Bolivien: 3. Rundbrief von Julia Sophie Ecarius

Bunt, Chaotisch und so viel erlebt

– kommt mit auf die Reise durch meine letzten Monate


Beim Zwischenseminar in Cochabamba sollten wir unsere vergangenen 7 Monaten grafisch darstellen. Dabei habe ich festgestellt, dass mein Plakat, trotz einiger auch schwieriger Zeiten, unglaublich bunt, chaotisch, und vor allem voll geworden ist. Ich habe so viel erlebt, unglaublich viel gelernt und habe noch immer eine wunderbare Zeit hier. 

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Aber fangen wir doch im Februar an: 
Neues Schuljahr
Seit dem 1.Februar hat das neue Schuljahr angefangen mit vielen Veränderungen für meine Arbeit in der Schule. Nun beginnen wir mit den neuen Erstklässlerinnen noch einmal ganz von vorne, das heißt, es wird nun von neuem Rechnen, Schreiben und Lesen gelehrt. Und so lernten die Schülerinnen die ersten Zahlen, Buchstaben, Wörter und Lieder und langsam werde ich auch mit der Schreibschrift, die ich seit der Grundschule vergessen habe, wieder vertraut. Insgesamt gestaltet der Unterricht sich sehr lebendig, es wird Obst zu den passenden Buchstaben mitgebracht und viel gemalt. Oft helfe ich der Lehrkraft dabei, die zu lernenden Buchstaben in die Hefte zu kopieren oder gestalte das eine oder andere Tafelbild. Mit den Namen werde ich von Tag zu Tag besser, auch wenn ich mir noch nicht alle 90 Namen der Schülerinnen (3 Klassen a 30-34 Kinder) merken kann. Man merkt allerdings, dass die Kinder noch zappeliger und ungeduldiger sind. Bis sich alle Schülerinnen nach der Pause im Klassenraum auf ihren Plätzen befinden, können zum Beispiel einige Minuten vergehen. Und obwohl es mir schwergefallen ist, meine alten Schülerinnen nicht mehr im Unterricht zu sehen, haben die neuen Erstklässlerinnen schnell einen Platz in meinem Herz gefunden. Auch meine Aufgaben in der Secundaria haben sich aufgrund personeller Veränderung gewandelt, ich bin nun für das Fotokopieren von Cuardernos (Heften), Tests, Elternbriefen, Arbeitsblätter etc. zuständig. Die Aufgaben, die ich nebenbei noch im Sekretariat übernehme, fallen mir nun deutlich leichter, da nicht mehr alles neu ist und ich weiß, wie alles funktioniert. Seit dem neuen Schuljahr bekommen die Kinder auch jeweils ein Schulfrühstück bestehend aus Joghurt, Saft und Keksen ausgeteilt, was ich oft in Kisten für die jeweiligen Klassen einsortiere.



Carnival 
„Fassenacht“, wie man in meiner Heimat sagt, wird in Bolivien sehr groß gefeiert. So ging es bereits am Sonntag, dem 5.Februar, zwei Wochen vor den eigentlichen Feiertagen, nach der Kirche los. Nicht nur gibt es beeindruckende Umzüge, auf denen mit wunderschönen Trachten die traditionellen Tänze vorgeführt werden, sondern vor allem gibt es in der Vorfastnachtszeit eines: ganz viele Espuma (Schaum-) und Wasserschlachten auf den Straßen. In Potosí kann man sich das Ganze wie die Vorweihnachtszeit vorstellen, es wird auf den Carnival hingefiebert. Und so musste auch ich mich täglich auf eine Wasser- oder Schaumdusche gefasst machen, da nur ältere Personen und ganz kleine Kinder verschont werden. 
Natürlich haben wir auch in der Grundschule Carnival gefeiert, dann fand kein Unterricht statt und die Kinder kamen in „Ropa de Calle – Straßenkleidung“ oder verkleidet zur Schule. Der Schulhof verwandelte sich zu einem Schlachtfeld aus Schaum, auf dem die Kinder sich austoben durften. Und ich durfte bestimmt 100mal den Kindern Schaum aus den Augen wischen. Es wurde viel gelacht und alle konnten sich austoben. 
Freitags stand dann die Entrada der Schulen an, auf mehreren gesperrten Straßen fand ein riesiger Umzug statt, bei dem alle Kinder der umliegenden Schulen mittanzten und gegeneinander antraten. Zusammen mit den Kindern der Secundaria durfte ich unsere Schule vertreten. Nach 4h Tanzen und völlig durchnässt von Schaum und den Wasserbomben kamen wir ins Ziel. Es war eine megatolle Erfahrung, einen traditionellen Tanz zu lernen und dann in der passenden Tracht diesen zusammen mit den Kindern vorzuführen. Einige Wochen später erfuhren wir sogar, dass unsere Schule den Wettbewerb gewonnen hatte.
Noch am gleichen Abend ging es zusammen mit Domi, meiner Arbeitskollegin und ihrer Familie nach Oruro, wo ich auch andere Freiwillige aus Cochabamba wiedertraf. Carnival in Oruro kann man mit dem Carnival von Rio de Janeiro vergleichen. Einfach unbeschreiblich!!!!! Zwei Tage wird gefeiert, die Entradas fangen um 7:00 Uhr morgens an und enden am nächsten Tag zur gleichen Zeit, wobei hinter der letzten Gruppe und nach der Reinigungsfirma bereits die erste Gruppe wieder beginnt und das Ganze noch einmal bis in den Morgen des nächsten Tages weitergeht. So konnten wir rund um die Uhr tolle Tänze und beeindruckende Kostüme bestaunen und die Stimmung war bombastisch. 

Carnival in Potosi und Oruro


Zwischenseminar 
Nachdem ich die restlichen Feiertage in Cochabamba verbracht hatte, fing am 24. Februar unser Zwischenseminar in Vinto, einen Stadtteil von Cochabamba an. Wir (die Freiwilligen aus dem Bistum Hildesheim und die SoFiA Freiwilligen) sprachen über das vergangene halbe Jahr, über die Zukunft im Projekt aber auch über wichtige generelle Dinge wie zum Beispiel die Rolle der Frau, die politische und gesellschaftliche Situation Boliviens oder unsere Privilegien, die wir als deutsche Freiwillige hier besitzen. 
Privilegiert sein bedeutet nicht nur, dass ich eine Krankenversicherung habe, die alle medizinischen Kosten übernimmt, oder bei Krisen aus dem Land geholt werde, sondern auch dass viele andere diese Privilegien nicht haben und Aufgrund dessen Diskriminierung erfahren und so strukturell und im Alltag ausgegrenzt werden.
Auch gerade für mich hier in Bolivien, ist es wichtig zu wissen, was die Kolonialzeit und somit die Europäer in der Vergangenheit angerichtet haben, da man bis heute immer noch die Auswirkung mitbekommt. Potosí war einst durch seine ertragreiche Mine eine der reichsten Städte Südamerikas. Beim Silberabbau in der Kolonialzeit wurden die Stadt und die Menschen ausgebeutet, dies kostete Tausende von Menschenleben vor allem aus der indigenen Bevölkerung. Während dies Spanien Reichtum brachte, ist Potosí heute stark von Armut betroffen und gilt als einer der ärmsten Städte Boliviens. Es ist wichtig, dass wir uns als Europäer bewusst sind, was unsere Vorfahren veranstaltet haben und uns dieser Verantwortung stellen und lernen, damit richtig umzugehen.Aber trotz dieser ernsten Themen, die uns in den folgenden Tagen noch sehr beschäftigten, verbrachten wir eine tolle Zeit zusammen, es wurde viel gelacht und lecker gegessen. Es tat gut, sich mit Freunden auszutauschen, die dasselbe erleben, auch wenn jeder seine individuelle Geschichte hat. Zudem hatten auch die bolivianischen Freiwilligen, die ihren Freiwilligendienst im vergangenen Jahr in Deutschland im Bistum Hildesheim oder im Bistum Trier absolviert hatten, am gleichen Ort für drei Tage ihr Rückkehrseminar. Und so unternahmen wir zusammen eine Wanderung, es gab bereichernde Gespräche am Esstisch und lustige gemeinsame Nächte mit Unterhaltungen aus einer Mischung aus Deutsch und Spanisch.  Bevor es wieder nach Hause ging, besuchten wir noch zusammen mit einigen Bolivianern zu der Christusstatur  und dann saß ich auch schon wieder im Bus nach Potosi.

Zwischenseminar in Cochabamba


Besuch aus Deutschland 
Pünktlich zum „Dia de Padre“ (dem bolivianischen Vatertag) besuchte mich mein Vater und so fuhr ich nach La Paz um ihn nach 7 Monaten wieder zusehen. Natürlich war Lina auch dabei und es war wie Weihnachten, als wir Tonnen an Süßigkeiten, selbst gebackene Nussecken von Linas Oma und Geschenke auspackten. Nach einem gemütlichen Wochenende in La Paz fuhren Papa und ich nach Rurrenabaque um die Selva Boliviens zusehen. Im Gegensatz zu der Pampa, die ich bereits im Dezember besucht habe, ist die Selva weniger touristisch, eher unbelasteter und naturbelassener. Allerdings konnten wir trotzdem einen Affen entdecken und die Loros (Papageien) beim Fliegen beobachten. Wir wanderten einige Stunden durch den Urwald, besuchten einheimische Gemeinden, tranken selbst gemachten Saft und aßen jede Menge an Früchten. Zum Beispiel das Fruchtfleisch der Kakaobohne, Chirimoyas, Bannen und Papayas, alles natürlich frisch vom Baum. Wir lernten sehr viel über die Pflanzen und ihren Gebrauch, z. B. in der Medizin und probierten auch den Saft von Lianen. Trotz des Regens hatten wir eine wunderschöne Zeit. Nachdem wir wieder in La Paz waren, konnte schon am nächsten Tag, das nächste Abenteuer starten. Eine Mountainbiketour auf der Dead Road. Einst war die Todesstraße der bedeutendste Verbindungsweg zwischen La Paz und dem Amazonas Regenwald. In dieser Zeit bekam die gefürchtete Todesstraße ihren Namen, denn noch bis 2007 forderte die Straße durch steile Abhänge und den nicht geteerten Untergrund jährlich zirka 200-300 Opfer . Heute ist kaum noch Verkehr auf der Death Road, denn hier fahren nur noch ein paar Einheimische, die dort wohnen oder die Tour-Busse der Tour Anbieter herunter. Mit dem Mountainbike hat man die Chance, alle Klimazonen Boliviens an einem Tag zu erleben. Während am Startpunkt im Altiplano auf 4.670m noch Eiseskälte herrscht und man nur durch den dichten Nebel die Täler und Berge erkennen kann, darf man sich am Ziel in den Yungas, den Regenwäldern Boliviens, in einem Schwimmbad von der anstrengend Down-Hill Fahrt erholen. 
Auch konnte ich meinem Vater mein Projekt zeigen und er konnte meine Arbeitskollegen und Freunde kennenlernen. Wir besuchten die Stadt und den Markt, aßen mit den Nonnen zu Mittag und machten einen Ausflug nach Sucre und zu den Aguas Termales. So schön die gemeinsame Zeit war, so schnell ging sie auch schon um, ich bin froh, dass mein Vater sehen konnte, wo ich lebe, denn ich habe das Gefühl, dass es noch einmal etwas ganz anderes ist, hier gewesen zu sein anstatt immer nur Erzählungen zuhören. 

Mit Papa im Dschungel und auf der Todesstaße

Retiro
Jedes Jahr fahren die Lehrer der Primaria und Secundaria auf eine Fortbildung. Und so verbrachten wir das Wochenende (Donnerstag bis Samstag) zusammen mit über 60 Personen in Cochabamba in einem Seminarhaus. Wir lernten Fakten über die Gründung unserer Schule und erarbeiteten auch ein Konzept, wie man den Schülerinnen am besten den Lehrstoff vermitteln kann. Das ganze Wochenende wurde mit Gesangseinlagen und Spielen versüßt und es gab immer wieder Zeit für Gespräche. Den Samstagnachmittag hatten wir frei und bevor es zurück ging, besuchten wir noch den Familienpark im Stadtzentrum, um uns die Wasserfontänen anzuschauen. 

Gruppenfoto mit allen Lehrer*innen

Ich hoffe auch Ihr konntet euch gedanklich bei meinen Erzählungen mein Plakat vorstellen und es mit Farbe füllen. Ich freue mich schon, die noch weißen Stellen auf meinem Plakat bunt werden lassen und sie so zum Leben zu erwecken. Denn ich werde meine Zeit hier hoffentlich auch weiterhin in vollen Zügen genießen.

Tschau Kakao

Yuli