Sprachlosigkeit – in doppelter Hinsicht!
¡Hola! Liebe Familie, Freunde, Bekannte und Interessierte,
Die Zeit rennt, fast 3 Monate meines Freiwilligendienstes liegen hinter mir. Es ist sehr schwer, über ein Land zu berichten, das man noch gar nicht richtig kennt. Nach 4 Wochen nicht, nach 10 Wochen schon eher, aber auch noch nicht tiefgehend. Alles, was ich im Folgenden beschreibe, ist also alles sehr frisch und mit Vorsicht zu genießen.
Ich bin in einem unglaublichen Land, das so vielseitig ist! Von Kälte bis Hitze, karger Landschaft und grünen Palmen, Trockenheit und Platzregen ist hier alles vertreten. Aber darauf will ich nun genauer eingehen.
Meine Ankunft in Bolivien „Bolivianisch für Anfänger“
Müde von der langen Reise kommen wir Bolivienfreiwillige in El Alto an. Abenteuerlich bahnen wir uns mit einem Kleinbus, unser Gepäck muss auf dem Dach mitreisen, den Weg „runter“ in das auf einer Höhe von 3.600m gelegene La Paz. La Paz ist Regierungssitz, die Hauptstadt ist aber trotzdem Sucre.
Die nächsten 2 Tage haben wir unser Einführungsseminar, in dem wir noch wichtige Tipps und Infos über das Land und für den Freiwilligendienst erhalten. Dabei lernen wir aber auch das Team kennen, das für uns rund um die Uhr Ansprechpartner für alles sein wird. Am ersten Abend werden wir direkt zu einem Ausflug in das „valle de la luna“ mitgenommen. Felsformationen aus Sand und Stein, die an eine nicht bewohnte Mondlandschaft erinnern – hier wurde u.a. ein Star Wars-Film gedreht.
Am nächsten Tag machen wir einen kleinen Ausflug mit dem Teleférico, dem größten städtischen Seilbahnnetzwerk weltweit. Mit einer Streckenlänge von ca. 30 km und zur Zeit 10 Linien ist es u.a. für die Bevölkerung aus El Alto (4100m) möglich, wo die Arbeiter und eher ärmere Bevölkerung wohnt, in nur ca. 15 Minuten nach La Paz zur Arbeit zu kommen – diese zwei Städte verschmelzen momentan durch das schnelle Wachstum miteinander. Normalerweise erwartet man eher reichere Menschen auf dem Berg wohnend, um die bessere Aussicht genießen zu können, ein wenig außerhalb der Stadt zu sein. Die reichere Bevölkerung wohnt aber in La Paz, da dies ca. 500m tiefer gelegen ist und dort somit ein anderes Klima herrscht. Dennoch gibt es auch hier extreme Temperaturschwankungen: Bolivien liegt auf der Südhalbkugel, weshalb hier momentan Frühling ist. Morgens liegen die Temperaturen um die -5 °C, tagsüber, wenn die Sonne rauskommt, erreicht man schon die 20°C-Marke. Wir sind in einem Kloster untergebracht. Anfangs habe ich mich darüber gewundert, warum die Schwestern uns jeweils 7 (Fleece)Decken zur Verfügung gestellt haben, aber nach der ersten Nacht konnte ich es verstehen. Mir war dennoch kalt!
Sprachlosigkeit! Ich bin fasziniert und überwältigt von der Natur, der Landschaft und dem (einfachen) Leben der Bevölkerung, was ich in La Paz bestaunen durfte. Die schwankenden Temperaturen, auch bei einer eisigen Kälte muss die Sonnencreme parat sein. Die Höhensonne brennt hier ordentlich.
Sprachkurs – Hat die Sprachlosigkeit ein Ende?
Relativ bald hieß es dann wieder Kofferpacken, weiter geht es nach Santa Cruz. Wir verabschieden uns von einem Großteil der Gruppe und reisen nur noch zu 7 weiter, da wir in die größeren Städte für einen Monat Sprachkurs aufgeteilt werden, die näher an unseren Projekten liegen. Hier werde ich in einer Gastfamilie für leben. 18h Busfahrt über Nacht. Überlandbusse sind das Hauptverkehrsmittel in Bolivien, um lange Strecken zurückzulegen. Ein Eisenbahnnetz gibt es nicht wirklich, soll aber bald als Verbindung zwischen Pazifik und Atlantik geplant werden.
„Aller Anfang ist schwer!“ Wie wahr dieser Satz doch ist. Noch genauer wird es hier: „Am Anfang war das Wort“. Es ist doch ziemlich schwer, sich in eine anfangs fremde Familie einzuleben, wenn man doch so gut wie überhaupt nichts versteht oder kommunizieren kann – mit meinem Vokabellernen und dem kleinen Sprachkurs im Voraus in Deutschland bin ich doch schnell mit meinen Fähigkeiten an meinen Grenzen angelangt.
Zu Beginn verbringe ich sehr viel Zeit mit meinem Gastpapa Sixto, aber eine Unterhaltung war hier schier unmöglich. Ich wurde im Voraus schon auf den sehr schwer verständlichen Dialekt in Santa Cruz angesprochen, quasi das Bayrische auf Spanisch – entschuldigt liebe Bayern, die das hier lesen – aber mein Gastpapa übertrifft alles Erwartete. Anfangs ist eine Kommunikation nur mit Zeichensprache möglich. Ich koche aber in dem Monat sehr viel mit ihm zusammen, da gewöhnt man sich ein wenig an die Aussprache.
Meine Gastfamilie hilft mir sehr, mich in die bolivianische Kultur einzufinden. So darf ich an meinem ersten Wochenende direkt mit auf eine Taufe. Eine sehr interessante Atmosphäre, da diese erst abends stattfindet. Die Taufe an sich fällt sehr kurz aus, die Familienfeier dauert dafür umso länger.
Das folgende Wochenende steht der 15. Geburtstag einer der zahlreichen Cousinen an. Das Erreichen dieses Alters wird in Bolivien mit einem sehr großen Fest gefeiert (vergleichsweise mit dem 18. Geburtstag in Deutschland), da sich mit diesem Alter die Ansicht von und die Funktion in der Gesellschaft wandelt. Hier lerne ich meine ersten Tanzschritte von bolivianischen Tänzen. Als ich dann um 6 Uhr morgens dann aber doch ein wenig erledigt bin und schlafen gehen will, werde ich sehr verwundert angeschaut – so früh?!
Völlig kurzfristig begleite ich meine Gastfamilie in die Schule des Neffen, er hat eine Tanzaufführung. Meine Erwartungen werden um einiges übertroffen: „festival de la danza“. Jede Klassenstufe (meistens über 100 Kinder) stellt in üblicher Tracht die typischen bolivianischen Tänze vor. Viele Regionen, aber auch Städte, besitzen eigene Tänze, die Kultur und Leben im Alltag und bei Festen widerspiegeln. Tolle Choreographien, schöne Musik und sehr viele strahlende Gesichter, sobald ein Tanz beendet ist, mit dem gebührenden Applaus belohnt. Den krönenden Abschluss macht die Abschlussklasse, mit einem kleinen Feuerwerk und Lichtspielen, ein unglaublicher Auftritt!
Auch in Santa Cruz bin ich von der Kultur überrascht. Ist hier doch vieles anders als in La Paz und es liegen nur ca. 600 km zwischen uns. Santa Cruz liegt nur auf 400m üNN und ist mit fast 2 Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes. Tagsüber ist es sehr heiß. 35°C sind an der Tagesordnung- im Winter!
Bei der Zwischenlandung in Santa Cruz habe ich noch sehr über das Flughafenpersonal gelacht: Mit Winterjacke, Handschuhen, Schal und Mütze eingemummelt bei „nur“ 12 °C um 3 Uhr morgens. Aber auch bei mir stelle ich einen kleinen Wandel im Kälteempfinden fest, sobald es ab und zu nachts mal nur 20°C sind, ziehe ich mir doch schon mal die Fleecedecke bis unter die Nase.
Concepción
Meine neue Heimat, ca. 300km nördlich von Santa Cruz. Hier werde ich das kommende Jahr in meinem Projekt arbeiten. Die Menschen nutzen die Abendstunden, um sich auf der Plaza zu treffen, gemeinsam auszutauschen und Zeit miteinander zu verbringen. Der zentral gelegene Platz ist aber auch ideal dazu geeignet. Zahlreiche Bänke, große schattenspendende Bäume, Gesellschaft – hier trifft man immer jemanden, den man kennt. Die im Barockstil gebaute Kirche ist dem Platz direkt angeschlossen. Allgemein habe ich das Zentrum Concepcións noch nicht wirklich verlassen. Die Schule, in der ich bisher geholfen habe, liegt direkt neben der Kirche. Die Distanz ist hier also sehr überschaubar und die Wege sehr kurz.
Concepción liegt leider im Gebiet der Amazonas-Waldbrände. Die wunderschöne Natur steht in Flammen und Pflanzen, Menschen und Tiere leiden.
Um dieser Situation entgegenzuwirken, hat sich meine Schule „Guadelupe fe y alegría“ bereit erklärt, einen Teil der Klassenräume als Unterkunft bereitzustellen und (freiwillige) Feuerwehrleute aufgerufen, vor Ort zu helfen. Dem Aufruf folgen zahlreiche Männer und Frauen aus ganz Bolivien, aber auch aus anderen Ländern. Während ich da bin, beherbergen wir ca. 200 Feuerwehrleute, was laut Lehrern sehr wenig ist, wenn man mit den vorherigen Wochen vergleiche. Noch dazu wohnen auch noch zahlreiche Helfer in anderen Unterkünften in Concepción, der ca. 10 000-Seelen-Ort ist also sehr gut gefüllt. Alle Lehrer und der ganze Ort helfen mit, um die freiwilligen Feuerwehrleute zu versorgen. Ich helfe auch beim Kochen, beim Sortieren von Kleiderspenden, in der Apotheke, … – eben gerade dort, wo Unterstützung benötigt wird. Es sind schon gewaltige Mengen an Essen, die 3-mal täglich gekocht werden und dazu auch immer sehr fein und typische Gerichte aus der Region. Wir bekommen zahlreiche Spenden, kiloweise Reissäcke, Obst, Fleisch einer ganzen Kuh, das innerhalb kürzester Zeit verspeist wird, …
Alle fleißigen Helfer stellen sicher, dass rund um die Uhr alle Wünsche der Feuerwehrleute erfüllt werden und das noch parallel zum eigenen Beruf!
U.a. läuft der Schulbetrieb beispielsweise (leicht eingeschränkt) weiter. Der Unterricht wurde teils auf den Schulhof oder in die Sporthalle verlegt. Nachmittags helfe ich auch ein wenig in der Schule mit. Ich bereite den kleineren Schülern den Pausensnack vor, mittlerweile beherrsche ich die Zahlen bis 35 im Schlaf – jeder Schüler bekommt genau ein Brötchen oder Obst und die müssen abgezählt werden.
Inzwischen ist der ersehnte Regen gekommen und die Feuer sind überwiegend gelöscht. Die Schule beherbergt nun keine Feuerwehrleute mehr und ich kann in mein eigentliches Projekt starten. Es kommt schnell zur Sprache, dass ich nicht, wie ich anfänglich gedacht habe und worauf ich mich vorbereitet habe, bei der Chor- und Orchesterarbeit unterstützen werde, sondern dass der Wunsch besteht, dass ich Klarinettenunterricht gebe.
Einen Großteil meines Reisegepäcks für einen Besuch in meiner Gastfamilie stellen die 3 Klarinetten der Schule und meine ganzen Notensammlungen dar. Ich soll dort nämlich den Unterricht vorbereiten – auf Spanisch. Dazu soll ich die Klarinetten reparieren und putzen. Da hat schon lange niemand mehr drauf gespielt. Ich eröffne kurzerhand eine Klarinettenwerkstatt auf dem Küchentisch und repariere mit allem, was mir nützlich erscheint:
Küchenmesser und Sekundenkleber, um die Korkstellen wieder anzukleben, Schraubendreher, Wattestäbchen, um zwischen den Klappen zu reinigen. Da sträuben sich mir bei diesem Umgang doch ein wenig die Haare und daraufhin gehe ich erst einmal neues Material für die Klarinetten besorgen: Korkfett; Wischer existieren in dem Musikladen leider nicht, da muss ich dann selbst noch kreativ werden; neue Klarinettenblättchen, die nicht aussehen, als hätten sie einem hungrigen Schüler als Frühstück gedient.
Noch dazu lerne ich fleißig Musikvokabeln – sehr einfach: eine ganze Note heißt einfach „die Runde“, eine halbe Note ist eine „weiße Note“ und eine Viertelnote dann folglich „die Schwarze“. Danke, das ist mir eine große Hilfe!
Etwas zum Schmunzeln…
In Bolivien ist es üblich, dass eine Familie 4-6 Kinder hat (noch vor 30 Jahren waren es ca. 8 – das ist auch der Grund, warum ich bis heute, trotz vieler Familienfeste, noch nicht alle Verwandtschaftsbeziehungen meiner Gastfamilie verstehe). Wenn ich gefragt werde, wie viele „hermanos“ (Geschwister) ich habe, antworte ich wahrheitsgetreu mit „1 hermano“ (im ersten Moment bedeutet das 1 Geschwister, da aber „hermano“ auch gleichzeitig Bruder heißt, ist meine Antwort in diesem Falle ja schon abgeschlossen und muss nicht genauer spezifiziert werden). Die Nachfrage nach „hermanas“ muss ich dann aber verneinen. Daraufhin bekomme ich immer große, verwunderte, mitleidige Blicke.
Für dieses „hermanos-Problem“ hat meine Gastschwester allerdings Abhilfe gefunden: Der Familienkater, der sich offensichtlich magisch von mir angezogen fühlt und ständig meine Nähe sucht, hat helles Fell und ebenfalls blaue Augen. Da ist es doch naheliegend…
Ich werde von allen sehr lieb begrüßt. Die Anzahl an Eltern wächst hier gewaltig: Biologisch nicht möglich; wissenschaftlich nicht belegbar! Bei einem Telefonat stellt sich meine Gastmama meinen Eltern in Deutschland als „meine Mama“ vor. Mein Gastpapa ebenfalls. – Ok. Dann habe ich jetzt also jeweils 2 Elternteile in jedem Land.
Bei meiner Ankunft in Concepción bleibt es aber nicht dabei: Martha, meine Chefin und Mentorin, also liebenswürdiger Ansprechpartner für alles!, bezeichnet mich auch als „ihre Tochter“. – Bilanz: 3 Mütter, 2 Väter
Nächster Tag: Ich werde in der Unterrichtspause im Lehrerzimmer von Martha dem restlichen Kollegium vorgestellt: „Sie ist unsere neue Freiwillige. (…) Seht sie im nächsten Jahr wie eure Tochter an.“ – Damit besitze ich nun über 30 Eltern.
Anfangs ist es mir sehr schwergefallen. Habe ich doch einen Namen und mit diesem spricht man mich für gewöhnlich auch an. Hier lerne ich nun aber viele Varianten kennen, bei denen ich mich auch langsam angesprochen fühle. So bin ich La Paz bei der Hermandad eine „Maaarie“; anfänglich in meiner Gastfamilie eine „Mariiie“, aber langsam reduziert sich die Anzahl der „i“s. In Concepción höre ich nun aber auf alle möglichen Abwandlungen: „Maria“, „Mariä“, „Mary“ und vor allem „Marié“. Wenn ich mich vorstelle (Marie!), korrigiert Martha ganz eifrig: „Jaja, Marié“. Die Sekretärin sagt auch: „Ich weiß ja, dass du eigentlich Marie heißt, aber Marié gefällt mir besser. Ich nenne dich so“.
Noch dazu ist es in Bolivien üblich, dass die Menschen u.a. auch mit ihrer Profession angesprochen werden. Ich bin aber doch sehr überrascht, eines Morgens von den Schülern mit „Profe“ (Lehrerin) begrüßt zu werden.
Ich hoffe, ihr hattet viel Spaß bei der Lektüre und konntet euch ein wenig in Bolivien orientieren. Ein Land, das doch sehr vielseitig und auch im Vergleich zu Deutschland verschieden ist, es gibt auch sehr viele Gemeinsamkeiten! – dazu ein anderes Mal mehr. So viel noch, das Bild, das wir von Bolivien im Kopf haben, trifft nicht zu. Das ist euch wahrscheinlich in diesem Rundbrief auch aufgefallen. Dieses Land ist so unterschiedlich, auch von der Geographie, dass man es nicht mit einer Definition, einem Foto beschreiben kann.
Die Präsidentschaftswahlen in Bolivien sorgen momentan für angespannte Situationen im Land. Da sich hier täglich die Situation ändert, werde ich beim nächsten Mal rückblickend über das Geschehen berichten. Ende offen…
Liebe Grüße über den Atlantik,
Marie