Bolivien: 1. Rundbrief von Lina Nennmann

Von meiner Ausreise bis hin zu meiner Einreise anderswo

Buenas días y muchos saludos mis amigos,

Es ist der 19. November und während ich in meinen Lieblingscafé im Zentrum Cochabambas sitze, realisiere ich, dass meine Ausreise Mitte August aus Deutschland schon unglaubliche drei Monate hinter mir liegt. Aber die letzten drei Monate waren nicht nur eine Ausreise. Sie waren vielmehr eine Einreise in ein wunderbares Land mit unglaublich vielen Facetten, ein Einstieg in so viele neue Freundschaften, das Kennenlernen meines zweiten Zuhauses und zugleich ein Zugang zu so viel mehr als ich mit Wörtern beschreiben könnte. Und neben all dem waren sie der Auftakt in meinen 13-monatigen Freiwilligendienst in Bolivien.

Aber zurück zum Start. Zunächst fängt jeder Neubeginn schließlich mit einem Abschied an. So rückte der 14. August, der Tag meines Abflugs, immer näher und nach stressigem Kofferpacken ging es mit der ganzen Bande und vielen Packungen Ikea Zimtschnecken für die „härteren Tage“, auch schon in Richtung Flughafen. (Letze Woche musste ich leider feststellen, dass die Zimtschnecken nicht mehr gut sind. Ich glaube die schlechten Tage habe ich somit auch hinter mir gelassen.) Bevor wir also in das Flugzeug stiegen und sich schon bald eine erleuchtende Tür voller neuer bereichernder Begegnungen öffnen würde, erfuhren wir durch Zufall beispielhaft was es bedeutet ein Teil von SoFiA e.V zu sein. So lernten wir eine ehemalige SoFiA Freiwillige kennen, die nun zum 50. Geburtstag ihrer Gastmutter, ihr zweites Zuhause in Santa Cruz besuchte, als wir an unserem Gate voller Vorfreude warteten.

Nach 16 Stunden sind wir sieben Freiwilligen vom Bistum Hildesheim und Bistum Trier von der Hermandad in der auf 4000 Meter liegenden Stadt El Alto mit vielen Umarmungen und „Besitos“ (Küsschen) empfangen worden. Der Name „el Alto“, (die Höhe) ist auf jeden Fall von „hoher“ Bedeutung. Während wir die Stadt, welche die Zugspitze mit 700 Metern übersteigt, gezeigt bekamen, hatten doch einige von uns einen kurzen Atem. Die Restlichen kamen spätestens bei dem Karaoke-Abend mit der Hermandad außer Puste. So wurde unsere erste Woche von vielen neuen Eindrücken geprägt. Zum einen wurden unsere Einführungsseminare mit den leckeren Köstlichkeiten der bolivianischen Küche versüßt. Zum anderen besuchten wir wunderschöne Märkte und auch das Mittagessen mit einigen Bischöfen des ganzen Landes hat mir super gefallen. Die Woche verging wie im Flug und so trennten sich unsere Wege nach 7 Tagen.

Im Handumdrehen befand ich mich im Bus Richtung Cochabamba. Nach der klimatisch kalten Stadt „El Alto“ wurde ich hier voller Herzlichkeit in Empfang genommen. Die 600.000 Einwohnerstadt Cochabamba ist nicht nur bekannt für die größte Christusstatur der Welt, sondern trägt auch den Namen „Jardin Bolivias“ (Garten Boliviens). Außerdem ist Cocha beliebt für das beste Essen Boliviens, was ich nur bestätigen kann. Mittlerweile teilt sich nun „Sopa de Mani“ (traditionale Erdnusssuppe) meiner bolivianischen Gastmutter mit Omas Käsespätzeln Platz 1 meiner Lieblingsessen.

Insgesamt durfte ich vier Wochen in meiner Gastfamilie verbringen, bevor ich in mein Projekt umzog. Die Zeit konnte ich nicht nur nutzen, um meine neue Heimat zu erkunden, sondern auch um mich durch täglichen Spanischunterricht schnell mit der Landesprache vertraut zu machen. Einerseits war ich nun mehr auf mich selbst gestellt, andererseits bewirkte dies keineswegs ein Gefühl von Einsamkeit. Die Menschen hier erweitern meine vorherige Definition von Herzlichkeit, Offenheit und Hilfsbereitschaft auf ihre ganz eigene Art. All dies führte dazu, dass ich mich nicht als Fremde gefühlt habe. Ich durfte vom ersten Tag an überall dabei sein und bekam ein Gefühl von Dazugehörigkeit vermittelt. „Claro que si“ gab es natürlich auch Situationen, die neu für mich waren. Jedoch waren sie entgegen meiner Erwartungen keinesfalls Veränderungen im negativen Sinne. Beispielsweise musste ich mich erst an neue Biergeschmackssorten wie „Cerveza Huari con Miel“ (Bier mit der Geschmacksrichtung Honig) und Bier mit Schokoladenaroma gewöhnen.

Auch neue Tanzschritte wurden gelernt und traditionelle Feste gefeiert. Hier, 10.448 Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt, spielt zwar eine andere Musik, herrscht ein anderer Takt und ein anderes Tempo. Doch das Fundament von Spaß und Freude bleibt ganz gleich, unabhängig von Ort und Sprache. Und auch das Lachen kommt nie zu kurz: Ganz ohne Worte ist dies schließlich die schönste Art der Kommunikation. Durch die ganzen neuen ergreifenden Eindrücke und Begegnungen konnte ich es kaum erwarten in meinem Projekt anzukommen. So kam es, dass ich Mitte September, kurz nach dem Tag der Unabhängigkeit Cochabambas, in ein weiteres Zuhause eingezogen bin. Hier wohne ich nun etwas außerhalb des Zentrums auf dem wunderschönen Gelände „Aldea Cristo Rey“. Neben dem Kinderheim, in welchem die 40 Kinder in verschiedenen „Casitas“ wohnen, gibt es für diese, als auch andere Kinder, eine große Schule, einen Kindergarten, einen Schrebergarten, sowie einen atemberaubenden Blick auf die viertgrößte Stadt Boliviens.

In den ersten Wochen konnte ich in meiner zugeteilten „Casita“ die 12 Kinder im Alter von einem bis dreizehn Jahren kennenlernen. Ich verbrachte die Vormittage mit den zwei Kleinsten der Gruppe, Analia und Victor. Die beiden sind auf jeden Fall für jeden Spaß zu haben. Allerdings sind vor allem Victor und ich mittlerweile nicht nur ein eingespieltes Team im Höhlen bauen, sondern auch mindestens genauso gut im gemeinsamen Spanisch lernen. Am Nachmittag fängt meist die tägliche Hausaufgabenzeit der älteren Kinder an. Zugegebenermaßen ist das ein Geben und Nehmen, denn während ich den Kindern vielleicht bei Englisch oder Mathe behilflich sein kann, haben sie viel Spaß meine oftmals nicht ganz fehlerfreien Spanischaufsätze zu korrigieren oder wir lernen neue Wörter auf „Quechua“ (eine von mehr als 34 lokalen Sprachen Boliviens).

Am späten Nachmittag geht es meistens nach draußen zum Basketball spielen. In der Regel endet mein Arbeitstag gegen 17 Uhr. Doch im Wesentlichen fühlt sich das Arbeitsverhältnis vielmehr nach einem familiärem Miteinandersein an. Dennoch ist auch die Arbeit mit Kindern immer fordernd und energieziehend. Aber wenn ich eins im Physikunterricht gelernt habe, dann, dass Energie nicht verloren geht. In diesem Fall ist es mehr noch eine bereichernde Investition in ein Gemeinschaftsgefühl und die Möglichkeit voneinander zu Lernen.

Falls ich nicht in der Aldea aufzufinden bin, bin ich meistens mit Freund:innen unterwegs. So hat es sich ergeben, dass ich oft Salsa Kurse besuche, mich in einem Volleyballverein angemeldet habe und an Wochenenden „Walley“ (eine beliebte Gemeinschaftssportart, ähnlich wie Volleyball) spiele. Des Weiteren wurde ich auch von Huascar, welcher seinen Freiwilligendienst vor vielen Jahren in Trier gemacht hat, zu den Pfadfindern mitgenommen. Darüber hinaus durfte ich ein Wochenende mit der Pastoralgemeinde verbringen. Hier wurde nicht nur viel getanzt und gesungen, sondern auch Weihnachtsgeschenke gesammelt, unter anderem für die Kinder aus meinem Projekt.

Nahezu jeden Dienstagabend gehe ich zum „Tandem“. Dies ist ein wöchentliches Treffen in unterschiedlichen Cafés. Die Idee ist hierbei ein Aufeinandertreffen von verschiedenen Menschen, der Austausch von Sprachen und Kulturen. Außerdem verabrede ich mich oft mit Cochabambinas und wir kochen zusammen. Letzte Woche gab es sogar den guten deutschen „Kartoffelsalat“. Es ist unbeschreiblich, wie sich in so kurzer Zeit so intensive Freundschaften geschlossen habe.

Deshalb konnte ich es kaum erwarten Ende Oktober meinen 20. Geburtstag mit einigen meiner neuen „Amigos“ (Freunde) beim Tandem-Treffen zu feiern.

So langsam komme ich nun zum Ende meines ersten Rundbriefes. Ich hoffe, ich konnte euch einen Einblick geben und freue mich euch an meinen Erfahrungen und Begegnungen teilhaben zu lassen. Schlussendlich bin ich super dankbar und überwältigt, was ich bereits in den letzten drei Monaten erleben durfte. Doch vor allem sind es die kleinen alltägliche Situationen, die meinen Freiwilligendienst so lebenswert machen. Umso gespannter bin ich auf die nächste Zeit und kann es kaum erwarten mich wieder bei euch zu melden. Nach drei Monaten weiß ich, dass Cochabamba sich nicht nur geographisch im Herzen Boliviens und Südamerikas befindet, sondern auch in meinem Herz einen zentralen Platz hat.

Ganz liebe Grüße aus Cochabamba,

Lina