Litauen: 2. Rundbrief von Marius Moritz

Sveiki,

die letzten 3 Monate gingen schnell vorbei. Sehr schnell. Nun sitze ich an einem Sonntagabend in unserem Wohnzimmer und fasse meine Erlebnisse und Eindrücke hier zusammen. Ich bin nun fast 4 Monate in Litauen und fühle mich sehr wohl. Auch hier ist die Corona-Situation weiterhin angespannt, aber dazu später mehr.

Anfangen will ich da, wo ich beim letzten Mal aufgehört habe. Die Herbstferien hatten gerade angefangen und ich und nutzte die einen Teil der freien Zeit um mit meinen Mitbewohner*innen Kaunas und die Umgebung kennenzulernen. Außerdem schmiedete ich mit Audrone, meiner Ansprechpartnerin im Projekt, und Rima, der Schulleiterin, Pläne für die nahe Zukunft. Von nun an sollte ich 2 Mal die Woche meine Gitarre in die Schule bringen und mit den Schülern deutsche Kinderlieder singen. Des Weiteren verbesserten wir den Plan für die ebenfalls 2 Mal die Woche stattfindenden Deutschstunden, die Corinna, meine Mit-Freiwillige, und ich zusammen halten. Gegen Ende der Herbstferien nahmen die Tochter der Schulleiterin und ihr Mann Corinna und mich mit auf einen Tagestrip an Meer. Erste Station war Klaipeda, die 3. größte Stadt Litauens, die ich nur kurz bei meiner Anreise passiert hatte und nun näher besichtigen konnte. Nach einem Abstecher in ein Museum über die Geschichte Klaipedas, einer Runde durch die ansehnliche Altstadt und einer Stärkung ging es

Tagestrip ans Meer

weiter an den Strand, wo wir den Sonnenuntergang betrachten konnten. Bevor wir uns müde auf den Rückweg machten, fuhren wir noch nach Palanga, was laut Erzählungen eher für Partys und Konzerte bekannt ist als für geschichtsträchtige Architektur. An Allerseelen besucht hier zumindest der katholische Teil der Bevölkerung üblicherweise, wie in Deutschland auch, die Gräber der verstorbenen Verwandten. Es werden Kerzen angezündet und die Gräber verschönert, so verwandeln sich die Friedhöfe in ein Lichtermeer. Man sagte mir, ich solle mir das auf jeden Fall angucken. So machte ich mich mit meinen Mitbewohnern auf den Weg zu einem nahegelegen Friedhof. Die Woche verging schnell und am darauffolgenden Dienstag sollte die Schule wieder beginnen.

Die Betonung liegt auf „sollte“. Dem war nämlich nicht so. Als ich dienstags in die Schule kam, war es ungewohnt ruhig. Man hatte zwar befürchtet, dass die Schule aufgrund steigender Covid-19-Fallzahlen geschlossen werden könnte, doch ich hatte nicht so früh damit gerechnet. Naja, es kam wie es kommen sollte. Wir trafen noch am gleichen Tag Vorbereitungen, um Online-Unterricht durchführen zu können. Also verbrachten Corinna und ich eine Woche zu Hause und bereiteten Online-Unterricht vor. Videos drehen, Dialoge aufnehmen und Arbeitsblätter erstellen. Es gab zwar etwas zu tun, aber der Großteil unserer Arbeit fiel weg. Glücklicherweise hatte ich in dieser Woche Kontakt zum örtlichen Wasserballteam geknüpft und konnte zum Training vorbeischauen. Nach monatelanger Pause tat es sehr gut, sich mal wieder im vertrauten Element mit zwar noch unbekannten aber netten Sportkollegen, zu bewegen. Verdammt anstrengend war es aber auch und wurde schon 2 Tage später durch neue Covid-19-Maßnahmen verboten. Als dann noch bekannt wurde, dass mein französischer Mitbewohner Yannick und ich am vergangen Sonntag beim wöchentlichen Basketballspielen mit anderen Freiwilligen Kontakt zu einer Person mit Symptomen hatten, beschlossen wir, unsere Kontakte weiter drastisch zu reduzieren. Wir etablierten in unserer Wohngemeinschaft 3 gemeinsame Abendessen pro Woche und spielten in dieser Zeit viel Karten. Die Grundschule wurde zwar eine Woche später unter strengeren Hygienemaßnahmen wieder auf gemacht, ich blieb aber aufgrund des Kontaktes noch 3 weitere Tage zu Hause, bis mir das negative Testergebnis des betroffenen Freiwilligen vorlag. Von nun an trugen wir die ganze Zeit im Projekt Maske und desinfizierten fleißig. Auch das öffentliche Leben in Litauen wurde ab Anfang November stärker eingeschränkt. Die Maßnahmen waren mit denen in Deutschland vergleichbar. An das obligatorische Maskentragen hat man sich ja inzwischen gewöhnt. Im Laufe des Novembers spielte sich schnell eine Routine ein. Besonders viel Spaß machte mir das gemeinsame Musizieren und Singen mit den Kindern. Die deutschen Texte verinnerlichten manche schneller, manche langsamer und mussten oft wiederholt werden, aber das ist nebensächlich. Mir wurde klar, dass Musik, auch über Sprache hinweg, schnell als Verbindungsglied und Kommunikationsweg genutzt werden kann. Ein paar einfache in Reihe gespielte Akkorde versetzten einen großen Teil der Kinder in Tanzlaune. Je mehr Spaß die Kinder beim Singen und Tanzen hatten, desto mehr Spaß hatte auch ich beim Gitarrespielen. Auch der Fortschritt der einzelnen Kinder im Deutschen war deutlich zu beobachten und das Unterrichten machte jede Menge Spaß. Der November verging recht schnell. An den Wochenenden machten wir das, was noch möglich war: Ausflüge in die wunderschöne, aber langsam verblassende Herbstlandschaft rund um Kaunas. Viel spielte sich WG-intern ab und es war schwer, neue Kontakte zu knüpfen.

Als wir zusammen mit anderen Freiwilligen am letzten November-Wochenende nach Vilnius in die Hauptstadt Litauens fuhren, malten wir uns die darauffolgenden Wochen wohl anders aus. Doch auch hier kam es, wie es kommen sollte. Wir verbrachten zwei spaßige, kalte und abwechslungsreiche Tage in Vilnius, fuhren Sonntagabends erschöpft zurück nach Kaunas, feierten Corinnas Geburtstag am Montag wegen Covid-19 ohne zusätzliche Gäste und Mitte der Woche zeigte Yannick Symptome. Dass Corinna und ich am darauffolgenden Wochenende auch Symptome zeigten, war wohl die einzige logische Konsequenz unseres Zusammenlebens. Ein Test brachte Klarheit. Wie Yannick zuvor, wurden auch wir positiv auf Covid-19 getestet. Folglich verbrachten wir die nächsten 14 Tage in Quarantäne.

Genug Zeit um Gitarre zu spielen, Bücher zu lesen, sich Gedanken über die Zukunft nach dem Freiwilligendienst zu machen, mit Familie und Freunden zu telefonieren und die Wohnung zu verschönern. Schwierig war nur die Tatsache, dass wir, um Viktors (unser lettischer Mitbewohner), vor einer Infektion zu schützen, das gemeinsame Leben in unserer Wohngemeinschaft auch auf ein Minimum herunterfuhren. Aufgrund der schwierigen Kommunikation mit seinem brüchigen Englisch ist es manchmal schwergefallen Viktor ins WG-Leben zu integrieren. Dass wir nun alle gemeinsamen Aktivitäten eingestellt hatten, trug nicht dazu bei, das zu verbessern. Ich bin froh und dankbar, dass wir alle ohne große Schwierigkeiten bis auf anhaltende Müdigkeit und Unterleibsschmerzen da gut durchgekommen sind.

Pünktlich zu den Feiertagen waren wir aus der Quarantäne raus. Wir backten viel, spazierten einige Male in die Innenstadt und genossen unsere neu gewonnene Freiheit. Es tat gut, mal wieder draußen zu sein. Am 24. wachte ich vergleichsweise früh auf und traf Viktors in der Küche an. Nach ein paar Runden Durak (ein russisches Kartenspiel) begannen wir ein lettisches Gericht für den Mittag vorzubereiten.

Weihnachten in der WG

Ich war zwar von seinen Mengenvorstellungen etwas erschlagen, aber es war sehr lecker. Den Nachmittag verbrachten wir wie üblich in diesen Tagen: kartenspielend und teetrinkend in unserer Küche. Gegen Abend bereiteten wir gemeinsam ein internationales Weihnachtsmenü vor, welches wir abends genossen. An einem der freien Tagen schnappte ich mir mein Fahrrad, welches ich mir Mitte November gekauft hatte und bis dahin nur für den Weg zur Arbeit genutzt hatte und fuhr einige Kilometer aus der Stadt. Unser Haus ist gut an das Fahrradwegnetz angeschlossen, was nicht nur dafür sorgt, dass ich ohne eine einzige Ampel überqueren zu müssen, die knapp 6 Kilometer zur Arbeit fahren kann, sondern eben auch schnell aus der Stadt in die Natur komme. Zu den Fahrradwegen bleibt zu sagen, dass wenn sie existieren, dann sind sie breit ausgebaut und wenn es keinen gesonderten Fahrradweg gibt, dann gibt es keinen. Die Stadt Kaunas hat sich selbst das Ziel gesetzt, die erste fahrradfreundliche Stadt im Baltikum zu sein. An vielen Ecken werden Radschnellwege gebaut und die Radinfrastruktur verbessert. So manche deutsche Stadt kann sich davon was abgucken. An den Tagen nach Weihnachten besuchten wir andere Freiwillige, bevor ich am Montag zwischen den Jahren ein Meeting mit Audrone hatte, um über meine Arbeit im neuen Jahr zu sprechen. Klar war, dass die Grundschule vorerst bis Ende Januar zu bleiben sollte und ich bis auf das Vorbereiten von Deutschmaterialien für das Homeschooling nicht viel zu tun hatte. Alternativ dazu schlug man mir vor, dass ich im benachbarten Kindergarten arbeiten könne. Dieses Angebot nahm ich dankend an und seitdem arbeite ich dort für ein paar Stunden am Tag. Den Jahreswechsel feierten wir aufgrund anhaltend hoher Infektionszahlen wie auch Weihnachten im kleinen Kreis unserer WG. Von unserem Balkon im 7. Stock hatte man einen guten Blick auf das Feuerwerk unserer unzähligen Nachbarn.

Die Feiertage waren schnell vorbei und durch die Arbeit im Kindergarten hat uns der Alltag wieder fest im Griff. Doch eins bleibt, die viele gemeinsame Zeit hat uns vier zu einer eingeschworenen Gruppe gemacht und aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft sind Freundschaften geworden. Darüber, dass das WG-Leben hier gut funktioniert, bin ich sehr froh, jedoch sorgt das auch dafür, dass man die Komfortzone nicht so schnell verlässt um andere Menschen kennenzulernen. Die Wasserballmannschaft trainiert seit Ende Dezember wieder, das aber nur, da sich die Spieler alle selbst isolieren und strenge Hygienemaßnahmen einhalten. Aufgrund dessen wird es mir voraussichtlich erst in ein paar Wochen wieder erlaubt sein, mit ihnen zu trainieren. Währenddessen mache ich 3-mal die Woche Sport, um mich fit zu halten und meine Ausdauer wiederzuerlangen. Viktors begleitete mich manchmal dabei, was die ganze Sache deutlich spaßiger machte und mir die Möglichkeit gab, mehr über sein bewegtes Leben zu erfahren. Leider wohnt er seit Mittwoch nicht mehr bei uns, da sein Vertrag aufgelöst wurde und er nach Lettland zurückgekehrt ist. Das beschert uns zwar mehr Platz im Kühlschrank und ein Wohnzimmer, es ist aber trotzdem kacke.

Noch vor der Quarantäne im Dezember habe ich meine Kontakte in die benachbarte Kolping Universität genutzt und treffe mich seitdem ab und zu mit 2 Studenten, um einfach ein bisschen über das Tagesgeschehen auf Litauisch zu quatschen und ihnen im Gegenzug beim Erlernen der deutschen Sprache zu helfen. Praktischer Nebeneffekt ist, dass ich so auch mitbekomme wie Menschen in meinem Alter über aktuelle Themen, die Regierung und die Politik denken. Ursprünglich war geplant, dass wir uns in Person treffen, jedoch haben wir das vorerst auf Skype verschoben. Meinen Sprachkurs, der auch online stattfindet, verlängerte ich um weitere 12 Wochen, um meine Skills nachhaltig zu verbessern. Auch aufgrund der Tatsache, dass meine Kollegen im Kindergarten nur Litauisch und Russisch sprechen, verbessern sich meine Sprachfähigkeiten im Moment rasant.

Im Projekt arbeite ich entweder nur vormittags oder nur nachmittags. Am Vormittag gibt es üblicherweise einen Spaziergang in den nahegelegen Stadtpark, wo Fangen oder Verstecken gespielt wird, Schneemänner gebaut oder einfach die frische Luft genossen wird. Wenn ich nachmittags arbeite, startet mein Arbeitstag mit einer entspannten Kaffeepause, in der meine Kollegen und ich Materialien zum Basteln oder andere Dinge vorbereiten. Auch dient diese Pause dem Austausch über die litauische beziehungsweise deutsche Kultur, mögliche Aktivitäten in und um Kaunas, die litauische Geschichte und empfehlenswerte Kochrezepte. Wenn die Kinder dann aus ihrem Mittagsschlaf erwachen, wird viel gespielt und gebastelt. 2 Mal die Woche unterrichte ich ein kleines bisschen Englisch. Dabei ist es aber wichtig, dass der Spaß im Vordergrund steht. Auch meine Gitarre ist bei den Kindergartenkindern gern gesehen und auch hier lösen ein paar einfache Riffs oder Akkorde große Tanzlaune aus. Emotionen richtig rüber zubringen ist manchmal aufgrund der Maske schwierig. Ich erinner mich an eine Situation zurück. Ein weinendes Mädchen sprach aufgebracht auf Russisch auf mich ein und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich versuchte ihr mit meinem gebrochenen Litauisch zu erklären, dass alles gut werden würde. Das half aber nicht. Also zog ich für einen kurzen Moment meine Maske nach unten und lächelte sie an. Und plötzlich war die Welt wieder okay. Auch wenn es um die Aussprache mir unbekannter Wörter geht, ist die Maske hinderlich.Obwohl die Arbeit im Kindergarten viel Spaß macht und erfüllend ist, hoffe ich auf eine baldige Wiedereröffnung der Grundschule. Dankbar bin ich für die Flexibilität meiner Projektverantwortlichen, die dafür sorgt, dass ich nicht in unserer Wohnung versauern muss.

Am 13. Januar wird in Litauen den Opfern des Putschversuches von 1991 gedacht. Sowjetische Spezialeinheiten hatten damals versucht, die Macht der Sowjetunion in Litauen wiederherzustellen, was schlussendlich aber nicht funktionierte. Dabei kamen 14 Menschen ums Leben und mehr als 1000 wurden verletzt. An etlichen Gebäuden in der Stadt wehte an diesem Tag die litauische Flagge und viele Menschen trugen Anstecker in den Farben und der Form eines Vergissmeinnicht. Darüber hinaus gab es keine großen Gedenkveranstaltungen aufgrund der hohen Infektionszahlen. Unabhängig davon ist zu beobachten, dass viele Litauer*innen einen ausgeprägten Nationalstolz haben, ohne dabei – bewusst oder unterbewusst – rechte Gesinnungen zu vertreten. Man ist stolz auf die Unabhängigkeit von der ehemaligen UdSSR, die Demokratie, die aufstrebende Wirtschaft, aber auch auf Sportler*innen und andere Berühmtheiten.

Während die Infektionszahlen Anfang Januar noch hoch waren, sinken sie gerade rasant. Das ermöglicht uns, langsam und vorsichtig, wieder ein Sozialleben aufzubauen, nachdem wir seit Anfang Dezember nicht viele andere Menschen getroffen hatten. Auch wenn es nur möglich ist, einen anderen Haushalt zu treffen, genieße ich es sehr, mal wieder unter anderen Menschen zu sein. Nach zwei sehr kalten Wochen mit bis zu -23 Grad und viel Schnee Anfang Januar merkt man langsam, dass die Tage wieder länger werden. In der letzten Woche hat uns das Wetter nochmals ordentlich Neuschnee beschert. So viel Schnee habe es hier in den letzten 12 Jahren nicht gegeben, berichtete man mir. Die Kinder im Kindergarten sind soviel Schnee auch nicht gewöhnt. Auch hier machen sich also steigende Jahresdurchschnittstemperaturen bemerkbar. Die Klimakrise macht´s möglich. Wenn es nicht schneit, ist es hier normalerweise regnerisch. Das ist aber auch kein Wunder bei einem Land, das das Wort „Regen“ (=Lietus) im Namen (=Lietuva) trägt. Die Maßnahmen wurden nun bis Ende Februar verlängert, trotzdem schau ich positiv in die Zukunft. Es kann nur besser werden.

Das soll es jetzt aber auch gewesen sein und Ihr hört voraussichtlich in 3 Monaten wieder von mir.

Danke für´s Lesen!

Grüße aus Litauen

Marius.