Frankreich: 1. Rundbrief von Maria Hill

Coucou!

Immer mehr fühle ich mich hier im Zentrum der Arche de la Vallée in der französischen Rhône-Alpen-Region wie Zuhause. Nun beginnt schon die Weihnachtszeit, meine Ausreise am ersten Oktober kommt mir wie eine Ewigkeit her vor. Dennoch werde ich versuchen, mir meinen Aufbruch nochmal in Erinnerung zu rufen und euch so von Anfang an mit in mein Abenteuer zu nehmen. 

Abschied und Ankunft

Stimmt. Es begann, wie gefühlt immer, wenn man verreisen möchte und einen Anschlusszug erwartet, mit einer Verspätung der Bahn. Unruhiges Bangen, gefolgt von Sprinten über den Trierer Hauptbahnhof, schließlich die Erleichterung, mit meiner Familie und meiner Freundin Lea, allesamt pünktlich auf Gleis 11 Süd angekommen zu sein – und dann doch noch ein paar Minuten zur innigen Verabschiedung zu haben, bevor ich mit meinem Gepäck in den Zug nach Saarbrücken gesetzt wurde. Ein letztes Winken, bis wir uns aus dem Sichtfeld verloren, dann war ich auf mich alleine gestellt. Etwa eineinhalb Stunden später erwartete mich die erste Herausforderung: der Umstieg in den ICE nach Paris. Mit einem Rucksack auf dem Bauch, einem weiteren auf dem Rücken, die Reisetasche in der einen Hand, mein Rennrad (das ich gerne hatte mitnehmen wollen) in einer Tasche in der anderen Hand, fühlte ich mich ein wenig sperrig. Gleichzeitig überkam mich ein Gefühl von Euphorie bei dem Gedanken daran, dass ich nun mit nur so viel Gepäck für ein Jahr aufbreche, wie ich selbst schleppen kann.

Diese sorglose Freude kippte kurz darauf in eine leichte Panik, als eine Schaffnerin mir eine lange Mahnpredigt hielt, mein Fahrrad sei unzureichend verpackt, da Sattel und Lenker aus der Tasche herauslugten. Zum Glück waren wir schon abgefahren, als sie dies bemerkte, ansonsten hätte es zum Fahrgastauschluss kommen können, wie sie mir androhte. Mit einem etwas mulmigen Gefühl versicherte ich mich in Paris angekommen gleich bei mehreren Bahnhofsangestellten, dass mein Fahrradtransport auch wirklich in Ordnung war. Für sie stellte es nicht das geringste Problem dar, Hauptsache in einer Tasche. So saß ich schließlich entspannt im TGV nach Valence, wo ich von meiner Projektstelle abgeholt werden würde, bewunderte die immer schöner werdende Landschaft und erreichte am frühen Abend den Bahnhof. Unverkennbar mit meinem Gepäck wurde ich sogleich als die neue Freiwillige aus dem Getümmel heraus identifiziert und freudig von meiner Ansprechpartnerin Lisa Richard und von Pascal, einem betreuten Mitbewohner, der mitgekommen war, um mich zu empfangen, begrüßt. Nach einer etwa vierzigminütigen Autofahrt erreichten wir unser Wohnheim, das Foyer “La Chaumière”, das von nun an mein neues Zuhause darstellte. Sogleich kamen mir ein Dutzend Leute entgegen, halfen mir beim Tragen, stellten sich namentlich vor, es herrschte ein großer Tumult, der nach einiger Zeit des Durcheinanderredens und -laufens durch den Ruf “à table!” (zu Tisch!) ins gemeinsame Abendessen überging. Der herzliche Empfang und die lebhafte, familiäre Stimmung bewirkten, dass ich mich vom ersten Moment an gut aufgenommen fühlte und die Aufregung, die während der Zugfahrten, in mir vorherrschte, von großer Vorfreude überdeckt wurde.

Eine Situation berührte mich besonders an diesem ersten Abend: Als wir später ein wenig im Wohnzimmer beisammenstanden, rief Lisa mit einem Mal: “Janique, du kannst hervorkommen.” Als ich dem Blick der anderen folgte, sah ich eine ältere, kleine Dame hinter der Glastür hervorlunzen. Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob sie sich trauen sollte, sich zu zeigen. Dann mit einem Mal tappte sie auf mich zu, drückte mir ein selbstgemaltes Willkommensbild in die Hand und umarmte mich kurzerhand.

Etwas erschöpft von der Reise und den Eindrücken, freute ich mich darauf, mich in meinem neuen Zimmer einrichten zu können, bevor am nächsten Morgen mein erster Arbeitstag begann.

Meine Arbeit im Projekt

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich mein Arbeitstag in die Mitarbeit in denWerkstätten (“ateliers”) und in meinem Wohnheim (“foyer”) aufteilt. Mein Wohnheim befindet sich mitten in Hauterives. Von hier aus laufe ich etwa zwanzig Minuten zu Fuß, um das Zentrum der Arche außerhalb des Dorfes zu erreichen. Dort befinden sich zwei weitere der insgesamt fünf Wohnheime der “Arche de la Vallée” sowie alle vier Werkstätten (und eine kleine Kapelle). In den Werkstätten werden ca. 40 Menschen mit geistigen Behinderungen tagsüber beschäftigt. Bis Ende des Jahres werde ich in der Küchenwerkstatt “Cana Sucre” mithelfen. Um 9.30 Uhr beginnen wir immer mit einer kleinen Erzählrunde über die Erlebnisse des Vortages. Dann bereiten wir etwa zu zehnt in der Küche die Vorspeisen für alle Werkstätten oder manchmal auch den Nachtisch vor. Dieses gemeinsame “Werkeln” in der Küche macht mir großen Spaß. Zum einen finde ich es spannend Einblick in die französische Küche zu erhalten, zum anderen merke ich, wie nach und nach eine vertraute Atmosphäre in der Gruppe entsteht. Mit der richtigen Musik kann es schonmal vorkommen, dass sich die Küche für einige Minuten in einen Tanzsaal verwandelt… Nach dem Mittagessen habe ich oft von 14 bis 17 Uhr eine Pause. Im Anschluss bin ich abends bis spätestens 22 Uhr im Foyer eingesetzt, wo wir auch wieder gemeinsam kochen und den Abend meistens ruhig ausklingen lassen.

abendlich kreatives Beisammensein im Wohnheim

Bei der Arbeit sind wir als Mitarbeiter sowohl im Foyer als auch im Atelier verpflichtet, immer eine Maske zu tragen und auf regelmäßiges Händewaschen oder – desinfizieren zu achten. Jeden Morgen und Abend messen wir zudem die Körpertemperatur aller im Wohnheim. Daneben gelten natürlich die auferlegten COVID- Maßnahmen des Staates und der Appell an unsere Eigenverantwortung.

 

Unterbrechung

Kaum eine Woche in Frankreich, musste ich mit meinem gesamten Wohnheim schon in Quarantäne, da bei einem Mitbewohner Corona diagnostiziert wurde. Nach einer Woche strikter Ausgangssperre stellte sich dann heraus, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt hatte. Gerade im Nachhinein war ich jedoch dankbar für diese Zeit, die ich nutzen konnte, um die Menschen, mit denen ich zusammenlebe, intensiver kennenzulernen. Zu dem Zeitpunkt wohnte ich mit acht Menschen mit Behinderung zusammen (Pascal, Maxime, Michèle, Alain, Joel, Laurent, Janique, Dorian) und mit drei Betreuern (“assistants”), davon zwei feste Angestellte (Marion, Léo) und eine Auszubildende (Laurine).

Laurent und sein Affe mit Maske

Mir wurde die Aufgabe zugeteilt, mich schwerpunktmäßig um die Beschäftigung der betreuten Mitbewohner zu kümmern. Dabei blieb mir folgende Erinnerung besonders hängen, die für mich immer einen großen symbolischen Wert behalten wird: Ich hatte mir vorgenommen, genau aufzupassen, wem ich womit eine Freude bereiten könnte und gleichzeitig gemeinsam die Zeit zu vertreiben. So griff ich einen beiläufigen Gedanken von Laurent auf, dass sein Plüschaffe ja auch eine Maske brauche. Aus einem Blatt Papier, das wir lochten, um ein Seil daran zu befestigen, bastelten wir also eine kleine Maske für das Kuscheltier. Es war einfach zu schön mit anzusehen, wie Laurent daraufhin überall überglücklich umherlief, tagelang voller Stolz die Maske präsentierte und sich dabei liebevoll an sein Äffchen schmiegte. Es rührte mich, wie diese kleine Geste des Maskebastelns so viel Freude auslösen konnte.

 

Betreuung und Reflexion vor Ort

Dies war nur ein Beispiel von vielen. Das erste, das mir spontan einfiel, als mich meine Mentorin Catherine bei unserem ersten Treffen fragte, ob ich schon sagen könne, was ich von den Menschen mit Behinderung hier gelernt habe: die große Freude/das Vergnügt-Sein und Dankbarkeit scheinbar ohne großen Grund.

Solche Treffen mit einer Freiwilligenkoordinatorin waren für meinen ersten Monat wöchentlich vorgesehen, um mir das Einleben zu erleichtern und nach einem Monat eine Bilanz mit mehreren Verantwortlichen und mir ziehen zu können. Nun wird meine Betreuung in sich vergrößernden Abständen weitergeführt, wenn ich Bedarf habe, kann ich mich aber auch außerhalb der vereinbarten Gespräche immer an meine Ansprechpartner wenden.

Außerdem findet jeden Montag eine dreistündige Teambesprechung im Foyer statt, in der wir über die Geschehnisse der vergangenen Woche, die betreuten Personen im Einzelnen und über die folgende Wochenplanung sprechen. Den Beginn gestalten wir oft mit einer kleinen spirituellen Runde, einer Geschichte oder Ähnlichem. Insgesamt ist mir aufgefallen, dass Spiritualität bei der Arche eine nicht unbedeutende Rolle spielt, allerdings wird diese strikt getrennt zur Religiosität gesehen. Die Arche als Gemeinschaft mit katholischem Hintergrund empfängt jeden, ganz gleich welchem Glauben er angehört. Der Respekt vor jeder Überzeugung und das gemeinsame Teilen dieser, machen eine der vier Säulen der Arche aus. Daneben steht der Aspekt der Brüderlichkeit: Über eine ausschließliche Pflegeeinrichtung für Menschen mit Behinderung (worauf sich die dritte Säule bezieht: fachliche und menschliche Kompetenzen für eine bestmögliche Begleitung) hinaus, ist die Arche eine richtige Gemeinschaft, die auf dem Engagement aller Mitglieder und großer Gegenseitigkeit beruht. Mich beeindruckt, wie sehr der Wert und die Individualität wirklich  jedes Einzelnen hervorgehoben und unterstützt werden. Bei Entscheidungen, die jeden betreffen, wird auch jeder gefragt, auf die für ihn verständlichste Art.

Was ich auch sehr schön fand:  bei unserer Gedenkfeier an Allerheiligen, wurde jedes verstorbene Mitglied der Arche de la Vallée, in einigen Sätzen so lebendig vorgestellt und gewürdigt, dass ich bei manchen danach das Gefühl hatte, sie selbst gekannt zu haben.

Diese Gedenkfeier hat über Zoom stattgefunden, wie alle Versammlungen mit der ganzen Gemeinschaft der Arche de la Valléé, die ich bisher miterlebt habe und die auf diese Weise im regelmäßigen Abstand von zwei Wochen weiterhin aufrechterhalten werden. Sie bieten, finde ich, immer eine sehr schöne Möglichkeit, sich der Gesamtheit und Dimension der Gemeinschaft der Arche ein wenig bewusster zu werden. Denn aufgrund der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sind natürlich der normalerweise stark vernetzte gegenseitige Austausch mit anderen Foyers, Ehrenamtlichen und Mitfreiwilligen sowie die unzähligen Aktivitäten und die Integration ins Dorfleben schwer zu erkennen. Somit steht auch die vierte Dimension der Arche, die der Öffnung, vor einer besonderen Herausforderung.

Allerdings bietet dies auf der anderen Seite wiederum die Chance, den Fokus darauf zu lenken, in sich zu kehren. In den letzten Wochen haben häufiger Befragungen über das Leben in der Arche stattgefunden, um zu sehen, wie sich das Gemeinschaftsleben der Arche gleichzeitig erneuern und seinen Wurzeln treu bleiben kann. Eine typische Problematik stellt dabei die Erschöpfung der Angestellten dar, die intern arbeiten, also in einem Zimmer in einem der Foyers wohnen, gerade am Wochenende stark gefordert sind und tendenziell Schwierigkeiten mit einer für alle Beteiligten angenehmen Trennung von Beruf und Freizeit haben.

Darüber, genauso wie über so unglaublich viele andere Dinge, Fragen, Erlebnisse und Erkenntnisse, könnte ich nun endlos weiter berichten, jedoch nicht, ohne den Rahmen meines ersten Rundbriefes zu sprengen. Trotz dieser gefühlt viel zu punktuellen Darstellung meiner ersten drei Monate in der Arche de la Vallée, die gar nicht der Fülle an erzählenswerten Momenten und den lieben Menschen, die diese mit mir geteilt haben, gerecht wird, hoffe ich, ihr konntet einen ersten Einblick gewinnen und freut euch auf die kommenden Rundbriefe, die das Bild nach und nach erweitern und abrunden werden!

Ein einschneidendes Ereignis möchte ich noch erwähnt haben: Nachdem ich ziemlichgenau einen Monat niemanden hier getroffen habe, der mehr als drei Sätze deutsch konnte, war es etwas Besonderes für mich, am 31. Oktober einen Freiwilligen aus Norddeutschland (Michel) am Bahnhof abzuholen und in “La Chaumière” als neuen Mitbewohner zu empfangen. Zwar verständigen wir uns seit Beginn an, auch alleine un

In der Weihnachtsbäckerei „Cana Sucre“

tereinander, auf Französisch, doch ich bemerke eine veränderte Wahrnehmung meiner Identität als Deutsche und gemeinsam bringen wir vermehrt unsere Bräuche wie dasNikolausfest, die Adventskranztradition, Plätzchenbacken oder unsere Musik in die Gemeinschaft Arche ein, was auf sehr positives Feedback stößt.

Gleichzeitig ist es echt interessant für mich, überraschende Unterschiede innerhalb Deutschlands, beispielsweise bezogen auf Sprache/Dialekte oder Festivitäten zu entdecken. In diesem Sinne, haltet die Augen offen und die Ohren steif!

Joyeux Noel! (La Chaumière)

Ich freue mich, von euch zu hören!

A bientôt !

Maria

 

 

 

 

 

Pont-en-Royans
Mit dem Rad lässt sich super die Gegend erkunden: