Bolivien: 5. Rundbrief von Lea Möller

¡Querid@s amig@s!

Jetzt ist schon August und für mich geht es zurück nach Deutschland. Somit ist das mein letzter Rundbrief aus Bolivien.

Juni und August

Die letzten Monate habe ich weiterhin in den Projekten gearbeitet. Die Kids aus dem Englischunterricht kennen jetzt die Zahlen bis 20, die Farben, Begrüßungen, Verabschiedungen und können ihren Namen und ihr Alter sagen. Auch wenn es an Aussprache und Rechtschreibung fehlt, ist das für die paar Monate ein echt gutes Ergebnis. Die Musikschüler*innen und ich haben aus Papprollen und Reis einfache Rasseln gebaut und die große Frage „wie viele corcheas (Achtelnoten) passen in einen Viervierteltakt?“ mithilfe von Kreissegmenten gelöst. Gerade von den Kindern in der Musikschule fiel mir der Abschied schwer, es ist doch einiges an Zeit, die wir miteinander verbracht haben.

Ganz anders als der Alltag und somit für mich eine echte Unterbrechung, war der Besuch meiner Eltern Ende Juni. Wir hatten eine sehr schöne Zeit gemeinsam und ich bin sehr froh, ihnen meine bolivianischen Freund*innen und Guarayos gezeigt haben zu können.

Direkt im Anschluss waren die zwei Wochen Winterferien, die ich zum Teil mit Clara und Salome, den anderen Freiwilligen in Santa Cruz, in Rurrenabaque verbracht habe. Das ist ein kleines Dorf im Departamento (Bundesland) Beni, welches am Parque National Madidi liegt und somit das Tor zum Regenwald bildet.

Für uns drei ging es mit Rucksack, Gummistiefeln und Mückenspray bewaffnet für knapp zwei Tage in eine atemberaubende Landschaft. Palmen, Urwaldriesen, Pflanzen in allerlei Variationen, Luftwurzeln, bunte Blumen, morastiger Untergrund, Affengeschrei in der Ferne, Kaimane, die im Flussarm vor dem Camp in der Abenddämmerung schwammen, Aras, die laut kreischend über unseren Köpfen dem Horizont entgegenflogen sowie ein Jaguarbaby, dessen lichtreflektierenden, roten Augen wir bei der Nachtwanderung erblicken durften. Und jede Menge Moskitos, um kein zu romantisiertes Bild abzugeben. Mein persönliches Highlight der Reisen.

Flusslauf am frühen Morgen

 

Am 6. August war der Nationalfeiertag (Bolivien feierte 194 Jahre Unabhängigkeit), der mit zwei Tagen Parade, Reden und fiesta zelebriert wurde. Das Colegio Santa Teresita formierte sich, so wie die anderen in Ascensión und Gesamtbolivien, auf der Hauptstraße an der Plaza und zur schuleigenen Marschmusik defilierten die Schüler*innen und Lehrkräfte in Formation an der mit Flaggen behängten Bühne.

 

Mit Bernardo und anderen Lehrer*innen

 

Mitte August war zudem die Feier der „Virgen de Urkupiña“, die bedeutenste Mariendarstellung im Departamento Cochabamba, welche national gefeiert wird. Jedes Bundesland hat eine eigene Madonna, die wiederum ihr eigenes Fest hat und deren Residenzkirche ein Pilgerort ist. Drei Tage hintereinander (neben dem normalen Schulbetrieb) gab es der Virgen de Urkupiña zu Ehren Musik und Feuerwerk auf der Plaza, dazu eine große Entrada mit Tänzen, vorwiegend aus den Andendepartamentos. Die kulturelle Vielfalt Boliviens ist enorm, allein bei dieser Entrada wurden an die zehn verschiedene Tänze vorgeführt.

Reflektion

Dieses Jahr über musste ich mir manchmal in Erinnerung rufen, dass ich gerade in Südamerika bin, in Bolivien, in einem kleinen Dorf, einfach, weil es sich so selbstverständlich angefühlt hat, hier zu sein. Auch wenn unerwartet Schwieriges, Trauriges und manchmal tatsächlich Unerfreuliches passiert sind (was ich in den Rundbriefen kaum thematisiert habe, also Achtung, dass das kein verzerrtes Bild von meinem Freiwilligendienst abwirft), war es für mich die absolut richtige Entscheidung. Ich habe so viele unglaublich tolle Menschen kennenlernen dürfen, habe auf einem anderen Kontinent gelebt, konnte so viel Neues lernen und so ist mir über meine eigene Kultur und Identität einiges klargeworden. Ich habe so viele unterschiedliche, gute und schlechte Erfahrungen machen können und hatte einfach eine tolle Zeit. Ich habe eine neue Sprache gelernt, habe einen radikalen Perspektivwechsel ins Lehrerinnendasein gemacht und merke, entspannter in meinem Tun und Handeln zu sein. Eine sehr positive, persönliche Bilanz.

Lebensgeschichten

Die Lebensgeschichten sind hier manchmal bewegend und zeigen mir viele Details der Gesellschaftsstruktur auf. Zu dem Thema „globale Gerechtigkeit“ ist bei mir eine persönliche, emotionale Komponente hinzugekommen. Ich kenne auf einmal Schüler*innen, deren Eltern sich nicht alle Schulhefte auf einmal leisten können oder die noch nicht einmal in Santa Cruz waren, einfach, weil die 35 Bolis für das Ticket schlichtweg nicht auftreibbar sind. Ich habe Gipsersatz aus Pappe für die Schienung eines Armbruchs gesehen und kenne Menschen, die Angehörige an simple, heilbare Krankheiten verloren haben.

Einem kleinen Jungen, welcher nach einer nicht richtig behandelten Bronchitis stumm ist, und in der Schule nicht richtig mitkommt, schreibe ich immer im Musikunterricht die Hefteinträge mit Bleistift vor. Mit der Zeit wurden wir ein echtes Team. Er winkt mir stets zu, wenn er mich sieht. Das ist die inkludierende Erziehung hier, in Deutschland hatte ich nie taube oder stumme Klassenkamerad*innen. Und es ist toll zu sehen, wie die anderen Kids mit ihm umgehen und kommunizieren, ihm helfen oder ihn auch wortlos bei einer Streiterei zurechtweisen. Und andererseits wäre eine individuelle Förderung mit ausgebildeten Fachkräften für seine Entwicklung und Ausbildung wahrscheinlich deutlich besser, wie es vielleicht in Deutschland der Fall wäre. Und so wird er hier irgendwie von der Familie und Schulgemeinschaft getragen, da es die Sozialsysteme nicht tun. Und um ein Beispiel des anderen Extrems zu geben: in Santa Cruz habe ich mich mit einem Teenager unterhalten, der dort in einer Gated Community mit SUV, Pool und mehreren Angestellten lebt und zum Studium wahrscheinlich nach Mexiko gehen wird, da dort angeblich die beste Uni sei.

So viele Menschen haben mir hier bewiesen, dass Reichtum nichts mit Geld zu tun hat und vor allem finanzielle Armut und Verwahrlosung komplett verschiedene Dinge sind.

Die bolivianische Großzügigkeit hat mich immer wieder überwältigt. „Mi casa es tu casa“ (mein Haus ist dein Haus) habe ich mehrmals hören dürfen und an vielen Stellen wurde mit mir geteilt – von Wohnraum über Essen bis hin zu Lebenszeit. Jeden Tag nach dem Projekt hat mir eine Bekannte aus dem kleinen Stand, an dem sie Pudding, Empanadas und Trinken verkauft, einen Snack geschenkt. Ein anderes Beispiel von letzter Woche: eine neunjährige Musikschülerin hat zu ihrem Geburtstag einen kleinen Geldbetrag erhalten und lädt mich damit auf eine Pizza ein. Besonders die Kinder habe ich als sehr solidarisch, sich gegenseitig unvoreingenommen unterstützend und stets teilend erleben können.

Marktszene in Ascensión

Abschied

Auch wenn ich immer wieder gedacht habe „genau jetzt in x Monaten sitze ich im Flieger“, sind die letzten Wochen sehr schnell vergangen – Essenseinladungen, nochmal zur Itapemi-Lagune fahren, empanadas machen, damit ich das Rezept nach Deutschland mitnehmen kann. Ein Englischkurs hat eine Überraschungsparty organisiert, mit vom Taschengeld bezahlter Torte, Soda und Popcorn. Die Kinder fragten immer, wann ich wiederkommen würde und ich wusste nie, was ich darauf antworten sollte.

Die Colegio-Lehrer*innen haben ein Kaffeekränzchen für mich veranstaltet und am letzten Abend in Ascensión fand ein großen Doppelfest anlässlich meines Abschied und meines Geburtstages (lieber vorfeiern, anstatt gar nicht!) mit allen Freund*innen und Bekannten statt. Das war richtig schön, einen konkreten Abschluss zu haben und nochmal alle vertrauten Gesichter sehen zu können. Profe Bernardo hat mit seiner Band mehrere Lieder gespielt und die Musikschülerinnen haben mit Profe Rubén drei Stücke vorbereitet.

Zum Abschluss meine persönliche Version vom Gedicht einer anderen Freiwilligen, das auf den SoFiA-Flyern abgedruckt ist:

In meinem Jahr in Bolivien

bin ich so viel Motorrad gefahren

habe ich so viele schlechte Kinderzähne gesehen

habe ich so viel Reis gegessen

wurde ich so oft frisiert

habe ich so viel Musik gehört

hatte ich so viele Mückenstiche

habe ich so viel über Freundschaft nachgedacht

habe ich so oft Flip-Flops getragen

wurde ich so oft umarmt

habe ich so viel an Tafeln geschrieben

habe ich so oft kalt geduscht

wurde ich so oft mit falschem Namen angesprochen

war ich so motivationslos

war ich so glücklich

habe ich mich so frei gefühlt

wie noch nie in meinem Leben.

Ganz herzlichen Dank an alle, die mich während meines Freiwilligendienstes unterstützt haben – Eure Begleitung war mir eine große Hilfe!

¡Muchos saludos, hasta pronto!

Lea

 

Einige der Musikschüler*innen