Ukraine: 4. Rundbrief von Samira Christmann

In diesem letzten Rundbrief erzähle ich von meinen restlichen zwei Wochen in der Ukraine, bis Corona uns Nachhause schickte und verabschiede mich nun leider wirklich von Euch Leser*innen. Hier ein kleiner Zusammenschnitt: Ein abruptes Ende ohne persönlichen Abschied. Was alles noch hätte passieren sollen. Nichts läuft nach Plan. Wundervolle Menschen. Im Krieg an der Ukrainisch-Russischen Grenze herrscht noch immer Krieg, sterben Menschen. Wo ist das geltende internationale Recht?  Wie lange soll das noch so weiter gehen? Ich bin privilegiert und dankbar.

Die Ukraine ist mir ans Herz gewachsen und ich habe dort ein zweites Zuhause gefunden. Diese Zeit werde ich nie vergessen!                                                                                                                                                                 

Wenn du direkt von meinem dritten Rundbrief kommst, dann kannst du hier genau weiter lesen, ansonsten empfehle ich Dir den vorherigen noch zu lesen, damit Du mit mir gemeinsam in meine Materie einsteigen kannst, denn Jasmin und ich kamen gerade aus Rumänien vom Zwischenseminar und zuvor hatten mich meine Mama und meine Schwester besucht … Auf ein aller letztes Mal. Viel Spaß! 🙂

Der schicksalhafte Montag, 16. März 2020, der uns einen Strich durch die Rechnung zog

… Und ab hier kann ich quasi schon sagen, dass es vorbei war. Zwar noch nicht ganz, denn es sind noch fast ganze zwei Wochen für uns in der Ukraine und zu dem Zeitpunkt war es noch nicht denkbar, aber theoretisch war es das mit meiner „offiziellen“ Friedensdienstzeit in der Ukraine. Denn ein Friedensdienst hört niemals auf, er wird mich für immer auf meinen Wegen des Lebens mal in ausgeprägterer mal in weniger ausgeprägterer Form begleiten.                                                                                                                                                                    In der Woche des „Ankommens“ passierte nicht viel, außer unser normaler Arbeitsalltag und dass wir mit ein paar Maltesern in ein Altenheim gefahren sind, um dort gespendete Bücher abzugeben. In der zweiten Märzwoche unternahmen Jasmin und ich noch einiges mit Freunden. Und dienstags haben wir in unserem Englischkurs in der Caritas mit den Kindern einen Film angefangen. Dieser handelte von einem Hund, der von zwei Kindern aufgenommen wird, obwohl die Mutter dagegen ist. Die Kinder werden dann durch einen unglücklichen Zufall gekidnappt, aber ihr zugelaufener Hund startet eine Rettungsaktion. Warum ich das erzähle ? Das wird später noch wichtig.                                                                          Dann fiel auch schon ein Treffen der Malteser aufgrund von Corona aus, bei diesem Treffen hätten wir mit der Planung der Sommerzeltlager in den Karpaten begonnen. So langsam bekamen wir immer mehr E-Mails vom Auswärtigen Amt zum Thema Corona. Nun war schon klar, dass der nächste Deutschclub am Sonntag ausfallen würde und auch in meiner Tanzgruppe, dass wir uns bald nicht mehr zum Tanzen treffen könnten. Freitags stand fest, dass die Armenküche schließen wird und auch das Malteser Büro und die Caritas ab der nächsten Woche. Genauso wie die Schulen, Kindergärten und Unis. Und dann kam auch schon der schicksalhafte Tag, Montag der 16. März, an dem das Malteser Büro für die Öffentlichkeit schon geschlossen war, ich aber trotzdem hinging, um zu erfahren, wie es vielleicht weiter gehen würde und das Bundesamt für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit beschlossen hatte, dass alle weltwärts Freiwilligen ihren Freiwilligendienst abbrechen müssen …

Ein abruptes Ende ohne persönlichen Abschied

Was ich an der ganzen Sache so schade finde, ist das abrupte Ende von allem. Jasmin und ich konnten uns nicht persönlich von unseren Freunden aus dem Deutschkurs jeden Dienstag verabschieden, nicht von den Menschen aus dem Deutschclub jeden Sonntag, von Andrji und Pani Roma aus der Armenküche, von meinen Freundinnen aus den Tanzkursen, von unseren ganzen Malteser Freunden, von den Mitarbeitern der Caritas, von den Beeinträchtigten in der Caritas, … Zum Thema Film: Mit den Kindern im Englischkurs mussten wir den Film pausieren, weil er zu lange für die Stunde war. Wir haben Pause an einer gefährlichen Stelle gemacht, als der Hund ganz nah an den Kindern war und versucht hat sie von den Kidnappern zu befreien. Dann war aber auch schon klar, dass wir das Ende des Films verschieben mussten, aufgrund von Corona. Aber wir konnten das Ende gar nicht mehr gucken und wissen jetzt nicht ob der Hund die Kinder retten konnte! Das tut mir für die Kinder leid und auch von ihnen konnten wir uns nicht persönlich verabschieden.

Ich war so motiviert nach dem Zwischenseminar

Auf dem Zwischenseminar haben wir uns alle gegenseitig Mut machen können für die zweite Hälfte unseres Freiwilligendienstes, wir haben uns etwas vorgenommen was wir dann noch erreichen wollten, zum Beispiel die Sprache besser lernen, uns mehr integrieren, … Ich war so motiviert. Wir haben auch zum Thema Abschied einen Zettel bekommen, auf dem Fragen standen: Wie will ich meinen Abschied gestalten ? Will ich eine Party feiern ? Wo muss ich nochmal hin ? In welchem Restaurant will ich nochmal gegessen haben ? … Diese ganzen Entscheidungen wurden uns einfach abgenommen, nichts davon konnten wir in der geplanten Form umsetzen.

Was alles noch hätte passieren sollen …

Zwei Freunde von Jasmin wollten in der Woche kommen, als wir zurück mussten. Die Deutschen Malteser aus dem Saarland die eigentlich jedes Jahr um Ostern herum mit Hilfsgütern kommen, kamen nicht. Ich habe meinen 20. Geburtstag nicht wie geplant in der Ukraine, sondern Zuhause gefeiert. Die Eltern und Tante und Onkel von Jasmin wollten im Mai noch zu Besuch kommen. Wir hatten vor mit ein paar Freiwilligen im Sommer in Rumänien am Meer Urlaub zu machen. Jasmin und ich wollten noch nach Odessa am Schwarzen Meer. Ende Juli hätte das Zeltlager der Malteser für Kinder und Jugendliche in den Karpaten stattgefunden. Dann Anfang Juli das Zeltlager für Kinder aus dem Kriegsgebiet aus Mariupol. Ich war in der Ukraine, aber kein einziges Mal in den Karpaten! Eigentlich wollten mich meine Schwester und meine Mutter nochmal besuchen kommen. Ich hätte so gerne den Frühling und den Sommer in der Ukraine miterlebt. Jasmin und ich haben nicht die neuen Freiwilligen am Bahnhof abholen können, sie nicht mit der Ukraine, Ivano-Frankivsk und der Kultur vertraut machen können. Wir haben keine Abschiedsparty gefeiert und haben auch nicht wie geplant unsere letzte Etappe in Budapest gemacht. Ich habe das Gefühl mir wurde die Möglichkeit einfach entrissen, noch ganze fünf Monate Erfahrungen zu sammeln, noch viel neues zu lernen.

Nicht alles läuft nach Plan

Einerseits bedauere ich das sehr. Aber andererseits habe ich es mittlerweile akzeptiert. Natürlich hätte ich noch viel erleben können. Hätte hätte Fahrradkette. Aber so funktioniert das Leben eben nicht. Das Leben bietet so auch andere Wege. Ich finde planen gut und wichtig, aber diese Situation zeigt wieder, dass nur weil ich etwas so plane, es nicht immer so passiert, denn das Leben spielt noch mit. Und wenn ich überlege was bei mir seit Mitte März hier Zuhause passiert ist, dann ist das auch ganz schön viel. Das Leben bleibt nie stehen, es geht immer irgendwie weiter. Jedenfalls durfte ich auch aus diesen verrückten Geschehnissen viel für mich mitnehmen. Dass eben nicht alles nach Plan läuft und das muss es auch nicht. Dafür eröffnen sich oft andere großartige Wege und Möglichkeiten.

Erfahrungen von großem Wert

Ich bin dankbar für diese Erfahrung. Weil ich so viel gelernt habe, viel über mich selbst und die Welt. Ich bin dankbar dafür, dass es die Möglichkeit der Freiwilligendienste im Ausland gibt und hoffe, dass sie noch lange bestehen wird. Ich danke allen Ukrainern, die so offenherzig auf mich zu gekommen sind, ohne zu wissen wer ich bin, die immer hilfsbereit waren, egal um was es ging. Ein besonderer Dank gilt meinem Chef Roman, der immer für mich da war und sich super um mich und Jasmin gekümmert hat. Allen Maltesern, ob Jugendlichen oder Mitarbeitern die so herzlich zu uns waren. Den Caritas Mitarbeitern, ganz besonders Igor, der für uns ein toller Ukrainisch Lehrer war und immer mit offenen Ohren und Augen auf uns aufgepasst hat.

Ich hätte die Möglichkeit gehabt, zu viele Menschen haben sie nicht

Wenn ich mir vorstelle: Ich bin in ein mir fremdes Land gegangen, ohne irgendwelche sprach-, politisch-, kulturellen- oder geschichtlichen Kenntnisse. Ich kannte mich nirgendwo aus. Es war für mich nicht leicht. Klar zu kommen mit einer anderen Sprache, anderen Kultur, ohne meine bekannte Umgebung, meine Muttersprache, meine Freunde, meine Familie. Und wenn ich mir nun vorstelle, dass ich auf eine Mehrheit von Menschen getroffen wäre, die mir nicht geholfen hätte, denen es egal gewesen wäre wie es mir geht, die mich ausgegrenzt hätten, … dann wäre ich wohl ganz bald wieder zurück nach Deutschland gefahren. Und ich hätte die Möglichkeit gehabt, ich hatte das Geld, ich habe das ganze „nur“ freiwillig gemacht und hätte abbrechen können, wann immer ich wollte. Und es gibt leider viel zu viele Menschen auf dieser Erde, die diese Möglichkeit nicht haben. Mir ist das nun viel bewusster und ich kann mich zu einem gewissen Teil besser darin hineinversetzen, weil ich es selbst in einer gewissen Form erlebt habe.

DANKE Euch wundervollen Menschen

Ich habe definitiv gelernt dankbarer zu sein, für alles was ich in meinem Leben habe, für meine Familie, die an diesem gelungenen Friedensdienst einen großen Teil dazu beigetragen hat. Ich danke meiner Mama, meiner Schwester, meinen Brüdern, meiner Tante, meiner Oma, meiner ganzen Familie, dass ich bei Euch so sein darf, wie ich bin, dass Ihr mich in allem unterstützt und immer für mich da seid, ich liebe Euch von ganzem Herzen! Danke an meinen Freund, für den es vielleicht manchmal ein bisschen schwerer war als für mich, dass Du trotz allem zu mir gehalten hast! Danke an meine Freunde und Verwandten! Ich hatte alle Briefe und Karten von meiner Verabschiedungsfeier mit in die Ukraine genommen und jeder einzelne von Euch hat mir Kraft und Mut in dieser Zeit gegeben und ich habe oft an Euch gedacht! Danke an meine Mitfreiwillige Jasmin, gemeinsam haben wir so viel geschafft und so viel erlebt, ohne Dich hätte ich es mir kaum vorstellen können! Danke an meine Entsendeorganisation, an alle Mitarbeiter*innen und Teamer*innen, ich habe mich bei Euch aufgehoben und sicher gefühlt, sodass Ihr mir meinen Freiwilligendienst erleichtert habt. Ich hätte mir keine bessere Entsendeorganisation vorstellen können!

„Niemals wieder Krieg“ von wegen! 

Ich kann nun viel mehr Wertschätzen. Dass wir es in Deutschland auf eine gewisse Art und Weise gut haben. In der Ostukraine herrscht einfach seit sechs Jahren Krieg, jeden Tag sterben Ukrainer und Russen. Seit Beginn des Krieges 2014 starben 13.500 Soldaten und 3.300 Zivilisten. Es gab 10.000 verletzte ukrainische Soldaten und 1.000 verletzte Zivilisten. Es gibt 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine. Die Annexion der Krim ist seit 75 Jahren, nach dem 2. Weltkrieg (nachdem es hieß: „Niemals wieder Krieg“)  die erste  Völkerrechtsverletzung in Europa. Wo ist hier das geltende internationale Recht ? Welche Regel gilt für uns alle ? Und es ist bis heute kein Ende in Sicht. Ich kenne eine Frau, die ihren Mann in diesem Krieg verloren hat, ich kenne eine Frau, dessen Mann momentan noch in diesem Gebiet kämpft und bei dem es nicht sicher ist, ob er überhaupt jemals zu seiner Familie zurück kehrt …

Sei dankbar

Zum Abschluss kann ich nur wiederholt sagen, dass ich in diesen acht Monaten viel gelernt habe. Und für alles dankbar bin, auch für die schlimmen Momente, in denen ich mich allein gefühlt habe und nur nach Hause wollte und es weh getan hat, alles und alle zu vermissen. Ich bin dankbarer und wertschätzender gegenüber vielem. In der Ukraine gibt es beispielsweise keine Krankenversicherung, das heißt du brauchst Geld und wenn du das Geld nicht hast, dann hast du ein Problem. Damit will ich sagen, wie schon erwähnt, dass es uns hier gut geht. Das soll nicht heißen, dass in Deutschland alles perfekt ist, das nicht. Und auch hier gibt es genug Menschen denen es nicht gut geht. Und auch hier gibt es vieles an dem wir noch arbeiten und etwas verändern müssen. Aber wir haben zumindest keinen Krieg.

Wie lange wird das noch so weiter gehen? Wo liegt das Problem?           

Und was ich dann wiederum nicht verstehe, wieso wir Menschen uns das Leben dann auch noch gegenseitig schwer machen müssen. Wenn ich mir vorstelle wie viele Menschen schon für Frieden auf dieser Welt gestorben sind und wie viele noch sterben werden, dann frage ich mich immer, wie lange wird das noch so weiter gehen ? Wo liegt das Problem ? Ich habe das Gefühl seit Beginn der Menschheitsgeschichte geht es immer nur um dasselbe in Konflikten: Wer die meiste Macht und das meiste Geld besitzt, in jeder Zeit Epoche und in jedem Land tritt dasselbe immer wieder auf, nur in anderen Formen, Farben und Gestalten. In jedem Land gibt es einen Nord-, Ost-, Süd- und Westteil, die sich gegenseitig voneinander abgrenzen. Und manchmal macht mich das so fertig, dass ich nicht mehr klarkomme. Wir Menschen beschäftigen uns mehr mit dem was uns voneinander trennt:  Kontinente, Landesgrenzen, Sprachen, Hautfarben, Herkünfte, Ethnien, Altersunterschiede … Obwohl es so viel mehr gibt was uns Menschen auf der ganzen Welt verbindet, darauf sollten wir uns konzentrieren. Wir wollen alle, dass wir gesund sind, dass wir glücklich sind, dass wir unsere Träume verwirklichen, dass es unseren Engsten, Familien und Freunden gut geht. An diesem Konstrukt verstehe ich diesen einen Punkt nicht: Wenn ich mir überlege bei welchen Menschen ich mir überall wünsche, dass es ihnen gut geht. Dann hat jeder einzelne von diesen Menschen wieder Menschen, von denen er will, dass es ihnen gut geht und wenn wir dieses Netz immer weiterspannen, dann sind wir irgendwann alle auf der ganzen Welt miteinander verbunden und wollen doch im Endeffekt nur, dass es uns allen gut geht. Also wo liegt das Problem ? Ich versteh´s einfach nicht! Und ich fühle mich oft hilflos, weil ich nichts an dieser Situation ändern kann und das macht mich traurig.

Dennoch glaube ich fest daran, dass wir alle gemeinsam etwas verändern können. Denn wenn 7,8 Milliarden Menschen auf dieser Welt sagen, dass sie nichts verändern können, dann ist es ja klar, dass daraus nichts wird. Aber wenn wir alle achtsam, hilfsbereit und respektvoll miteinander umgehen, uns füreinander einsetzen, dann sehe ich großes Potenzial. Ich will Mut machen. Mut Stärke zu zeigen. Lasst uns gegenseitig Mut machen, uns unterstützen und die Welt zu einem schöneren Ort machen.                                                                                          Ich glaube Liebe ist der Schlüssel zu vielen Problemen auf dieser Welt.

 

Die Ukraine ist mir ans Herz gewachsen und ich habe dort ein zweites Zuhause gefunden. Diese Zeit werde ich nie vergessen!

DANKE für Euer Interesse, Eure Zeit die ihr in das Lesen meiner Rundbriefe gesteckt habt, das bedeutet mir viel!

Danke für alles, Merci beaucoup, Thanks a lot, Grazie mille, Gracias, شكرا, متشکرم, Teşekkür, Köszönöm, Mulțumesc, Спасибо … !

 

                    

 

Дуже дякую!

Eure Samira 🙂