So gibt es zum Beispiel als direkten Weg zu den Hotels, von wo aus man startet, um die Stätte zu besichtigen, nur zwei Zuglinien, für die man Gelder bezahlt, mit denen Familien anderswo einen Monat über die Runden kommen. Wir entschieden uns für den günstigsten Weg und besorgten uns einen Minibus zum nächstgelegen Ort, gefolgt von einer dreistündigen Wanderung an den Schienen entlang. Vorbereitet wie immer, teilten wir uns die Zeit viel zu knapp ein und kamen schließlich im Dunkeln in „Aguas Calientes“ dem Hotelburgenparadies und Ausgangspunkt zum Machu Picchu an. Die Anfahrt an sich war allerdings ein Highlight. Der Macchu Picchu liegt nämlich nicht wie Cusco im Hochland, sondern auf der Andenkette, die sich durchs südamerikanische Tiefland den Weg bahnt. So fuhren wir mit unserem Minibus erst hoch auf kühle 5000 Meter, nur um kurz darauf im Tiefland Bananenpalmen und Zitrusfrüchte bei tropischen 25 Grad bestaunen zu dürfen. Die Tatsache, dass mir die Anfahrt mehr in Erinnerung bleibt, als der Besuch der Inkastadt, sagt schon einiges aus. Nicht, dass der Ort mich nicht in seinen Bann ziehen konnte und stinklangweilig war. Man hat nur das Gefühl etwas Bekanntem zu begegnen. Durch soziale Netzwerke ist das berühmte Machu Picchu Foto allseits bekannt und wenn rechts von dir eine Asiatin das hundertste Foto im dritten Outfit knipst und links eine Menschentraube jubelt, weil ein Franzose seiner Freundin einen Heiratsantrag macht, wirkt die ganze Szene irgendwie gestellt und übertrieben. Wer also die größten Touristenorte auf seiner bucket list abhaken möchte, der findet fünf Stunden von Cusco entfernt sein Glück, mich bewegen aber mehr Orte und Personen, die mir etwas Neues zeigen. Aus diesem Grund ist das Bild auch kein Machu Picchu Klassiker, sondern ein leckeres, frittiertes Meerschweinchen, verspeist in Arequipa unserem letzten Stop in Peru. (fragt mich nicht zu meiner Haarfarbe, Unfälle können passieren!)

Reisen macht hungrig!

Und zum Abschluss etwas Aktuelles

Ich hoffe, ich konnte euch mit meiner Darstellung in die Weihnachtszeit zurückversetzen, aber auch mir fällt es nicht leicht über diese Zeit zu schreiben, da mittlerweile so viel passiert ist. Das Land, welches vorher so fremd war und mich vor Herausforderungen stellte, ist ein Stück weit meine Heimat geworden. Die spanische Sprache, zu der ich viele Fragen von euch erhalten habe, ist mittlerweile ein Werkzeug, mit dem ich ohne nachzudenken umzugehen weiß. Im Ernst, es ist immer wieder erstaunlich, wie man sich mit fremden Leuten ganz normal unterhalten kann und ab und an auf dem Markt gefragt wird: „Wo hast du denn Spanisch gelernt, du sprichst ja wie ein Bolivianer.“ Meine Zeit in Azurduy ist mittlerweile vorbei. Meine Ausreise ist zum Greifen nahe und den letzten Monat werde ich in Sucre in der Geschäftsstelle der Fundacion Treveris verbringen.

auf der Spitze des Sechstausenders und die Sonne lässt sich blicken

Ich bin mal wieder auf Reisen, weil die Schüler in den Winterferien stecken. Die letzten drei Tage waren super intensiv, denn ich traf mich mit Raphael in La Paz, um eine Expedition in Angriff zu nehmen, die wir schon lange geplant hatten. Eine dreitätige Tour zum Huayna Potosi, einem 6088 Meter hohen Berg. Die Tour hat mir inklusive Höhenkrankheit und Schlafmangel alles abverlangt. Am ersten Tag fuhren wir mit einem Guide und drei verrückten Engländern in ein Basislager am Fuße des Berges. Nachmittags hatten wir eine Trainingseinheit auf einem Gletscher, um das Wandern mit Schneeschuhen (ähnlich wie Skischuhe mit Spikes) zu erlernen. Am zweiten Tag wanderten wir samt Ausrüstung auf das höher gelegene Camp. Auf 5200 Metern wurde mir klar, dass mein Körper die dünne Luft nicht gewöhnt war und mich überraschten furchtbare Kopfschmerzen. Wie geplant starteten wir um ein Uhr nachts und mit einigen Schmerzmitteln im Körper zur fünfstündigen Gipfelbesteigung. Die nächsten Stunden in Dunkelheit waren körperlich vielleicht die größte Challenge meines Lebens. In immer dünner werdender Luft ging es Schritt für Schritt den Berg hinauf. Die Zehen und Finger kaum noch zu spüren, vorbei an Steilwänden und mit durchschnittlich vierzig prozentiger Steigung. Das Motto hieß „Nicht aufgeben!“, doch die Wege bis zum nächsten Plateau erschienen endlos. Nach fünf Stunden war es endlich vollbracht. Die Sonne verkündete den Tagesanbruch, wir konnten die Bergspitze sehen, Adrenalin schoss in die Adern und die letzten Meter wurden gemeistert. Das erste und nach diesem Höllenritt vielleicht letzte Mal auf der Spitze eines Sechstausenders. La Paz, El Alto und gefühlt die Welt uns zu Füßen.

Was für ein Gefühl!

 

Hasta Pronto! (Bis bald)

Silas